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Tagebuch

1953

AOk

260

Tagebuch

von ... Fr, 1 5 53

bis ... Mo, 15 6 53

Freitag, 1. Mai 1953:

Frei. Nicht immer trübes, aber unverlässliches Wetter. Zeitig, nach einem ungewöhnlich deutlichen, dabei klugen und farbigen, Traum, aufgestanden.

Zu Artmann. Fruchtlos wie erwartet. Wir besuchten Altmann, der nun in der Starchant-Siedlung wohnt. Aber es war der traditionelle Maispaziergang.


Nachmittag Wendepunkt: Kein kam.

Froh, darüber, dass er heute und nicht morgen mich besucht. So habe ich heute einen anregenden und morgen einen ganzen freien Tag.

Ueber die Unmittelbarkeit als Kennzeichen der heutigen Literatur gesprochen. Ueber die Frage, ob frühere Dichter das Anliegen der Wiedergabe nicht gekannt haben. Ob solche /Rückert, Platen .../ nicht gewollt haben, dass eine Rose, die sie nennen, auch wirklich gesehen wird vom Leser und gerochen? Ob sie sich damit begnügt haben, ein Sigel zu nennen ohne Wirklichkeitwert? Ob jene Zeiten die Dichtung als ein Gesellschaftspiel betrachtet haben? Man könnte doch vermuten, dass das Anliegen der Wiedergabe ein zeitloses psychologisches Phänomen ist.

Ueber Kafka, Toman, Hemingway und ihre Prosa.

Kein hat eine gute Erzählung geschrieben.

Ich liess ihn Sisyphos und Sonja lesen.

Ueber meine Sehnsucht nach der Synthese der Lebensgefühle und meine Abscheu vor der althergebrachten Forderung, dass die Lebensgefühle zu trennen seien, /vor der Forderung nach "reiner Tragik" zum Beispiel und "abgeklärtem Humor",/ gesprochen.

Abends in gereinigter Laune. Einen schönen Abend verbracht. Mit Mama noch zum Fenster hinaus gesehen. Es ist warm draussen.

Je schöner die Jahreszeit wird, desto wilder wird mein Wunsch nach einer Freundin.


/Traum:/

Es beginnt mit einer endlosen Liftfahrt. Vom Erdgeschoss aus steuere ich, von Stockwerken aufwärts und abwärts lenkt mich eine ältere Frau. Einmal befiehlt sie mir sogar, um ein Stockwerk höher hinauf zu fahren als sie es vortastet, weil eine Ankunftstelle gestört ist. Die Auf- und Abfahrten werden geregelt durch ein verborgenes System, das durch Butter und Schmalz bestimmt ist.

Im Erdgeschoss hole ich Gerhard Fritsch zur Liftfahrt ab. Ich schicke die Liftzelle jedoch irrtümlich in das Kellergeschoss, und wir müssen warten, bis sie wieder heraufgesandt wird. Zwischen Keller und Erdgeschoss bleibt sie für kurze Zeit stecken. Endlich ist sie in unserer Höhe, und wir steigen ein.

Einmal eine bezaubernde Stimmung im Lift, mit einem Mädchen, von der ich aber weiss, dass sie nur Trugbild meiner intensiven Wünsche ist.

"Es gibt eine Reihe schöner, ruhiger Kunstwerke ..." /dazu Lichtbilder, farbig/

"... aber das Höllenklima verweht die zärtlichsten Liebesworte."

2

"Ich möchte wissen, ob man Liebe zugleich gross und klein sehen kann ..."

Bild: Schweinsbraten in einer Reine auf dem Tisch. Nahe davon ein Mädchen nackt, sinnlich, verträumt: "Ich werde versuchen, das Blickfeld etwas zu erweitern."

Ich schaue, um die Probe zu machen, während dieser Worte auf den Schweinsbraten.

Sie: "O, wie gemein ...!"

Jean Paul Sartre tritt, wie zu einem Kongress, zur Tür herein. Wir befragen ihn über die Welt und die Hölle.

Sartres Antwort: "Die Welt versteht unter Welt Welt, und bis dorthin reicht meine Kompetenz."

/Anschliessend wache ich auf./

1 5 53, 5 Uhr früh;
Gesprochene Sätze knapp nach dem Erwachen wörtlich aufgeschrieben.

Den Traum knapp nach dem Aufwachen kurz notiert. Gesprochene Sätze wörtlich niedergeschrieben.

Die Notiz verarbeitete ich, noch recht frisch, zu einem Bericht.

Während der Reinschrift schon die Unmittelbarkeit verloren und den Bericht plötzlich literarisch angesehen. /Es geht mir wie schon unlängst bei meinem Gedicht "Im hohen Vormittag"./ /Das Nächste und Schönste wird mir, weil ich daran feile, nach kurzer Zeit verabscheuenswert, verlogen, verhasst, und wenn sich der Aerger gelegt hat, bleibt der Eindruck zurück, dass es gar nicht festhaltenswert war. Alles verbrennt mir so zu Asche. Ich habe eine verfluchte Hand./

Zwei Tage unter ohnmächtigem Hassgefühl umgearbeitet und gestrichen, unterbrochen von hemmungslosen Zornausbrüchen. Ich habe keinen Boden unter meinen Füssen. Ich korrigiere auf kein Ziel hin, das ist das Furchtbare. Nicht auf Prägnanz und nicht auf Gerundetheit hin. Einen Satz kürze ich bis zur Telegraphierbarkeit, einen anderen fülle ich, bis er logisch vollständig wird /so wie kein Mensch auf der Welt redet; voll der überflüssigsten Einschränkungen, Erklärungen, Pedanterien/, wonach dann der Satz eine halbe Seite lang wird.


/2 5 53/

Den Rest des ersten Mai teilweise uneingedenk dieses bösen Artikels, dessen Inhalt ich so liebe, verbracht, /inmitten von viel Flieder; wir haben aus mehreren Gärten ihn geschenkt bekommen/, teilweise eingedenk des Artikels und zornblind gegen alle Schönheit. So auch eingeschlafen.

