1945. Zurück in die Zukunft. 70 Jahre Ende Zweiter Weltkrieg
1945 ist ein Schlüsseljahr in der Geschichte Österreichs: Mit der Befreiung durch die Alliierten endete der Zweite Weltkrieg, die Unabhängigkeitserklärung des Landes am 27. April markiert den Beginn der Zweiten Republik. Die Österreichische Nationalbibliothek beleuchtet im Gedenkjahr 2015 mit teils noch nie gezeigten Originaldokumenten in der Ausstellung „1945. Zurück in die Zukunft“ den mühevollen Neubeginn Österreichs als eigenständige Nation.
Kuratiert vom renommierten Zeithistoriker Univ.-Prof. DDr. Oliver Rathkolb, veranschaulichen 17 thematische Kapitel, mehr als 40 ausgewählte Exponate und zwei Medienstationen die zentralen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Weichenstellungen des Jahres 1945. Eines Jahres, das geprägt war von NS-Verfolgungstraumata und sozialer Not, von der Suche nach einer neuen Identität in der kulturellen Vergangenheit und der Hoffnung auf eine demokratische Zukunft.
27. April 1945: Die Wiedergeburt Österreichs
„Verzagt nicht! Fasset wieder Mut! Schließt Euch zusammen zur Wiederaufrichtung Eures freien Gemeinwesens und zum Wiederaufbau Eurer Wirtschaft! Vertagt allen Streit der Weltanschauungen, bis das große Werk gelungen ist! Und folgt in diesem Geiste willig Eurer Regierung!“ Mit diesem leidenschaftlichen Aufruf von Staatskanzler Karl Renner an die Bevölkerung konstituierte sich am 27. April 1945 die erste, provisorische Regierung des befreiten Österreichs. Noch am selben Tag war der Regierungsbildung die „österreichische Unabhängigkeitserklärung“ vorangegangen, in der die Republik Österreich als „wiederhergestellt“ und der „aufgezwungene“ „Anschluss“ an Deutschland 1938 als „null und nichtig“ bezeichnet wurde. Ein politischer Befreiungsschlag, der sieben Jahre Nationalsozialismus, in denen Österreich nicht existiert hatte, mit einem Mal beendete. Und ein Gesinnungswandel, denn 1938 war Renner noch für den „Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutschland in deutschen und britischen Zeitungen eingetreten.
Militärisch war längst alles entschieden. Am 13. April hatte die Rote Armee den blutigen „Kampf um Wien“ gewonnen, 18.000 deutsche und 19.000 sowjetische Soldaten hatten dabei ihr Leben gelassen.
Die Sowjets waren es denn auch, die die neue Regierung als Erste anerkannten. Ein Bild, das fast schon zur Ikone geworden ist, zeigt in der Ausstellung, wie sich Karl Renner und der damalige Wiener Bürgermeister Theodor Körner kurz nach der Anerkennung unter dem – allerdings organisierten – Jubel der Bevölkerung auf den Weg zum Parlament machen.
Die einmarschierenden Westalliierten standen der provisorischen Regierung anfangs skeptisch gegenüber, nicht zuletzt weil mit Franz Honner und Ernst Fischer – sein Notizbuch mit politischen Erinnerungen ist im Original ausgestellt – gleich zwei KPÖ-Mitglieder die Schlüsselministerien für Inneres und für Unterricht führten. Briten und Amerikaner hatten in ihren Besatzungszonen zunächst jede politische Betätigung untersagt. Erst mit der gesamtösterreichischen Länderkonferenz und der Erweiterung der Staatsregierung mit Politikern aus Westösterreich wurden die Voraussetzungen geschaffen, um am 20. Oktober 1945 die Anerkennung der Regierung Renner von allen vier Besatzungsmächten zu erreichen. Der Schritt zu demokratischen Wahlen – den ersten seit 1930 – war damit getan.
Das Trauma der NS-Zeit: Verurteilte Täter, unerwünschte Opfer
Doch nicht alle ÖsterreicherInnen durften an den Nationalratswahlen am 25. November 1945 teilnehmen. Frühere ParteigängerInnen und -anwärterInnen der NSDAP waren davon ausgeschlossen – rund 540.000 Personen. Deren Mitschuld an NS-Verbrechen wurde vor den ab 1945 in Wien, Graz, Linz und Innsbruck tätigen Volksgerichten verhandelt. Bis zur Abschaffung dieser Gerichte im Staatsvertragsjahr 1955 wurden exakt 13.607 Personen schuldig gesprochen und 30 Todesurteile vollstreckt.
Gesellschaftlich standen die Verantwortung und Mitwirkung von ÖsterreicherInnen an Holocaust und Weltkrieg jedoch nicht im Zentrum von Debatten. Mehr als 130.000 JüdInnen waren ins Exil getrieben, rund 65.000 ermordet worden und nur 2.000 hatten, wie eine Liste mit Namen in der Ausstellung dokumentiert, unter extremsten Bedingungen in Wien überlebt – die Leiden all dieser Menschen wurden zumeist verdrängt. Keine Rede war auch von anderen Opfergruppen wie Roma und Sinti, verfolgten Homosexuellen oder BibelforscherInnen; Wehrmachtsdeserteure wurden hingegen als „Kameradenverräter“ stigmatisiert.
