Endlich ist die grundlegende Einführung von Almuth Grésillon in die »critique génétique« auch auf deutsch erhältlich. Das
französische Original mit dem sich bescheiden gebenden Titel »Éléments de critique génétique« ist 1994 in Paris (Presses Universitaires
de France) erschienen. Die kenntnisreiche Übersetzung stammt von Wolfgang Günther und Frauke Rother, die Autorin – als ›bilingue‹
deutsch und französisch sprechend und schreibend – hat die Redaktion selber betreut wie auch aktuelle Entwicklungen und Neuerscheinungen
zumindest in den Fußnoten berücksichtigt.
Das Buch ist in einem doppelten Sinn eine gute Einführung, und damit weit mehr als eine Darstellung von ausgewählten Themen
der »critiquie génétique«, wie der französische Originaltitel nahelegt, nämlich eine systematisch angelegte Einführung in
den Umgang mit literarischen Handschriften vom ersten Sichten, Beschreiben und Verzeichnen bis hin zu den Möglichkeiten, die
Ergebnisse der textologischen Analysen interpretatorisch und editorisch auszuwerten; doch davon später. Und zweitens eine
Einführung in die neue literaturwissenschaftliche Strömung, die sich eben »critique génétique« nennt.
Was ist und zu welchem Zweck betreibt man »critique génétique«? In den 70er Jahren hat sich in Frankreich diese literaturwissenschaftliche
Untersuchungsmethode aus dem Strukturalismus heraus entwickelt. Sie interessiert sich – im Gegensatz zu der gleichzeitig in
Deutschland entstehenden Rezeptionsästhetik – für die Produktion insbesondere moderner literarischer Werke und hat die Untersuchung
literarischer Handschriften zum Gegenstand. Die »critique génétique« verwendet den Begriff "Handschrift" in seiner allgemeinsten
Bedeutung und bezeichnet damit aus der Hand der Autoren stammende Dokumente, seien es nun Entwürfe, Arbeitsmanuskripte, maschinschriftliche
Reinschriften oder handschriftlich veränderte Fahnen- und Umbruchseiten wie auch gedruckte Werke mit nachträglichen Änderungen
aus der Hand des Autors. Das Interesse an und die Faszination durch Handschriften ist natürlich nicht neu. Grésillon zeichnet
in ihrem Buch denn auch die Kulturgeschichte der Handschriften in einem Abschnitt kurz nach. Aber die spezifischen Fragestellungen
der »critique génétique« sind durchaus originär, versucht diese literaturwissenschaftliche Methode doch, eine Ästhetik der
Produktion, eine Theorie literarischer Schreibweisen und eine Typologie von literarischen Arbeitsprozessen nachzuzeichnen.
Zu diesem Zweck analysiert und interpretiert die »critique génétique« Manuskriptmaterial. Das heißt, textgenetische Untersuchungen
sind nur möglich, wo solches vorhanden ist, nicht aber bei Werken, die nur in einer Druckversion überliefert sind.
Die Beschreibung von Analyseverfahren der »critique génétique« ist zweifellos auch der gewichtigste Teil von Grésillons Einführung.
In diesem Kapitel stellt sie das begriffliche Instrumentarium der Handschriftenanalyse vor, sie diskutiert und definiert Begriffe
und Begrifflichkeit rund um das Phänomen der Handschriften: Von den verschiedenen Papiersorten und ihren Wasserzeichen ist
die Rede, von Schreibwerkzeugen, verschiedenen Tinten, von der Veränderung der Schrift eines Autors, von seinen Wegen und
Umwegen in der Textproduktion, von Streichungen, Erweiterungen, Ersetzungen und Umstellungen. Alle Begriffe werden in den
zahlreich beigegebenen, zum Teil farbigen Illustrationen von Manu- und Typoskriptseiten vornehmlich französischer Autoren
veranschaulicht. Ebenso leistet das Glossar am Ende des Buchs mit den Definitionen der wichtigsten Begriffe nützliche Dienste.