Den 2. Mai, Samstag, hatte ich wieder frei. Verschiedene Arbeiten für das Haus. Vormittag, als ich die Wäsche von Hütteldorf holte, noch heiss, so dass ich schwitzend zuhause ankam. Später wurde es trüb. Dann wieder, bis zum Höhepunkt des Zornes, geschrieben.

x) Strafverschärfungen: Daß dabei die Zeit, die wertvolle Zeit, vergeht. Daß ich dabei alles Schöne der Jahreszeit verliere. Daß ich dabei lächerlich gereizt werde, wie ein MANN, dem das Schuhband reißt. Daß ich hundert kluge Arbeiten für eine solche schwierige aber nebensächliche hingebe. (Tu ich es nicht, so bleibt sie mir auf dem Gewissen liegen, als baue ich mein ganzes Leben auf einem trügerischen unterminierten Grund: Mein Ursprung ist die Unbegabung.)

Jetzt beruhige ich mich, vielleicht vorübergehend.


Mo 4 5:

Kursangleichung, Aufhören der Kopplungsgeschäfte.

Zahnarzt.


Di 5 5:

Ein abstoßender Menschenschlag: das Luder ohne Anmut: Hur und zugleich bissige Beamtin.


Mi 6 5:

Machwitz fährt nach Deutschland. Es kam überraschend.)

Ich mußte abends lang im Büro bleiben, obwohl ich keinen Spätdienst hatte.

Diese Tage ist es wieder kalt.


Do 7 5:

Kaltes Wetter, wie gestern. Kastanienkerzen blühen.

Machwitz teilweise ersetzt. Zeitiger heim.

Zuhause gibt es Obstschnaps.


Fr 8 5:

Im Büro lebhaft. Arbeit aber großteils auf mich beschränkt. Acht Uhr heim.


Sa 9 5:

Letzter Halbtag ohne Machwitz. Zuhaus entspannte ich mich.

Noch rauhere Kälte als an den vergangenen Tagen. Wolkenbrüche.

Über den Himmel schoß vormittags ein stabförmiges Flugzeug; so hoch es flog, so stark erschütterte sein Lärm den Boden. Ich denke an die Wirklichkeit des Kriegs.


Nachmittag photographiert. Korrespondenzen.


So 10 5:

Lang im Bett gelesen. Etwas Englisch gelernt, Kafka Eisenbahnfahrt,
vormittags Jandl einen komplizierten Brief geschrieben, den ich später wegwarf.

Nachmittags Kafkas Strafkolonie vorgelesen. Starker, quälender Eindruck. Danach Van Gogh, Klee angeschaut und "Schnee auf dem Kilimandscharo" gelesen.

Kalt (+2°!), Regen, Hagel, abends Schnee.

Abends Wutausbruch in die Schreibmaschine. Alte Notizen danach weggeworfen.

Wieder nichts gesagt.


Mo 11 5:

Tiefpunkt. Nach regnerischer, stürmischer Nacht schwergrauer Morgen.

Einen guten kurzen Brief an Jandl geschrieben.

Im Büro wieder Machwitz, alter Betrieb.

Abends Zahnarzt vorletztes Mal.

Ich hätte große Lust, "In der Strafkolonie" zu verfilmen; wenn ich Zeit hätte, würde ich ein Exposé versuchen.

x Vielleicht für Steinwendner.


Di 12 5:

Die Unterhaltung mit dem Mesozoiker von neulich in der Früh wieder aufgegriffen. Kaum in Schwung, mußte ich des Tagbeginns wegen aufhören.

Nach trübendem Bürotag ein Abend bei Fritsch.

(Die 62-er Wagen haben jetzt freundliche Plattformen, hohe Fenster, die schon sehr weit unten beginnen. Auch ist die Fahrt in der lichten Jahreszeit lieber als die im Winter.)

Anregendes Gespräch.

1) Über die Herkunft des konkreten Gedichts der letzten Jahrzehnte 2) Über die Statthaftigkeit von Hilfs-Weltanschauungen.

Mi 13 5:

Kalt, jetzt schon gesteigert durch die "Eismänner"-Kälte.

Wollte gern Eliot weiter übersetzen.

Abends unerwartet freundlichen Brief von Prof. Fiechtner. Wein.


Do 14 5 FEIERTAG:

Lang im Bett geblieben. Beim Aufwachen glaubte ich, es ist schön draußen, in Wirklichkeit war es wieder wolkig, windig, kalt.

Ich las Kafkas "Verwandlung" und fachliche Artikel in den letzten "Neuen Wegen". Während des Lesens (das mir Freude bereitet) hatte ich Nebengedanken; ich bin anscheinend überanstrengt.

Wußte, daß ich heute nichts von den vielen möglichen Arbeiten zuwegebringen würde. Zu viel Möglichkeiten, zu wenig Breite.

Ich habe keine Zeit, mich zu entfalten.

Ein paar Ordnungen, viel gelesen, ein bißchen Eliot übersetzt, ein bißchen photographiert.

Brief an Polakovics begonnen.

Am 3. Mai habe ich drei Wünsche formuliert: 1) Gefährtin 2) Fünftagewoche 3) literarische Zukunftaussicht.

Freitag, 15.5:

Fiechtnerbrief konzipiert (den Anfang). Hätte große Lust gehabt, prompt mit der Wirkungsanalyse, dem Wirkungsvergleich und der Entstehungspsychologie draufloszuarbeiten.

Statt dem: Büro, lang, bis in den Abend.

Daheim entspannt.


Samstag:16.5.53

Es ist heiß geworden.

Nm. mit Kein weit spaziert. (Schutzhaus Satzberg). Gute Hurenprosa.

Von Pol kam mittags eine grobe, aber freundlich gemeinte, Karte.

