Zu Alfred Rosenbaums Monographie August Sauer: Ein bibliographischer Versuch (1925)
„Epigramme in Titeln und Zitaten“. Der Bibliograph Alfred Rosenbaum
(12.1.1861 Prag – 12.9.1942 Konzentrationslager Theresienstadt).
Alfred Rosenbaum gilt als Pionier der literaturwissenschaftlichen Grundlagenforschung. Sein Name ist untrennbar verbunden mit der Neubearbeitung von Karl Goedekes Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung, der wichtigsten germanistischen Forschungsbibliographie im 19. und 20. Jahrhundert. Mit Rosenbaums Beiträgen zur zweiten und dritten Auflage des Grundriß beginnt, in den Worten Herbert Jacobs, „eine neue Periode in der Geschichte des Werkes und der literarhist[orischen] Bibliographie überhaupt“.[1]
Rosenbaum, in Prag geboren als Sohn eines Seidenwarenhändlers, stammte aus kleinen Verhältnissen. Nach der Matura studierte er ab 1881 in Prag und Wien zunächst einige Semester Jura und Medizin, bevor er sich unter dem Einfluss der Germanisten Richard Heinzel und Jakob Minor der Deutschen Philologie zuwandte. 1892 verließ er die Wiener Universität ohne Examen und kehrte in seine Geburtsstadt zurück, um sich als Privatgelehrter der literaturgeschichtlichen Quellenforschung zu widmen.
Als Mitarbeiter von Goedekes Grundriß unterzog Rosenbaum seit 1894 die Praxis der bibliographischen Sammlung und Dokumentation einer grundsätzlichen Revision: Er wurde mit dem Aufbau eines umfassenden Generalregisters beauftragt, legte ein umfassendes Archiv an, brachte zahlreiche Verbesserungsvorschläge in die Systematik ein, besorgte große Teile der Korrektur und bearbeitete selbständig umfangreiche Strecken der Bände VI (1898) bis X (1913). Nach dem Ausscheiden von Edmund Goetze, der die Arbeiten am Grundriß seit dem Tod Goedekes geleitet hatte, übernahm Rosenbaum 1919 gemeinsam mit dem Münchner Germanisten Franz Muncker die Herausgeberschaft. Von 1927 bis 1934 war er dessen alleiniger Leiter.
In die Prager Zeit fällt auch Rosenbaums langjährige Zusammenarbeit mit August Sauer, der 1886 an die Deutsche Universität berufen worden war. Parallel zu seiner Arbeit am Grundriß übernahm Rosenbaum die Redaktion der von Sauer herausgegebenen literaturhistorischen Zeitschrift Euphorion, für die er nach der Jahrhundertwende auch eine periodische Bibliographie der Neuerscheinungen auf dem Gebiet der Neueren deutschen Literaturgeschichte erarbeitete, welche die Jahre zwischen 1907 und 1922 erfasst. Sauer war auch der Betreuer von Rosenbaums Dissertation Österreichische Belletristen 1800 bis 1830, mit der Rosenbaum 1909 – bereits im fünften Lebensjahrzehnt stehend – zum Dr. phil. promoviert wurde. Von Rosenbaums Dankbarkeit gegenüber seinem Lehrer und Förderer zeugt eindrucksvoll sein Beitrag zur Sauer-Festschrift von 1925:
"Vor mehr als einem Vierteljahrhundert durfte ich Ihnen erstmals persönlich nähertreten. Nicht als Ihr Schüler. Und dennoch als solcher. Sie holten aus mir heraus, was etwa in mir lag. Als nie versagender Helfer und Rater, stützend und aufrichtend standen Sie allzeit zur Seite. Auch scheltend, wenn meine kuriose Artung Ihnen wider den Strich ging. Nie jedoch trübte in diesen langen Jahren ein Zwist das schöne Verhältnis. Wenn deshalb heute Andere, Würdigere Ihre Bedeutung für die Wissenschaft verkünden, so darf ich Sie als den lautern, gütigen Menschen preisen, den ich immer in Ihnen lieben durfte, darf den Dank für Alles auch öffentlich und freudig zollen."[2]
Das symbolische Kapital, das sich Rosenbaum innerhalb der scientific community erwarb, vermochte ihm jedoch keine dauerhafte materielle Grundlage für seine Arbeit zu verschaffen: Um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können, war der Privatgelehrte seit 1913 in subalterner Stellung bei der Jüdischen Gemeinde in Prag tätig. 1898 hatte er seine Cousine, die Musikpädagogin Eugenie Preisler (1867–1942), geheiratet. Die Ehe blieb kinderlos.