Die »critique génétique« untersucht idealerweise das gesamte überlieferte Manuskriptmaterial, das zu einem Werk vorhanden
ist. Während diesbezüglich der von Jean Bellemin-Noël geprägte Begriff »avant-texte« die Gesamtheit des überlieferten handschriftlichen
Materials bezeichnet, bevorzugt Grésillon zurecht den Begriff »dossier génétique«, um den Gegensatz zum Begriff Text als dem
Text des gedruckten Werks zu vermeiden, weil dieser nach ihrer Meinung ebenfalls zum genetischen Dossier gehört. In ihrer
Untersuchung des »dossier génétique« zeichnen die Textgenetiker den Schaffungsakt des Autors nach, sie versuchen, den oft
verschlungenen Wegen von den ersten Aufzeichnungen, Wortlisten und Lektürenotizen über die ersten Textentwürfe, Arbeitshandschriften
und Reinschriften bis zum gedruckten Werke nachzuzeichnen, Änderungen zu interpretieren und zu begründen, warum ein Autor
zu einem bestimmten Zeitpunkt einen eingeschlagenen Weg verläßt, ihn ganz aufgibt oder sich neu ausrichtet. Das Erstellen
eines genetischen Dossiers setzt sich aus mehreren Schritten zusammen: Zuerst müssen die Handschriften lokalisiert (dabei
kann man prinzipiell nie sicher sein, wirklich alle Handschriften gefunden zu haben!), danach einzeln verzeichnet, in eine
chronologische Abfolge gebracht und transkribiert werden, möglichst in einer diplomatischen Umschrift, wie Grésillon betont.
Die Ergebnisse der Handschriftenanalyse lassen sich nach Grésillon in ganz unterschiedlichen Fragestellungen weiterverwenden,
sie erwähnt u. a. sprachwissenschaftliche Ansätze, Themen- und Motivforschung, Psychoanalyse und Literatursoziologie als Disziplinen,
für die textologische Erkenntnisse aufschlußreich sein könnten. Der »critique génétique« geht es selber, wie erwähnt, um eher
kognitive Aspekte der Schreibforschung im allgemeinen mit dem doppelten Ziel, einerseits eine Theorie der »critique génétique«
zu ermöglichen, die bis dato fehlt, und andererseits eine Ästhetik literarischer Produktionsweisen sowie eine Geschichte von
literarischen Schreibweisen zu formulieren.
Ein eigenes Kapitel widmet Grésillon dem Thema »critique génétique« und Edition. Auf diesem Gebiet liegen denn auch wohl die
größten Verdienste dieser Methode. Die Autorin erwähnt und charakterisiert die wichtigsten genetischen Editionen der letzten
dreißig Jahre, vor allem in Frankreich, aber auch in Deutschland, und sie versucht, im Streit zwischen den Herausgebern traditioneller
historisch-kritischer und genetischer Editionen – bei welchen es sich um kontroverse Ansprüche handelt (hier die Herstellung
eines edierten Textes, dort die möglichst lückenlose Dokumentation der Textentstehung) – zu vermitteln: Sie kritisiert einerseits
die komplizierten Notationssysteme historisch-kritischer Ausgaben, die meist nur durch den Rückgriff auf die Handschriften
entziffert werden könnten, die sie selber repräsentieren, und weist andererseits auf die Möglichkeiten von Computereditionen
hin, die einen wesentlich flexibleren Umgang mit handschriftlichem Material erlauben würden als in Buchform.