Abends zuhause kühl.

Brief an Pol (noch ohne Rücksicht auf seine Karte) fertig konzipiert.


17.5.53 Sonntag:

Froh über das schöne Wetter aufgewacht. Am Brief noch ein wenig gebastelt.

Schade, daß ich in diesen schönen Jahren nicht mit einem Mädchen leben kann. Ich habe Sehnsucht nach ihrer liebenden Antwort.

Vormittags auf die Wiese. Mama blieb auch eine Zeitlang. Gutes Essen, nachmittags wieder auf die Wiese gegangen. Polakovics-Brief fertig geschrieben.



18.5.53 Mo

letztes Mal beim Zahnarzt. Auf dem Rückweg von ihm weihte ich die neue Straßenbahnlinie:, G2, ein.


Di

wieder ein heißer Tag. Die Arbeit im Büro läßt leicht nach. Dr. M. und auch die anderen Arbeitverteiler werden müde.

Zuhause machten wir uns einen schönen Abend.


Mi

Wie lange schon die Kastanien blühen.

In der Früh las ich einen Essay (in einer "Neuen Rundschau" aus dem Jahr 1950) über Don Quijote und Faust, aus der Perspektive der Lebensabsurdität angesichts der Sterblichkeit.

Während des Vormittags nahm die Arbeit im Büro wieder zu.

Dieser Tage bin ich über die verlorene Zeit, namentlich des Frühjahrs, nicht erregt, sondern ich nehme den Verlust, leicht müde, hin.


Mo, 18.5.:

siehe Zettel.


Mi 20.5.:

Freundlicher Abend.

Ein Brief von Dr. Häussler kam.


Do 21.5.:

Dachte über den Häussler-Brief nach.

Viel Arbeit im Büro.


Fr 22.5.:

Letzter Bürotag vor Pfingsten. Häussler-Brief abgesandt. Fiechtner-Brief weiter. Im Büro fast alle Rückstände aufgearbeitet. Abends freute ich mich sehr.

Bier.

Ein verärgerter Brief von Polakovics, Abgründe aufreißend, wie es seine Art ist, kam.

Ich konzipierte gleich die Antwort, beruhigend.

Wir gingen um die Steinhofer Mauer und setzten uns sogar im Garten des Schutzhauses nieder; es war allerdings noch ein wenig kühl.

Schöner Tag.


Sa, 23.5.:

Schöner freier Tag.

Nm. Wiese. Zeitig kehrte ich zurück.

Nach vier Uhr verleitete ich Mama zu einem Spaziergang die Wientalstraße hinauf. Flüchtlingslager, kleiner Bach und Wasserfall, Bahndamm, Umkehr, dann von der Brauhausbrücke aus den gewohnten Weg gegen Hadersdorf zu gegangen. Das Umspannwerk erstmals gesehen und die nun elektrifizierte Bahn. Als die Sonne sank, umgekehrt. Das Wienflußbett nahe Hadersdorf ist jetzt gepflegt, grasig. Kleine giftgrüne, fast fluoreszierende Blättchen erinnern an den sumpfigen Grund. Ein junges Reptil, ich glaube: Blindschleichlein, huschte über unseren Weg. Viele Badende, die allerdings gegen Sonnenuntergang aus dem Wasser stiegen. Die braunhäutigen Männer, die in den Schrebergärten arbeiteten, waren mit dem Rosa des Abendlichts übergossen.

Wir kauften uns eiskaltes Bier vom Westermayer (dessen Kühlschrank auch nachts eingeschaltet bleibt) und fühlten uns zuhause sehr wohl. Ich aß vom geblumten Teller und sehnte mich nach einer Freundin, mit der ich gerne auf großblumigem Bettzeug gelegen hätte.


Pfingstsonntag, 24.5.53:

Die Familie Pobisch lieh uns den Gartenschlüssel; ich sonnte mich und nahm mir aktuelle Schriften und "Philosophie"-Mappe mit.

Ich konzipierte den Fiechtner-Brief und brachte das Fragment "Im hohen Vormittag" in den endgültigen Zustand. Nebenan weideten die Krenek-Mädchen.

Daheim waren Tante und Paul. Ich ging aber bald nach Mittag wieder in den Garten. Dort begann ich eine übermütige Prosa ("Ein Knabe und ein Mädchen schreiben eine Pornographie.").

Unterbrach die Arbeit (die Kirschen oben sind grün; matteres Grün des Blattwerks), ging nach Haus. Abends war ich nicht mehr im Garten, schrieb auch nicht mehr. Dafür entwickelte sich auf meiner Haut ein ansehnlicher Sonnenbrand. Legte mich seinetwegen bald ins Bett, wir sprachen aber noch lange, von der Zeit, als wir in der Tschechoslowakei gewohnt hatten.


Pfingstmontag, 25.5.:

Man sieht, wieviel man ausarbeiten könnte, wenn man freie Zeit genug hätte. Einstweilen würden mir genügen die Samstage und Sonntage einer Fünftagewoche.

Setzte mich vormittags wieder in den Garten, schrieb aber nichts.

Das größere Krenek-Mädchen lud mich für kommenden Sonntag in ihren Garten ein; ein Schulkollege von ihr will mich, sagt sie, wegen meiner Gedichte in den "Neuen Wegen" kennenlernen.

Nachmittags setzte ich mich mit den "Philosophie"-Mappen wieder ins Grüne, stilisierte einzelne Zettel um und schied andere aus. Bald trübte es ein, und es donnerte ein wenig. Ich ging nach Haus.

Die einzelnen Zettel müßten erst in sich gereinigt, dann gegeneinandergehalten werden, wobei die Wiederholungen ausfallen würden.

