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Ohne Wurzeln. Neuanfang in der Emigration 

Am 5. August 1938 kam ich als Flüchtling nach England. Ich habe mich immer gegen den Ausdruck Emigrant, Auswanderer, gewehrt, wenn diese Auswanderung nicht freiwillig erfolgte, sondern zur Rettung des Lebens notwendig war, und wenn der Flüchtling außerdem nicht die Absicht hatte, die Verbindung mit der Kultur seiner Heimat aufzugeben. Diese Absicht hatte ich nie.

(1974, Anfragen 118)

Erich Frieds Flucht nach England war unter überaus dramatischen Vorzeichen zustande gekommen. Der Vater war an den Folgen der Folter gestorben, die Mutter saß für ungewisse Zeit in Haft. Die Großmutter, inzwischen aus der Wohnung ausgewiesen, konnte Österreich aus gesundheitlichen Gründen nicht verlassen. Sie sollte 1942 nach Theresienstadt deportiert werden. Wie fast alle Verwandten Frieds fiel sie dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer – Malvine Stein wurde 1943 in Auschwitz ermordet. Der Mutter gelang die Flucht nach England nach großen Anstrengungen ihres Sohns erst kurz vor Kriegsausbruch. Solange die Ausreise aus Hitlerdeutschland noch möglich war, konnte Erich Fried von London aus insgesamt mehr als 70 Menschen zur Flucht verhelfen.

Finanzielle Unterstützung erhielt Erich Fried in der ersten Zeit in London unter anderem von Konsul Franz Kalina, einem Verwandten aus den Niederlanden. Anschluss fand Fried in Flüchtlingsorganisationen wie dem Jewish Refugee Committee, dem Austrian Centre und dem Freien Deutschen Kulturbund. Im Austrian Centre in der Westbourne Terrace arbeitete er als Bibliothekar, bestritt seinen Lebensunterhalt aber hauptsächlich mit Hilfsarbeiten in verschiedenen Fabriken der Glas- und Lebensmittelindustrie.

Hörbeispiel: Erich Fried erinnert sich 1972 von Min.15:09 bis 16:14 an die vielen Berufe, die er in den ersten Jahren im Londoner Exil ausübte (Österreichische Mediathek, 10-16487_a_k02, mit freundlicher Genehmigung). 

Erich Frieds zahlreiche Kontakte zu geflohenen SchriftstellerInnen wie H. G. Adler, Elias Canetti, Hans Eichner, Hans Flesch oder Hilde Spiel hatten einen wesentlichen Einfluss auf seine künstlerische Entwicklung. Vor allem in dem Literaturagenten Joseph Kalmer fand er einen wichtigen Förderer, und auch von der Freundschaft mit dem Lyriker Theodor Kramer profitierte er sehr. Bald nach dem Krieg knüpfte er Kontakte zum Kontinent und lernte Ilse Aichinger, Paul Celan, Ernst Jandl, Elisabeth Langgässer und auch Ingeborg Bachmann kennen. Mit ihr trat er 1951 in der Anglo-Austrian Society auf. Ein literarisches Erweckungserlebnis hatte er bei der Lektüre von Ilse Aichingers Debüt-Roman „Die größere Hoffnung“, der sein künstlerisches Selbstverständnis erschütterte.

Außer bei Kafka habe ich noch nie dieses Gefühl so stark erlebt, angesichts eines Kunstwerkes mein Leben ändern zu müssen. Und auch jetzt erlebe ich es gar nicht als Gebot, als Forderung, sondern – wenn auch die Verwirklichung noch schwer zu bezahlen sein wird! – mindestens in diesem Augenblick schon als Geschehenes, als Verwandlung, als Zauber… Nie wieder werde ich so schreiben können wie vor der Begegnung mit Deinem Buch. 

(1948, Briefe 16) 


1) Geboren in Wien​   2) A star is (almost) born   3) Jüdische Identität vor und nach dem Krieg​   4) Ohne Wurzeln. Neuanfang in der Emigration   5) Nach dem Krieg ist vor dem (Kalten) Krieg   6) (Familien-)Leben in London   7) „So dringend ist es mir wieder nicht.“ Langsame Heimkehr nach Österreich   8) „Mein Gesicht […] straft mich Wahrheit“. Ein langer Abschied

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