Pressemeldung
6. Dezember 2019
Literarisches Zetteluniversum:
Österreichische Nationalbibliothek erwirbt bedeutenden Teil-Vorlass der großen Autorin Friederike Mayröcker
Die Österreichische Nationalbibliothek erwarb einen umfangreichen Teil-Vorlass von Friederike Mayröcker, die am 20. Dezember 2019 ihren 95. Geburtstag feiert. Sie zählt seit vielen Jahrzehnten zu den produktivsten und erfolgreichsten Schriftstellerinnen Österreichs, entsprechend umfangreich sind die Materialien, die sie in mehreren Tranchen übergibt: Nach Abschluss der Übernahme werden es mehrere Hundert Archivboxen sein voller Notizen, Textentwürfe, Briefe, Fotos, Zeichnungen, persönlicher Gegenstände und Widmungsexemplare von FreundInnen und WeggefährtInnen. Dieser wichtige Neuzugang wird derzeit vom Literaturachiv übernommen und umfassend dokumentiert, damit er für die Forschung und für Ausstellungen zur Verfügung steht.
Generaldirektorin Dr. Johanna Rachinger: „Ich freue mich sehr, dass es uns gelungen ist, diesen für die Literatur- und Kulturgeschichte Österreichs so bedeutsamen Teil-Vorlass für die Nachwelt zu sichern. Friederike Mayröcker war natürlich auch bisher schon im Literaturarchiv und im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek vertreten, mit diesem Neuzugang eröffnen sich aber für die Forschung und für museale Präsentationen ganz neue Möglichkeiten.“
Das legendäre Zetteluniversum der Friederike Mayröcker
Es gibt im deutschen Sprachraum keine so radikale Schreibposition wie jene von Friederike Mayröcker: Schreiben, Wohnen und Leben sind nicht voneinander zu trennen; vielmehr ist das Ineinander der Bereiche die Voraussetzung für ein einzigartiges poetisches Lebenswerk. In ihren Büchern verbinden sich Zitate von wahlverwandten AutorInnen, Gesprächsnotizen, Traumreste, visuelle und akustische Eindrücke zu dichten Texten; die materielle Ablage abertausender Briefe, Fotos, Notizen, Lebensdokumente bildet spiegelbildlich einen literarischen Steinbruch, der derzeit vom Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek abgebaut wird.
Der Vorlass-Teil umfasst die Schreibwohnung der Autorin im 5. Wiener Bezirk, in der sie über Jahrzehnte lebte und arbeitete. Seit vielen Jahren ist diese Wohnung unbewohnt und war „tabu“. Nur wenige FreundInnen und ForscherInnen hatten Zutritt. Legendär sind die Fotos, die diesen einmaligen Ort besessener Literaturproduktion dokumentieren. Vor ihrem 95. Geburtstag hat sich Friederike Mayröcker dazu entschlossen, dieses Gesamtkunstwerk dem Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek anzuvertrauen und damit zu sichern. Hinzu kommen alle Materialien, die sich in der aktuellen Schreibwohnung Mayröckers befinden und die zu einem späteren Zeitpunkt übernommen werden. Ebenso inkludiert sind alle Texte, die diese unablässig schreibende Dichterin noch verfasst. Vor dem Beginn der Übernahmearbeiten wurden alle Arbeitsräume noch einmal von der Foto- und Medienkünstlerin Claudia Larcher dokumentiert.