Abends wurde mir angesichts der Mappe von 1949 unheimlich: Dieses intensive Sich-Befassen mit der Theorie jener Dinge, die heute nur ab und zu aus einem Verslein auftauchen. Ein ganzes ethisches System ausgearbeitet und überlebt; heute kommt es mir vor, als hätte ich auf diesem Gebiet nichts zu sagen; ich dürfte mich aus-gesprochen haben. Dabei niemandem zur Kenntnis, zur Anregung und zum Nutzen; ich habe wahrscheinlich zu früh begonnen.

Auch meine engsten literarischen Freunde kennen nicht dieses Fundament, ich existiere für sie, anscheinend wurzellos, erst seit 1950.

Werde ich die Kraft und die Zeit haben, noch einmal mich, den Leuten sichtbar, zu fundieren? Bin ich selbst noch der Alte? x) Bin ich demoralisiert worden oder Hüte ich mich nur vor einer zweiten Zwischen-Addition?


Dienstag 26 5 1953 :

Fritsch. Ueber die Bedin gungen einer Rückkehr in die "Neuen Wege" beraten.

Dann kamen wir auf die Kennzeichen unserer "Gruppe" überhaupt zu sprechen.

Hielten das Abweichen der Artmann-Gruppe von dieser ursprünglichen "Richtung" fest.

Objektivismus. Ueber die präzisen Formulierungen und das Unrecht, das man ihnen antut, wenn man sie als Zeichen der Gefühlskälte nimmt.

Ueber die Assoziatorik des Objektivisten: er betritt das Gebiet der Assoziationen wie einen Garten; der Subjektivist "macht" Assoziationen, wie eine Spinne ihren Faden macht; der Subjektivist nimmt die Inkommensurabilität der Assoziatoriken an, der Objektivist glaubt an die menschliche Gemeinsamkeit auch dieses Gebietes.

Gegen die ungebundene Lyrik odischen Charakters, die gewisse Formen pflegt, sich gesittet zu begeistern. /"und zu entrüsten"; Fritsch./

Der Objektivist ist weltoffen, er kann immer Ueberraschungen rechnen; anderseits steht er hilflos vor jeder neuen Erscheinung; wie ein Kind muss er den Ausdruck jedes Neuen erwerben.

Ueber schlechte Bildhaftigkeit gesprochen.


Mittwoch 27 5:

Zeichen von Müdigkeit. Nachmittags trübes Wetter.

Zuhause einen schönen Abend zu machen versucht.


Donnerstag 28 5:

Kühl. Tante ging auf Urlaub.


Freitag 29 5:

Trüber Morgen. Aufhören der Ausfuhrbewilligungen wurde gestern angekündigt. M. besuchte T. in der Adamsgasse. Ein Mädchen auf der Strassenbahn gesehen, die mir gefiel, Mama aber nicht gefiel. Einmal eine Geschmacksdifferenz.

Abends nach arbeitreichem und von Machwitz verhässlichtem Bürotag fuhr ich mit Briggi. Hatte sie in den ersten Minuten der Fahrt gar nicht erkannt. Sie erzählte mir von ihrer Reise. War in einem spanischen Fischerdorf, flog aber auch über Mallorca, hatte die Schweiz durchzogen, war entlang der Riviera gefahren /in Cannes werden die Palmen abends verschiedenfarbig beleuchtet/.


Gleich nach Mittag wieder auf die Wiese gegangen.

Ich habe einen Instinkt, ähnlich dem Instinkt der Tiere, dafür, ob ein bestimmter Mensch sich mit mir zusammenfinden könnte oder nicht.

Nachmittags auf der Wiese schon verschiedene Eindrücke, weil einige Menschengruppen in Sichtweite sassen. Kritischere Gedanken als am Vormittag.

Auf der Wiese zu liegen ist die einzige später nicht nachholbare Beschäftigung in meinem gegenwärtigen Leben. Darum gebe ich ihr vor allen anderen Beschäftigungen den Vorrang.

Ein etwa zweiunddreissigjähriger Mann klagte darüber, dass man heute die Eltern mehr als die Kinder erziehen wolle. Seine Frau mit Raubvogelgesicht hörte seiner schnarrenden Rede zu. Dann hielt er sich über die heutigen Frauen auf, die "oben" ziemlich unbedeckt auf die Wiese gehen. "Bitte, ein Mann kann schon ...", sagte er, "... aber eine Frau?!"

Es ist wahr, dass ein tierischer Ernst und eine ahnunglose Souveränität den schimpfenden Spiessbürger vom halbwegs intelligenten Ethiker unterscheide.


3 5 53

Halbschlafsymbol für meine Freude an der Erkenntnis, dass ich nicht leer bin sondern nur des Auslösenden bedarf, um mich mitzuteilen:

DER DROGIST MACHT EIN SCHELMISCHES GESICHT: "DIE DOSE IST VOLLGESTRICHEN MIT DER SALBE!"

Wacher Gedanke spät abends:

Mein Leben ist eine nasse Lunte zu einem herrlichen Dynamitfass.

29 5 53

Samstag 30 5:

Kein hatte das heutige Beisammensein abgesagt. /Er ist bei der Autorentagung in Linz./

Atelier Hofmann schickte mir, wie ich es erbeten hatte, eine Kopie, und zwar Photokopie, seines Plakates für die Firma Matzner, des besten Badetrikotplakates dieser Saison.

Ich entdeckte, dass wir kein Blatt Zellophan in unserer Wohnung haben, mit dem ich diese Photokopie hätte schützen können.

Wenn unsere Wohnung nicht so feucht wäre, würde ich gute Plakate an den Wänden aufziehen. Das habe ich von Matejka gelernt, und das ist sehr reizvoll.

Tante war hier und nahm Abschied. Sie fährt eine Woche nach Italien. Aber das Wetter ist schlecht.

Abends ausländische Sender abgehört. Orientalische Musik, ein russisches Programm, ein französisches Chanson aus einem schweizer Kabarettabend.


Sonntag 31 5:

Schlechtwetter. Ich lief trotzdem in den Garten der Krenekmädchen, um sicher zu gehen, dass ich niemand vergeblich warten lasse.