Unerwünscht war aber nicht nur der Rückblick auf die eigenen Taten. Unerwünscht war auch die Rückkehr jener Vertriebenen, die an diese Taten hätten erinnern können. Eine Reintegration dieser Opfer der NS-Zeit wurde daher nicht betrieben, vielmehr erschwert, wie die Schau zeigt. Wer zum Beispiel nach dem „Anschluss“ von 1938 das Land verlassen hatte, musste erneut um die Staatsbürgerschaft ansuchen und seinen ständigen Wohnsitz in Österreich nehmen. Gerade letzteres war aber aufgrund der restriktiven Einreisepolitik der Alliierten in ihre Zonen nur schwer möglich. Die Konsequenz: Nur einem kleinen Teil der Vertriebenen gelang 1945 und danach die Rückkehr nach Österreich.
Soziale Not des Nachkriegsjahres: „Trümmerfrauen“ und „Opfermythos“
Während die Opfer des NS-Terrors aus der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend verdrängt wurden, wurde das eigene Leiden betont. Ein Leiden, das zweifellos enorm war. Rund 1,6 Millionen Menschen waren zu Flüchtlingen geworden, Tausende waren ausgebombt und hatten kein Dach über dem Kopf, litten unter der Plünderungs- und Vergewaltigungswelle der Roten Armee oder verhungerten schlichtweg. Trotz Lebensmittellieferungen durch die Sowjetunion und die Westalliierten verdreifachten sich in Wien die Sterberaten. Zwei der bedrückendsten Dokumente der Ausstellung sind das Bild einer alten Dame, die im Schutt nach essbarem oder verwertbarem Abfall sucht, und ein Brief von Renée Gerstl, der Mutter der Schriftstellerin Elfriede Gerstl, die den französischen Kommandanten in Wien um ein Lebensmittelpaket bittet: Sie hatte sich als verfolgte Jüdin versteckt und war auf 36 Kilo abgemagert.
Die mangelnde Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, die soziale Not der Gegenwart, aber auch der beginnende Kalte Krieg, in dem Österreich drohte, zwischen die Fronten zu geraten, förderten das Selbstverständnis als Opfer des Nationalsozialismus. Ein Selbstverständnis, das auch politisch zum Ausdruck kam und bereits in der Präambel der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 festgehalten wurde: Die Nationalsozialisten hätten das Volk „macht- und willenlos“ gemacht, Österreich sei, wie es auch in der Moskauer Deklaration der Alliierten von 1943 hieß, „das erste freie Land, das der Hitlerschen Aggression zum Opfer gefallen ist“. Die ebenfalls in der Deklaration thematisierte Mitveranwortung und Aufforderung zum Widerstand wurde hingegen weggelassen.
Erst 46 Jahre später und nach politischen Erschütterungen wie der „Waldheim-Affäre“ wurde dieser „Opfermythos“ auch von offizieller Seite durchbrochen, als der damalige österreichische Bundeskanzler Franz Vranitzky am 8. Juli 1991 in einer Rede im Nationalrat bekannte: „Es gibt eine Mitverantwortung für das Leid, das zwar nicht Österreich als Staat, wohl aber Bürger dieses Landes über andere Menschen und Völker gebracht haben.“
Zurück in die Zukunft: „Rückbruch“ in die Zeit vor 1938 statt Neuanfang
1945, im Jahr eins nach dem Zweiten Weltkrieg, war man von dieser Sichtweise noch weit entfernt. Nach der Zeit des nationalsozialistischen Regimes galt es zunächst, ein neues Österreich aufzubauen, mit einer eigenen, unbelasteten nationalen Identität. Die kritische Reflexion der NS-Vergangenheit stand daher nicht im Mittelpunkt. Man wollte vielmehr, wie es der in der Ausstellung zitierte, einflussreiche Schriftsteller Alexander Lernet-Holenia 1945 ausdrückte, „dort fortsetzen, wo uns die Träume eines Irren unterbrochen haben“.
Für eine Antwort auf die Frage „Was ist Österreich?“ bewegte sich das Land 1945 daher, so der Befund dieser Ausstellung, zurück in die Zukunft. Der Rückgriff auf das teilweise geschönte wie überhöhte kulturelle Leben von Zwischenkriegszeit und Monarchie ersetzte den völligen Neubeginn nach dem Ende des Krieges. Knapp zusammengefasst bedeutete das: Österreich ist Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Burgtheater, Staatsoper, Philharmoniker, Wiener Sängerknaben und Salzburger Festspiele. Österreich als Kulturnation – das war eine Idee, die nicht nur Konservativen, sondern auch vielen Linken und sogar Exilanten attraktiv erschien. Entsprechend wurden Burgtheater und Staatsoper als Symbole des Wiederaufbaus rekonstruiert, ohne dabei moderne Akzente zu setzen. Eine Tourismusbroschüre von 1945 in der Ausstellung deutet dieses neue Österreich-Bild schon an: Die Kameralinse schwebt über den Dächern der Wiener Innenstadt mit der Kuppel der barocken Peterskirche und dem gotischen Stephansdom im Fokus – auf dem Bild tourismusgerecht mit Dach, obwohl es in Wirklichkeit 1945 noch zerstört war.
Doch nicht alle waren mit diesem „Rückbruch“ in die Zeit vor 1938 einverstanden. Leopold Figl, KZ-Überlebender und erster Bundeskanzler der Zweiten Republik, forderte in seiner Regierungserklärung am 21. Dezember 1945, die in Ausschnitten in der Ausstellung zu hören ist: Es müsse ein „neues, revolutionäres Österreich“ aufgebaut werden, das „weder eine Wiederholung von 1918, noch von 1933, noch eine von 1938“ ist. Denn, so Figl: „Wir sind Bettler geworden und müssen von Grund auf neu anfangen.“