Biografie
Bertha von Pappenheim, die Sozialarbeiterin und Frauenrechtlerin hat sich vor allem in Deutschland als Pionierin der jüdischen Sozialarbeit profiliert. In der Frauenforschung und Geschichte der Psychoanalyse ist sie aber vornehmlich als „Anna O.“ bekannt geworden.
In eine wohlhabende jüdische Familie 1859 in Pressburg geboren, verbringt sie ihre Kindheit in Wien. Das sprachbegabte Mädchen erhält nur eine kurze Ausbildung in einer katholischen Mädchenschule sowie Privatunterricht. Sie erfährt früh, was es in der orthodox-jüdischen Tradition bedeutet, ein Mädchen zu sein – der kleinere Bruder wird klar bevorzugt. Der überdurchschnittlich begabten Tochter wird nur die zu dieser Zeit übliche Bildung für junge Mädchen, u.a. die Vorbereitung auf eine standesgemäße Eheschließung, geboten. Sie rebelliert: Dem verhassten Klavierspiel zieht sie eindeutig exzessiven Reitunterricht vor – der Prater wird ihr Freiheitsraum. Zusätzlich muss sie auch Stunden mit karitativer Arbeit, dem Ritual der jüdischen Küche, Perlenfädeln und Spitzenklöppeln verbringen - Tätigkeiten, die sie als eine „Anfertigung jener hunderterlei wertlosen und geschmacklosen Nichtse, die gerade durch ihre Unbrauchbarkeit so erschreckend dauerhaft sind“ bezeichnet und dementsprechend verachtet. Als sie die Pflege des erkrankten Vaters übernimmt überfordert sie sich und erkrankt selbst. Ihre Schwäche- und Hustenanfälle, Lähmungserscheinungen, Angstvisionen, Sprachblockaden etc. werden vom damals bekanntesten Internisten der Oberschicht, Josef Breuer als Hysterie diagnostiziert. Mit Sprachanalyse, Erzählungen der Wachträume und Hypnose bessert sich ihr Zustand zunehmend. Bertha Pappenheim nannte diese "reinigende" Heilmethode einmal scherzhaft „Chimney-Sweeping“ (Rauchfangkehren). Als "Fall Anna O." ist diese Fallstudie in die psychoanalytische Medizingeschichte eingegangen. Unter diesem Titel veröffentlichten die Psychoanalytiker Josef Breuer und Sigmund Freud 1895 in ihren "Studien über Hysterie" Pappenheims Krankheitsgeschichte.
1889 zieht Bertha Pappenheim nach Frankfurt am Main - lebt mit ihrer Mutter unverheiratet, finanziell unabhängig - und beginnt, sich im Sozialwesen und in der Frauenbewegung zu engagieren. Sie übersetzt Mary Wollstonecrafts „Vindication of the Rights of Woman“. Bis zum Jahr 1930 folgen mehr als 130 kämpferische Aufsätze gegen Prostitution und Mädchenhandel. 1914 bis 1924 ist sie Vorstandsmitglied des Bundes Deutscher Frauenvereine.
In der Jüdischen Gemeinde baut sie unermüdlich und stark ihre Wohltätigkeit und Sozialarbeit aus und leitet ein Mädchenwaisenhaus – aus heutiger Sicht eher streng und puritanisch. Ihren anvertrauten Kindern bleibt sie aber stets eine Beraterin und verfolgt ihre Biographien mit Interesse und Anteilnahme. 1902 gründet sie den Israelitischen Mädchenclub, initiiert 1904 den Jüdischen Frauenbund, dessen Vorsitzende sie 20 Jahre bleibt, errichtet 1907 ein Erziehungsheim für gefährdete Mädchen, dem sie 29 Jahre vorsteht, und baut 1917 die Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden auf. Auf Studienreisen nach Osteuropa und Palästina informiert sie sich über die soziale Situation der JüdInnen allgemein und veröffentlicht die Ergebnisse u.a. in "Sisiphus-Arbeit - Reisebriefe aus den Jahren 1911 und 1912". Ihr ist es zu verdanken, dass jüdische Wohltätigkeit auf neue Beine gestellt wurde - weg von privater, individueller Wohltätigkeit in eine von Vereinen betriebene, die neuesten Erkenntnisse wirksamer Fürsorge berücksichtigende, soziale Hilfsarbeit. Wegen ihrer patriotischen Einstellung, vertrauend auf den deutschen Humanismus, sprach sie sich im Dritten Reich gegen eine Emigration der JüdInnen aus Deutschland sowie gegen eine Kinderverschickung aus und kam damit in Konflikt mit anderen jüdischen Hilfsorganisationen.
1935 widmet sie dem heutigen Museum für angewandte Kunst in Wien, im Gedenken an ihre Eltern, eine umfangreiche Kollektion von Spitzen, Textilien und Eisenkunstguss. Im selben Jahr erkrankt sie an Krebs. Am 14. 4. 1936, wenige Wochen vor ihrem Tod, wird die schwerkranke Frau auf Grund einer Denunziation von der Gestapo in Offenbach verhört, entgeht aber einer Verhaftung. Wenig später stirbt sie - bis zuletzt von ihrer ebenfalls in Frauenfragen engagierten Freundin Hannah Karminski betreut.