Tatsächlich waren das Mädchen und der Knabe schon dort.

Gleich begann es aber zu regnen, und wir gingen in die Wohnung des Mädchens hinauf. Dort unterhielten wir uns über Literatur; ich versuchte den Knaben dazu zu bringen, dass er sich über sich ausspräche, er blieb aber, wenn auch recht erfrischend sprechend, bei der Literatur. Das Mädchen ging, ausser in den Ausbrüchen ihres lebhaften Temperaments, ihrem Lachen und ihren Zustimmungen, noch weniger aus sich hinaus. Vielleicht war die Zeit des Kontaktes zu kurz, um mehr enthalten zu können als die Auswertung des konkreten Anlasses, die Mitteilung des Knaben über seine literarischen Vorlieben, und die Aufnahme jener einiger Prosastücke und des Gedichtes, die ich dem Mädchen und ihrem Freund zu lesen gab.

Der Knabe ist seit seinem fünfzehnten Lebensjahr von Sartre beeinflusst und seit einer späteren Zeit von Nietzsche. Das Mädchen scheint positiver begründet zu sein, erkennt also die Bindungen des Knaben /als vorübergehende/ nicht, ihn selbst als Person aber anscheinend ganz an.

Nachmittag Ordnungen und Tagebuch; rannte dabei der Jazzmusik in verschiedene Stationen nach. Sprach mich auch, zuhause, über vieles aus.


Mo 1 6:

Halsschmerzen im Büro.

Müde. Kleinere Streitigkeiten. Früh die Nachricht: Allgemeine Wehrpflicht in Westdeutschland. Weiters: Man "ist besorgt, dass eine Viererkonferenz der Europaarmee schaden könnte und damit der 'Integrierung Europas'".


Di 2 6:

Die Londoner sind verrückt auf die Krönung von Elizabeth II. /Vielleicht die letzte Krönung der Geschichte./

Mount Everest ist, der englischen Königin zum Geschenk, erstiegen worden.

Wir liessen es uns, unabhängig davon, gut gehen. Mama hatte einige verschiedene Stücke Käse gekauft; ich ass davon, zum ersten Mal seit meiner slovakischen Kindheit ass ich wieder mit aller Gründlichkeit Käse.


Mi 3 6:

Früh nur plus sechs Grad.

Ein Tag böser Arbeit im Büro. Abends wieder gut gegessen und Bier getrunken. Mama hatte ein ganzes Kilogramm Bananen gekauft. Sie hat das Talent zu ein bisschen extravagantem Wirtschaften. Mit meinen zwölfhundert Schilling leben wir, ohne freilich Gegenstände für das Haus anzuschaffen oder nachzukaufen, und ohne freilich Veranstaltungen zu besuchen, gut. Diese Art, zu geniessen, gefällt auch mir am besten: Die Freude an freundlicher Stimmung, an gutem Essen und Trinken, einfach und im kleinen Raum zu erleben.


Do 4 6, Feiertag:

Beginnt mit dunkelgrauem Himmel und Regen.

Wir pflückten ein paar Kirschen im Garten und schnitten einige blühende Sträucherzweige ab, um die Wohnung zu schmücken.

Noch immer krank. Hakelglossen geschrieben, später in alten Tagebüchern gelesen.


Fr 5 6:

Wollte erst nicht ins Büro gehen, ging dann aber doch. Volksgarten: Starker Sonnenschein mir entgegen, Krankheit—Geschmack in mir.

Glossen an Hakel abgesandt. Abends lang im Büro geblieben.


Sa 6 6:

Halsschmerzen. Musste im Büro Huber vertreten, die ihren freien Tag hatte. Hielt die beiden Diktatoren bis ein Uhr auf, da ich früher mit den Briefen nicht fertig wurde. /Es waren Briefe, die die Spedition betrafen, ein mir ziemlich fremdes Gebiet, und die mir unmenschlich spät in Auftrag gegeben worden waren./

Nachmittags kam Tante, von Italien zurück.


Zu mir kam mit der gleichen Strassenbahn Kein. Er erzählte vom Linzer Dreiländertreffen junger Autoren, bei dem sich zwei Gruppen geschieden hätten; grob eingegrenzt: Realisten und Aestheten. Die Grenze verläuft selbst durch unseren "Wiener Autorenkreis", zum Beispiel zwischen Kein und Ebner. Keins Prosa, die in Linz gelesen worden war, erschien Ebner und jenen, die Ebners Prosa lobten, zu wenig "hintergründig"; dieser Realismus sei überwunden, seit langem; momentan stehe das Magische in Mode.

Kein erzählte noch viel anderes, Charakteristisches und Episodisches, von seinem Linzer Aufenthalt.

Dann gingen wir meine Korrespondenz der letzten Zeit durch /Jandl, Polakovics, Fiechtner .../ und wünschten uns mehr Zeit, um die hier und da notierten und die im Gespräch aufblitzenden x einzelnen Ergebnisse zu einer Summe vereinigen zu können.


Dienstag, 26.5.:

Siehe Zettel


bis Sa, 6.6.:

Siehe Zettel


Sonntag, 7.6.:

Krank. Im Bett geblieben.

Früh den "Alten Mann und die See" gelesen.

Tagsüber, ohne zu arbeiten, im Bett gelegen. (Nur ein wenig Tagebuch geschrieben.) Draußen scheint es wärmer geworden zu sein.


Montag, 8.6.:

Krank.

Daheim geblieben.

Das Hakelbuch ist erschienen; ich weiß bis heute nicht, ob meine Beiträge dafür verwendet worden sind.

Eine Wohnung in Meidling, 4. Stock, Zimmer und Küche, wurde uns angeboten. Mama lehnte des 4. Stocks wegen ab. Frau Dwořak sagte uns, wir haben den Anspruch nur auf einen Raum. Also arge Verkleinerung in Sicht. (In unserer derzeitigen Wohnung haben wir zwar auch nur Zimmer und Küche, aber beide sind sehr groß; das Zimmer 7×10 Meter, wir haben fast ein Gebäude von Steinhof für uns.)