Eine Frage, mit der sich Grésillon nicht auseinandersetzt und die in letzter Zeit im deutschsprachigen Raum diskutiert wird
(vgl. etwa Roland Reuß: Schicksal der Handschrift, Schicksal der Druckschrift. Notizen zur »Textgenese«. In: Textkritische
Beiträge 5 [1999], S. 1–25) soll hier nur noch kurz angeschnitten werden: Worin liegen die Vorzüge einer textgenetischen Betrachtungsweise
bezüglich der Interpretation eines (publizierten) Endtextes? Je nach Werk- oder Textbegriff fällt eine Legitimation der Bedeutung
textgenetischer Analyse für die Interpretation unterschiedlich aus: Setzt man einen umfassenden Werkbegriff im Sinn des Textologen
Siegfried Scheibe voraus, gehört die genetische Analyse notwendigerweise zu einer adäquaten Untersuchung von Texten, sind
doch Vorfassungen nach Scheibe integrierter Bestandteil des ›Werks‹. Verschiedene zeitliche Versionen eines Textes (»Fassungen«)
lassen sich nach Scheibes Kriterien der Textidentität und Textvarianz aufeinander beziehen und voneinander unterscheiden.
Die Analyse von Analogien und Differenzen verschiedener Textversionen, die Untersuchung der vom Autor vorgenommenen, zeitlich
zueinander in Relation zu bringenden Textänderungen ermöglichen eine ›genetische Interpretation‹ des Textes, indem Interpreten
Hypothesen über die zeitliche Relation und den Charakter der Änderungen formulieren.
Schränkt man den Werkbegriff hingegen in traditioneller Weise auf den publizierten Endtext ein, wird eine Legitimation textgenetischer
Betrachtungsweise schwieriger. Im folgenden sollen einige Hinweise auf den Nutzen textgenetischer Forschungen hinsichtlich
dieses eingeschränkten Werkverständnisses gegeben werden, lassen sich Endtext und Vorfassung doch nur bei einem solchen Textbegriff
überhaupt sinnvoll voneinander trennen.
Vorfassungen und frühe Textversionen gehören ›per se‹ zum Kontext des Werks. Wenn es erlaubt ist, einen schwierigen Text im
Kontext eines Gesamtwerks zu erklären, um wieviel sinnvoller erscheint dann die Hinzuziehung des betreffenden Werkkontextes
selber zur Formulierung von Interpretationshypothesen! Es geht bei der textgenetischen Untersuchung nicht darum, einen Endtext
aus seinen Vorfassungen zu erklären, die Mehrdeutigkeiten des Endtextes unter Rekurs auf seine Vorfassungen eindeutig interpretieren
zu wollen, wie Reuß in seiner allgemeinen Kritik der ›Textgenese‹ zu implizieren scheint. Textgenetische Erkenntnisse können
bestimmte Interpretationen unterstützen, andere vielleicht aber auch widerlegen, wie dies etwa am Beispiel der Überlieferungslage
von Büchners »Woyzeck« oder Kafkas »Process« und seines »America«-Romans veranschaulicht werden könnte. Anhand der werkgenetischen
Betrachtungsweise können Kontexte erschlossen werden, die aus dem Endtext nicht unmittelbar hervorgehen. Mit Sicherheit vermag
die Untersuchung der Textgenese Lesende auf bestimmte und bestimmende Eigenschaften eines publizierten Endtextes aufmerksam
zu machen, indem sie gewisse Textmerkmale als zusammengehörende Änderungen in einer präzise bestimmbaren Sinnrichtung erkennbar
werden läßt. Für die Lesenden können textgenetische Erkenntnisse neue Betrachtungsweisen und Fragestellungen, neue Kriterien
bezüglich Analyse und Interpretation des Endtextes eröffnen, die möglicherweise zu einem umfassenderen Verständnis des Textes
führen können, als dies die Beschränkung auf den publizierten Endtext erlaubt. Wenn Analyse und Interpretation unter einem
traditionellen Werkbegriff ein quasi zweidimensionales Bild des Textes entwerfen, ergänzt der Einbezug der genetischen Betrachtungsweise
dieses Bild in der dritten Dimension, jener der Zeit der Entstehung.
Rudolf Probst
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