Im Jahre 1954 ehrt die Deutsche Bundespost Bertha Pappenheim mit einer Sonderbriefmarke. 1997 wird in Neu-Isenburg eine Gedenkstätte mit Dauerausstellung errichtet. Am 2. Oktober 2007 wird im neunten Wiener Gemeindebezirk, am Haus Liechtensteinstraße 2, dem ehemaligen Wohnhaus Bertha Pappenheims, eine Gedenktafel angebracht.
biografiA
Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon
Lexikon
Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert
Pappenheim, Bertha, Sozialarbeiterin, Frauenrechtlerin
(Pseudonym: Paul Berthold), 27. 2. 1859, Wien - 28. 5. 1936, Isenburg)
Als "Anna O." geht Bertha Pappenheim in die Geschichte der Psychoanalyse ein. Sie ist die Patientin, die in Josef Breuers und Sigmund Freuds "Studien über Hysterie" einen Ehrenplatz einnimmt, da ihre Behandlung, laut Breuer, die Keimzelle der Psychoanalyse enthalten habe. Anna O. habe durch ihren "kräftigen Intellekt" die "talking cure", die Redekur, mit entdeckt. (Breuer 1978, S. 348) Als Hintergrund der Krankheit sieht er die orthodox-jüdische Familie, die der überdurchschnittlich begabten Tochter nichts anbietet, außer der zu dieser Zeit üblichen Bildung für junge Mädchen, die Vorbereitung auf eine standesgemäße Eheschließung ist. Bertha Pappenheim flüchtet sich in Tagträume, in ihr "Privattheater", wie sie es selbst nennt, und zuletzt in die hysterische Erkrankung, die 1880 die Hinzuziehung eines Arztes notwendig macht. 1889 zieht Bertha Pappenheim nach Frankfurt a. M. und beginnt, sich im Sozialwesen und in der Frauenbewegung zu engagieren. Schon Breuer konstatiert während seiner Behandlung, daß sie "gütig und philanthropisch, Werken der Barmherzig zugeneigt, energisch" (ebenda) sei. Es ist Bertha Pappenheims Bestreben, durch Bildung und berufliche Qualifizierung die Situation jüdischer Mädchen und Frauen zu verbessern. Ihre Aktivitäten finden jedoch immer im Rahmen eines orthodoxen Judentums statt. So benutzt sie selbst für ihre Arbeit den Begriff "Mizwa". Um ihren Forderungen mehr Schlagkraft zu verleihen, gründet sie 1904 den "Jüdischen Frauenbund" (JFB), den sie zwanzig Jahre lang leiten wird, und sie macht die "Blätter des JFB" zu ihrem Sprachrohr. 1907 entsteht auf Bertha Pappenheims Initiative das Erziehungsheim des "JFB" in Isenburg, das sie mit Strenge führt. Ebenfalls auf Anregung von Bertha Pappenheim wird 1917 die "Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden" begründet. In den zwanziger Jahren beschäftigt sich Bertha Pappenheim mit dem Problem des Mädchenhandels und der Prostitution jüdischer Frauen. Sie unternimmt Studienreisen u.a. nach Palästina und Osteuropa; die Ergebnisse ihrer Erhebungen veröffentlicht sie 1930 in dem vielbeachteten Band "Sisyphus-Arbeit". Im JFB findet ihre jugendliche Erkrankung nie Erwähnung, und auch ihre spätere Biographin Dora Edinger verschweigt sie. Unter dem Pseudonym Paul Berthold veröffentlicht Bertha Pappenheim seit 1899 literarische Texte, in denen sie, über die praktische Arbeit hinausweisend, die Probleme, um deren Lösung sie sich bemüht, verarbeitet.
Lexikon der 1000 Frauen
Pappenheim, Bertha (Pseud.: Paul Berthold)
Sozialarbeiterin, Frauenrechtlerin
27.2.1859 (Wien) - 28.5.1936 (Neu-Isenburg)
Trotz ihrer überdurchschnittlichen Begabung erhielt P., die aus einer wohlhabenden jüdisch-orthodoxen Familie stammte, nur eine kurze Ausbildung und musste ihren kranken Vater pflegen. Sie flüchtete sich in Tagträume und bei ihr wurde Hysterie diagnostiziert. Ihr Arzt, der Internist J. Breuer, der sie ab 1880 behandelte, schilderte ihren Fall seinem Kollegen S. Freud. In ihrer bahnbrechenden Arbeit "Studien über Hsterie" (1885) veröffentlichten die Wissenschaftler P.s Krankengeschichte unter dem Titel "Der Fall der Anna O." und gaben ihr somit einen Platz in der Geschichte der Psychoanalyse. Nach mehreren Sanatoriumsaufenthalten zog P. 1888 nach Frankfurt a. M., engagierte sich in der Frauenbewegung und im Sozialwesen und leitete ab 1895 ein jüdisches Waisenhaus. 1902 gründete sie den "Israelitischen Mädchenclub", initiierte 1904 den "Jüdischen Frauenbund" (JFB), dessen Vorsitzende sie 20 Jahre war, errichtete 1907 ein Erziehungsheim für gefährdete Mädchen, dem sie 29 Jahre vorstand, und baute 1917 die "Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden" auf. 1914-24 war sie Vorstandsmitglied des "Bundes Deutscher Frauenvereine" (BDF). Auf Studienreisen nach Osteuropa und Palästina informierte sie sich über die soziale Situation der Juden und veröffentlichte die Ergebnisse u.a. in "Sisiphus-Arbeit - Reisebriefe aus den Jahren 1911 und 1912" (1930).