Zu diesem auch nach internationalen Maßstäben unvergleichlichen Bestand, der nach Abschluss der Übernahme mehrere Hundert Archivboxen umfassen wird, zählen Briefe aus 70 Jahren, zahlreiche Fotos, wunderbare Zeichnungen, viele persönliche Gegenstände sowie Widmungsexemplare von FreundInnen und WeggefährtInnen wie Ernst Jandl, Gerhard Rühm, Andreas Okopenko, Bodo Hell, Marcel Beyer und Eugen Gomringer. Umfangreiche Vorarbeiten zu ihren Büchern in Form von Zetteln, Notizen und Materialsammlungen zählen ebenso zu diesem Bestand wie unveröffentlichte Texte, Übersetzungen von Friederike Mayröcker und Übersetzungen ihrer Werke durch verschiedene ÜbersetzerInnen. Zusammengenommen besitzen sie hohen Wert für die Wissenschaft, geben sie doch Einblicke in die Werkstatt einer besessenen Schreiberin. Sie verfügen in ihrer faszinierenden Ordnungsstruktur aber auch über einen eminenten magischen Wert, verwendet die Autorin doch kleine Körbe, Wäscheleinen und Styroporplatten, um sich in dem vermeintlichen Chaos einen Überblick zu verschaffen.
Friederike Mayröcker
Friederike Mayröcker wurde am am 20. Dezember 1924 in Wien geboren. Mit 15 Jahren begann sie zu schreiben, erste Gedichte erschienen 1945/46 in der von Otto Basil herausgegebenen Zeitschrift „Der Plan“, die die von den Nazis unterdrückten und verdrängten Kunstrichtungen für die Jüngeren zugänglich machte. Die ersten Buchveröffentlichungen waren 1956 „Larifari. Ein konfuses Buch“ mit Prosaskizzen und poetischen Miniaturen und 1966 der programmatische Band „Tod durch Musen. Poetische Texte“. Hier zeigte sich erstmals der weite literarische Horizont der Autorin, der von experimentellen Montagen bis zu bildhaften Kindheitserinnerungen reicht. Nach einer Reihe großer Prosabücher, darunter „mein Herz mein Zimmer mein Name“ (1988), entstanden in den letzten Jahren schmale Bücher mit Texten an der Grenze von Poesie und Prosa, „études“ (2013), „cahier“ (2014) und „fleurs“ (2016).
Die Bedeutung der Autorin lässt sich auch an einem kaum mehr überblickbaren Lebenswerk ablesen. Sie veröffentlichte seit den 1950er Jahren weit über 100 Bücher, in ihrem Stammverlag Suhrkamp sind aktuell 35 Titel lieferbar, darunter Gesamtausgaben der Gedichte und der Prosa; hinzu kommen Radioarbeiten, Theaterstücke, ein gemeinsam mit Ernst Jandl und Heinz von Cramer produzierter Film sowie Hör-CDs. Unter den vielen Preisen, die Friederike Mayröcker erhalten hat, ist der Georg-Büchner-Preis (2001) und zuletzt der „Österreichische Buchpreis“ (2016) und der „Günter-Eich-Preis“ (2017).
Das Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek
Der Teil-Vorlass Friederike Mayröckers ergänzt in idealer Weise den äußerst umfangreichen Nachlass ihres langjährigen Lebenspartners Ernst Jandl, der sich ebenfalls im Literaturarchiv befindet. Mayröcker und Jandl lernten einander 1954 kennen, sie blieben Gefährten bis zu Jandls Tod im Jahr 2000. Zu den in den 1950er und 1960er Jahren entstandenen Gemeinschaftsarbeiten zählen vor allem Hörspiele, darunter das erste stereophone und heute bereits „klassisch“ gewordene „Fünf Mann Menschen“ (1968). Darüber hinaus eröffnen sich Bezüge zu Weggefährten wie Andreas Okopenko und Gerhard Rühm und vielen anderen SchriftstellerInnen, deren Vor- und Nachlässe zum Bestand des Literaturarchivs zählen. Besonders hervorzuheben ist die Offenheit dieses immens vielfältigen Werkes für Einflüsse aus der bildenden Kunst, der Musik, der Philosophie und der internationalen Poesie. Sinnbild dafür ist ein alter Bösendorfer-Flügel, noch aus dem Besitz der Eltern Friederike Mayröckers, der im Lauf der Jahre von den Papierablagen so überwuchert wurde, dass sein Standort nur mehr zu erahnen war.
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