August Sauer, der am Grundriß selbst tatkräftig mitgewirkt hatte, würdigte die literarhistorische Expertise und die organisatorischen Leistungen Rosenbaums in einem Artikel, der 1914 aus Anlass von Rosenbaums 50. Geburtstag in der Prager Tageszeitung Bohemia erschien. Sauers bildreiche Lobrede betont den enormen Aufwand an Fleiß, Forschung und präziser Wissensorganisation, die Rosenbaums anspruchsvoller bibliographischer Dokumentation zugrunde liege. Nur allzu leicht werde, so Sauer, derlei als mechanisches Handwerk, als ‚trockene‘ Hilfswissenschaft abgetan. Hinter den gedrängten Formeln und Chiffren des Grundriß verberge sich jedoch ein ‚Mehr‘ an unsichtbarer Gelehrsamkeit – von Sauer als „wortlose Untersuchungen“ und „Epigramme in Titeln und Zitaten“ umschrieben –, das sich nur dem Kunstverständigen erschlösse:
"Unter den tausend und aber tausend Besitzern des „Goedeke“ haben gewiß nur sehr wenige eine Ahnung davon, wieviel Fleiß und Mühe, wieviel Spür- und Scharfsinn notwendig war, um diese fast lückenlose Bibliographie herzustellen. Vielleicht denkt sogar mancher geringschätzig von dieser „trockenen“ Hilfswissenschaft der lebendigen Literaturgeschichte. Aber kein Leben ohne das Knochengerüste, keine Literaturgeschichte ohne Bibliographie. In der Tat: Rosenbaums Kunst ist die Wortlosigkeit. In der knappsten Ausdrucksweise, fast in einer Chiffernschrift drängt er die wichtigsten Ergebnisse seiner langwierigsten Nachforschungen wie in eine Formel zusammen, die nur der Eingeweihte mit hingebender Geduld entziffern kann. Wortlose Untersuchungen könnte man seine Aufstellungen nennen, Epigramme in Titeln und Zitaten; aber schon manche Dissertation ist geschrieben worden, die nicht viel mehr enthält als einen mageren Text zu seiner Komposition. Steif und stumm wie die Grenadiere stehen diese Titelkolumnen nebeneinander: wie in einer Geisterschlacht hört man das Kommandowort, das die Scharen gebannt hat, nicht ertönen. Aber viele dieser Autoren erscheinen gar nicht in Paradeuniform vor dem Feldherrn, sondern in ihrer ganzen Blöße als traurige Marodeure: dem einen ist nachgewiesen worden: er hat ein altes Werk unter einen neuen Jahreszahl oder unter anderem Titel herausgegeben. Manche Kunststücke werden geleistet. Hier werden zwei Autoren geschieden, deren gleiche Pseudonyme frühere Bibliographen zusammengeworfen haben; dort setzt ein Fragezeichen Zweifel in die Selbständigkeit zweier anderer gleichen oder ähnlichen Namens. Und so ist, wie die Vorrede rühmen kann, „ein Nachschlagewerk erster Ordnung“ entstanden, „das auch dort nicht versagen möchte, wo allen andern Hilfsbüchern der Atem ausgeht“, und durch ein geradezu ideal angelegtes Register ist das umfängliche Werk auch für den eiligsten Frager aufs rascheste erschließbar."[3]
Nicht weniger als 63 germanistische Ordinarien und Literaturforscher unterzeichneten die Glückwunschadresse, die Rosenbaum zum 12. Januar 1931, seinem 70. Geburtstag , überreicht wurde. Kaum drei Jahre später – nach der ‚Machtergreifung‘ – erschien den Verantwortlichen die Leitung des Goedeke durch einen Juden als nicht mehr ‚zeitgemäß‘. Dem wachsenden Druck weichend, zog sich Rosenbaum 1934 aus dem Unternehmen zurück, dem er annähernd vier Jahrzehnte seine Arbeitskraft gewidmet hatte. „Über die Rosenbaum noch verbliebenen Lebensjahre“, schreibt Herbert Jacob, „wissen wir wenig“:
"Prag wurde von deutschen Truppen besetzt, die tschechische Karls-Universität geschlossen, der Zugang zu Bibliotheken Juden verwehrt. Vorher schon hatte Rosenbaum Verzicht geleistet und sein gesamtes Archiv dem Dresdner [Ehlermann-]Verlag übersandt, in der Hoffnung, dass daraus wenigstens eine inzwischen installlierte Weiterführung des „Grundrisses“ für das 19. Jahrhundert Nutzen ziehen würde. Doch das geschah nicht. Am 20. Juli 1942 wurde er nach Theresienstadt deportiert, seine Frau in das Vernichtungslager Treblinka. Kaum zwei Monate später ist Rosenbaum verstorben. Drei Jahre später ist sein Lebenswerk beim Untergang Dresdens in Flammen aufgegangen."[4]
Einen legitimen Nachfolger (und Biographen) fand Rosenbaum in Herbert Jacob (geb. 1924), der ab 1949 an der Berliner Akademie der Wissenschaften der DDR die durch den Krieg unterbrochenen Arbeiten am Grundriß reorganisiert hat und das Unternehmen in den folgenden Jahrzehnten unter schwierigen äußeren Bedingungen zum Abschluss (1991) bringen konnte.[5] Noch vor der Jahrtausendwende begann unter Jacobs Federführung auch die lange geplante Fortsetzung, das Deutsche Schriftsteller-Lexikon 1830–1880 zu erscheinen.