Nachmittag kam Tante, ging mit Mama spazieren, ich blieb allein in der Wohnung. Las das "Urteil" von Kafka und wieder Geschichten von Hahnl, dann nahm ich mir meine "P"-Mappen zum Bett. (Mutlos wieder vor dieser Menge an Zwischenergebnissen [Jahr 1949], die im Wesen zu richtig sind, als daß man sie ruhigen Gewissens vernichten könnte, deren jedes man aber stilistisch festigen müßte und schließlich in eine größere Ordnung einordnen.)

Draußen ist es heiß geworden; aber es ist dabei trüb und windig geblieben.


Dienstag, 9.6.:

Machte mir selbst eine Überraschung: Ging heute noch nicht ins Büro.

Früh aber, bei getrübtem Wetter, auf die Linzerstraße. Verbrachte mit Einkauf einen Morgen


Notizen 9 6 53:

Waffenstillstand in Korea in Sicht. Ziviler sowjetischer Hochkommissär in Oesterreich. Demarkationslinie gefallen.

Zwei "schicksalhafte" Begegnungen, die ich verschuldet habe: Polakovics - Hakel, Artmann - ArtClub.

wie jene sogenannten Haustöchterchen aus früheren Jahrhunderten, von denen uns die Geschichte der Zivilisation berichtet.

Kam müde heim und legte mich ins Bett.

Fritsch hatte ich für heute Abend abgesagt. Wenig Post. Tagebuch. Fühlte mich viel ausgeglichener als die letzten Tage.

Nachmittags allein. Sodawasser. P-Mappen. Gegen Abend Spaziergang um die Steinhofer Mauer. Noch schwach.


Mi 10 6 53:

Büro, EVE-Daten und Eintragungen, 15h heimgekommen.

Unsere Fensterrahmen werden frisch gestrichen. Fini Pobisch brachte den Gartenschlüssel (Kirschenernte!). Wir mußten abends die Kammer ausräumen, begannen auch, der nahen Übersiedlung wegen, auszumisten.

Bier geholt, Gedanken über die Spanne zwischen Präzision und Prägnanz.

Blauer Himmel, warm.


Do 11 6 53:

Klarer (grün und blau) Frühlingsmorgen.

Wegen dieser Spannung zwischen Krankheit, dem Erleben des Frühlings und dem Nichtbestimmendürfen über die eigene Zeit erinnern mich diese Tage an den Sommer 1944 in der Tatra, auf Bellevue und Hamalčik.

Fritz studiert jetzt Zeitungswissenschaften. Er übergab mir vier Artikel für die "Schau".

Abends kamen die Kretschmer (unsere "Hauptmieter", die aber nicht mit uns wohnen,) um für die Handwerker im Kabinett (das wir nicht benützen) Ordnung zu machen.

Wieder Halsschmerzen.

Kirschenernte war.


Fr 12 6:

Wäre gern zuhause geblieben. Trübes Wetter.

Lockerung in Ostdeutschland. Büro: zusätzliche 1200.- bekommen.


Sa 13 6:

Johann, der Patient, der dem Portier hilft, kam nach langer Krankheit wieder. Regen.

Büro etwas leichter.

Nachmittags niedergelegt.

Botschafteraustausch mit Rußland.

Lockerung des Regimes in Ostdeutschland und Näherung der deutschen Ost- und Westzonen. Einstein ruft auf gegen McCarthy.

Mädchengedanken.


So 14 6:

Im Bett geblieben, da ich noch nicht ganz gesund bin.

Genoß den Tag so, wie ich es konnte. Wolkiges Wetter.

Notizen von halbwegs allgemeiner Gültigkeit zu schreiben, gelang mir nicht.

P-Mappen.


Mo 15 6:

Heute würde ich gern daheim bleiben, auch im Bett würde ich in ausgeglichener Stimmung liegen können; dies ist keine psychologische Täuschung (Wertsteigerung infolge Unerreichbarkeit) sondern ergibt sich daraus, daß man, wenn man es mehrere Tage übt, viel von der Fähigkeit gewinnt, einen Tag auszuschöpfen.

Traf Briggi: Sie liest jetzt Laotse. Sie zeigt sich in letzter Zeit sehr mondän bekleidet und made up; man kann aber gut mit ihr sprechen.

Erstmals Tante wieder im Büro. Viel Arbeit, da außer Bauer, der seit Samstag auf Urlaub ist, auch Huber, die 107 Briefe in einer drängenden Angelegenheit zu schreiben hat, ausfällt.

Dennoch Rückstände aufgearbeitet.

Abends gingen wir noch Kirschen ernten. Krenek-Mädchen saß mit ihrem Geliebten im Nachbargarten (sie gingen dorthin, als die Sonne gesunken war). McCarthy nannte Einstein den "Feind Amerikas". Ich erinnerte mich abends einer Fieberzeit, da ich so durstig war, daß ich mich nach dem Himbeersaft sehnte, den es einmal im Tag gab. (Es war im deutschen Kinderlager, 1944.) Wermut, rot, getrunken.


Tagebuch

1953

AOk

260

Tagebuch

von ... Fr, 1 5 53

bis ... Mo, 15 6 53

Freitag, 1. Mai 1953:

Frei. Nicht immer trübes,
aber unverlässliches Wetter.
Zeitig, nach einem
ungewöhnlich deutlichen,
dabei klugen und
farbigen, Traum,
aufgestanden.

Zu Artmann. Fruchtlos
wie erwartet. Wir
besuchten Altmann, der
nun in der Starchant-
Siedlung
wohnt. Aber
es war der traditionelle
Maispaziergang.


Nachmittag Wendepunkt: Kein kam.

Froh, darüber, dass er heute und nicht morgen
mich besucht. So habe ich heute einen anregenden
und morgen einen ganzen freien Tag.