Rosenbaums Personalbibliographie für August Sauer erschien 1925 in 300 nummerierten Exemplaren als Festgabe der Gesellschaft deutscher Bücherfreunde in Böhmen aus Anlass von Sauers 70. Geburtstag am 12. Oktober 1925. Die in der Anlage musterhafte bibliographische Monographie, vom Verfasser bescheiden als „bibliographischer Versuch“ untertitelt, diente dem Zweck „ein zureichendes literarisches Bild des gefeierten Gelehrten zu umreißen durch ein annähernd vollständiges chronologisches Verzeichnis seiner Schriften“.[6] Sie ist bis heute eine der wichtigsten Grundlage der Forschung zu Sauer und seinem wissenschaftsgeschichtlichen Umfeld geblieben.
Mirko Nottscheid
Literatur zu Alfred Rosenbaum (chronologisch):
August Sauer: Ein Prager Bibliograph. In: Bohemia (Prag), 87. Jg., Nr. 13 vom 14.1.1914, Morgen-Ausgabe, S. 1–2, hier S. 2, wiederholt u. d. T.: Alfred Rosenbaum. In: Ders.: Probleme und Gestalten. Mit einem Vorwort von Hedda Sauer hrsg. von Otto Pouzar. Stuttgart: J. B. Metzler in Komm., 1933 (Gesammelte Schriften. 1), S. 249–252
Dr. Alfred Rosenbaum. Zum 12. Januar 1931. [Als Manuskript gedruckt. Prag, 1931]. 4 Bl.
Stefansky, Georg: Zum 70. Geburtstag Alfred Rosenbaums. In: Euphorion 32 (1931), S. 138–140
Herbert Jacob: Eine Bibliographie und ihre Verleger. In: Buchhandelsgeschichte, Nr. 2/1985, S. B 54–B 68
Herbert Jacob [Art.]: Rosenbaum, Alfred. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950. Bd. 9 (Lfg. 43, 1986), S. 248. Online: www.biographien.ac.at
Herbert Jacob [Art.]: Rosenbaum, Alfred. In: Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Hrsg. u. eingeleitet von Christoph König. Bearbeitet von Birgit Wägenbaur zusammen mit Andrea Frindt, Hanne Knickmann, Volker Michel, Angela Reinthal u. Karla Rommel. Bd. 3: R–Z. Berlin, New York: de Gruyter, 2003, S. 1519f.
[Art.]: Rosenbaum, Alfred. In: Archiv Bibliographia Judaica. Lexikon deutsch-jüdischer Autoren. Redaktionelle Leitung: Renate Heuer. Bd. 18: Phil – Samu. Berlin, New York: de Gruyter, 2010, S. 326f.
Herbert Jacob: Alfred Rosenbaum. Germanist und Bibliograph. In: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte 18 (2011), S. 142–145
Herbert Jacob / Marianne Jacob / Florian Jacob: Alfred Rosenbaum 1861–1942. Berlin: Ed. Scripti, 2013 (Alfred-Rosenbaum-Studien. 4)
[1] Herbert Jacob [Art.]: Rosenbaum, Alfred. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950. Bd. 9 (Lfg. 43, 1986), S. 248. Online: www.biographien.ac.at.
[2] Alfred Rosenbaum: Zwei Briefe von Gottfried Keller. In: Festschrift August Sauer. Zum 70. Geburtstag des Gelehrten am 12. Oktober 1925. Dargebracht von seinen Freunden und Schülern. Stuttgart: Metzler, 1925, S. 331–333, hier: S. 331.
[3] August Sauer: Ein Prager Bibliograph. In: Bohemia (Prag), 87. Jg., Nr. 13 vom 14.1.1914, Morgen-Ausgabe, S. 1–2, hier S. 2, wiederholt u. d. T.: Alfred Rosenbaum. In: Ders.: Probleme und Gestalten. Mit einem Vorwort von Hedda Sauer hrsg. von Otto Pouzar. Stuttgart: Metzler, 1933 (Gesammelte Schriften. 1), S. 249–252, hier: S. 251f..
[4] Herbert Jacob: Alfred Rosenbaum. Germanist und Bibliograph. In: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte 18 (2011), S. 142–145, hier: S. 145.
[5] Vgl. „Goedekes Grundriss zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen“ und die bibliographische Erschließung literarischer Texte. Gespräch mit Freunden. Herbert Jacob zum 26. Dezember 2004. Hrsg. von Hans-Albrecht Koch. Overath: Bücken und Sulzer, 2004.
[6] Alfred Rosenbaum: August Sauer. Ein bibliographischer Versuch. Prag: Verlag der Gesellschaft deutscher Bücherfreunde, [1925], S. [3].