Ueber die Unmittelbarkeit als Kennzeichen der
heutigen Literatur gesprochen. Ueber die Frage,
ob frühere Dichter das Anliegen der Wiedergabe
nicht gekannt haben. Ob solche /Rückert, Platen .../
nicht gewollt haben, dass eine Rose, die sie nennen,
auch wirklich gesehen wird vom Leser und gerochen?
Ob sie sich damit begnügt haben, ein Sigel zu
     nennen ohne Wirklichkeitwert? Ob jene Zeiten die
Dichtung als ein Gesellschaftspiel betrachtet
haben? Man könnte doch vermuten, dass das
Anliegen der Wiedergabe ein zeitloses psycho-
logisches Phänomen ist.

Ueber Kafka, Toman, Hemingway und ihre Prosa.

Kein hat eine hgute             Erzählung geschrieben.

Ich liess ihn Sisyphos und Sonja lesen.

Ueber meine Sehnsucht nach der Synthese
der Lebensgefühle und meinene Abscheu vor der
althergebrachten Forderung, dass die Lebens-
gefühle zu trennen seien, g           /vor der Forderung nach
       "reiner Tragik" zum Beispiel und
"abgeklärtem Humor",/ gesprochen.

Abends in gereinigter Laune. Einen schönen
Abend verbracht. Mit Mama noch zum Fenster
hinaus gesehen.                Es ist warm draussen.

NJe schöner die Jahreszeit wird, desto wilder
wird mein Wunsch nach einer Freundin.


/Traum:/

Es beginnt mit einer endlosen Liftfahrt. Vom Erdgeschoss
aus steuere ich, von Stockwerken aufwärts und abwärts
lenkt mich eine ältere Frau. Einmal befiehlt sie mir
sogar, um ein Stockwerk höher hinauf zu fahren als sie
es vortastet, weil eine Ankunftstelle gestört ist.
Die Auf- und Abfahrten werden geregelt durch ein
verborgenes System, das durch Butter und Schmalz
bestimmt ist.

Im Erdgeschoss hole ich Gerhard Fritsch zur Liftfahrt ab.
Ich schicke die Liftzelle jedoch irrtümlich in das
Kellergeschoss, und wir müssen warten, bis sie wieder
heraufgesandt wird. Zwischen Keller und Erdgeschoss
bleibt sie für kurze Zeit stecken. Endlich ist sie
in unserer Höhe, und wir steigen ein.

Einmal eine bezaubernde Stimmung im Lift, mit einem Mädchen,
von der ich aber weiss, dass sie nur Trugbild meiner
intensiven Wünsche ist.

"Es gibt eine Reihe schöner, ruhiger Kunstwerke ..."
/dazu Lichtbilder, farbig/

"... aber das Höllenklima verweht die zärtlichsten
Liebesworte."

2

"Ich möchte wissen, ob man Liebe zugleich gross und klein
sehen kann ..."

Bild: Schweinsbraten in einer Reine auf dem Tisch.
Nahe davon ein Mädchen nackt, sinnlich, verträumt:
"Ich werde versuchen, das Blickfeld etwas zu erweitern."

Ich schaue, um die Probe zu machen, während dieser Worte
auf den Schweinsbraten.

Sie: "O, wie gemein ...!"

Jean Paul Sartre tritt, wie zu einem Kongress, zur Tür
herein. Wir befragen ihn über die Welt und die Hölle.

Sartres Antwort: "Die Welt versteht unter Welt Welt, und
bis dorthin reicht meine Kompetenz."

/Anschliessend wache ich auf./

1 5 53, 5 Uhr früh;
Gesprochene Sätze knapp nach dem
Erwachen wörtlich aufgeschrieben.

Den Traum knapp nach dem Aufwachen kurz notiert. Gesprochene
Sätze wörtlich niedergeschrieben.

Die Notiz verarbeitete ich, noch recht frisch, zu einem
Bericht.

Während der Reinschrift schon die Unmittelbarkeit verloren
und den Bericht plötzlich literarisch angesehen. /Es geht mir
wie schon unlängst bei meinem Gedicht "Im hohen Vormittag"./
/Das Nächste und Schönste wird mir, weil ich daran feile,
nach kurzer Zeit verabscheuenswert, verloegen, verhasst, und
wenn sich der Aerger gelegt hat, bleibt der Eindruck zurück,
dass es gar nicht festhaltenswert war. Alles verbrennt mir
so zu Asche. Ich habe eine verfluchte Hand./

Zwei Tage unter ohnmächtigem Hassgefühl umgearbeitet und
gestrichen, unterbrochen von hemmungslosen Zornausbrüchen.
Ich habe keinen Boden unter meinen Füssen. Ich korrigiere
auf kein Ziel hin, das ist das Furchtbare. Nicht auf Prägnanz
und nicht auf Gerundetheit hin. Einen Satz kürze ich bis zur
Telegraphierbarkeit, einen anderen fülle ich, bis er logisch
vollständig wird /so wie kein Mensch auf der Welt redet;
voll der überflüssigsten Einschränkungen, Erjklärungen,
Pedatnterien/, wonach dann der Satz eine halbe Seite lang
wird.


/2 5 53/

Den Rest des ersten Mai teilweise uneingedenk dieses
bösen Artikels, dessen Inhalt ich so liebe, verbracht,
/inmitten von viel Flieder; wir haben aus mehreren Gärten
ihn geschenkt bekommen/, teilweise eingedenk des Artikels
und zornblind gegen alle Schönheit. So auch eingeschlafen.

Den 2. Mai, Samstag, hatte ich wieder frei. Verschiedene Arbeiten
für das Haus. Vormittag, als ich die Wäsche von Hütteldorf
holte, noch heiss, so dass ich schwitzend zuhause ankam. Später wurde
es trüb. Dann wieder,        bisauf zum Höhepunkt des Zornes, geschrieben.

x) Strafverschärfungen: Daß dabei die Zeit, die wertvolle Zeit,
vergeht. Daß ich dabei alles Schöne der Jahreszeit
verliere. Daß ich dabei lächerlich        gereizt werde, wie ein
MANN, dem das Schuhband reißt. Daß ich
hundert kluge Arbeiten für eine solches schwieriges
aber nebensächliche hingebe. (Tu ich es nicht, so
bleibt sie mir im Magenauf dem Gewissen liegen, als baue ich mein ganzes
Leben auf einem trügerischen unterminierten Grund:
es ist der Grund der ursprünglichenMein Ursprung
ist die
Unbegabung.)

Jetzt beruhige ich mich, vielleicht vorübergehend.


Mo 4 5:

Kursangleichung, Aufhören
der Kopplungsgeschäfte.

Zahnarzt.


Di 5 5:

Ein abstoßender Menschenschlag:
das Luder ohne Anmut:
Hur und zugleich
bissige Beamtin.


Mi 6 5:

Machwitz fährt nach Deutschland.





Es kam überraschend.)

Ich mußte abends lang im Büro
bleiben, obwohl ich keinen
Spätdienst hatte.

Diese Tage ist es wieder kalt.


Do 7 5:

Kaltes Wetter, wie gestern.
Kastanienkerzen blühen.

Machwitz teilweise ersetzt.
Zeitiger heim.

Zuhause gibt es Obstschnaps.


Fr 8 5:

Im Büro lebhaft. Arbeit aber
großteils auf mich beschränkt.
Acht Uhr heim.


Sa 9 5:

Letzter Halbtag ohne Machwitz.
Zuhaus entspannte ich mich.

Noch rauhere Kälte als
an den vergangenen Tagen.
Wolkenbrüche.

Über den Himmel schoß
vormittags ein stabförmiges
Flugzeug; so hoch es
flog, so stark erschütterte
sein Lärm den Boden.
Ich denke an die Wirklichkeit
des Kriegs.

                   







Nachmittag photographiert.
Korrespondenzen.


So 10 5:

Lang im Bett gelesen.
Etwas Englisch gelernt,
Kafka Eisenbahnfahrt,

vormittags Jandl einen
komplizierten Brief
geschrieben, den ich
später wegwarf.

Nachmittags Kafkas
Strafkolonie vorgelesen.
Starker, drückender quälender Eindruck.
Danach Van Gogh, Klee
angeschaut und
"Schnee auf dem Kili-
mandscharo
" gelesen.

Kalt (+2°!), Regen,
Hagel, abends Schnee.

Abends Wutausbruch
in die Schreibmaschine.
Alte Notizen danach
weggeworfen.

Wieder nichts gesagt.


Mo 11 5:

Tiefpunkt. Nach regnerischer,
stürmischer Nacht
schwergrauer Morgen.

Einen guten kurzen Brief
an Jandl geschrieben.

Im Büro wieder Machwitz,
alter Betrieb.

Abends Zahnarzt vorletztes
Mal.

Ich hätte große Lust,
"In der Strafkolonie" zu
verfilmen; wenn ich
Zeit hätte, würde ich
ein Exposé versuchen.

x Vielleicht für Steinwendner.


Di 12 5:

Die Unterhaltung mit dem
Mesozoiker von neulich
in der Früh wieder
aufgegriffen. Kaum
in Schwung, mußte ich
des Tagbeginns wegen
aufhören.

Nach trübendem Bürotag
ein Abend bei Fritsch.

(Die 62-er Wagen haben
jetzt freundliche Platt-
formen, hohe Fenster,
die schon sehr weit unten
beginnen. Auch ist die
Fahrt in der lichten
Jahreszeit lieber als
die im Winter.)

Anregendes Gespräch.

1) Über die Herkunft des
konkreten Gedichts der
letzten Jahrzehnte 2) Über die Statthaftigkeit
von Hilfs-Weltanschauungen.

Mi 13 5:

Kalt, jetzt schon
gesteigert durch die
"Eismänner"-Kälte.

Wollte gern Eliot weiter
übersetzen.

Abends unerwartet
freundlichen Brief
von Prof. Fiechtner.
Wein.


Do 14 5
FEIERTAG:

Lang im Bett geblieben. Beim Aufwachen glaubte ich,
es ist schön draußen,
in Wirklichkeit war
es wieder wolkig, windig,
kalt.

Ich las Kafkas "Verwandlung"
und fachliche Artikel
in den letzten "Neuen Wegen".
Während des Lesens
(das mir Freude
bereitet) hatte ich
Nebengedanken; ich
bin           
anscheinend überanstrengt.

Wußte, daß ich heute
nichts von den vielen möglichen Arbeiten
zuwegebringen würde.
Zu viel Möglichkeiten,
zu wenig Breite.

Ich habe keine Zeit,
mich zu entfalten.

Ein paar Ordnungen,
viel gelesen, ein bißchen
Eliot übersetzt, ein
bißchen photographiert.

Brief an Polakovics begonnen.

Am 3. Mai habe ich drei
Wünsche formuliert: 1) Gefährtin 2) Fünftagewoche 3) literarische Zukunftaussicht.

Freitag, 15.5:

Fiechtnerbrief konzipiert
(den Anfang). Hätte große
Lust gehabt, prompt
mit der Wirkungsanalyse,
dem Wirkungsvergleich und der Entstehungspsycho-
logie draufloszuarbeiten.

Statt dem: Büro, lang,
bis in den Abend.

Daheim entspannt.


Samstag:16.5.53

Es ist warmheiß
geworden.

Nm. mit Kein weit
spaziert. (Schutzhaus
Satzberg
). Gute
Hurenprosa.

Von Pol kam mittags
eine grobe, aber freundlich
gemeinte,
Karte.

Abends zuhause
kühl.

Brief an Pol (noch
ohne Rücksicht auf
seine Karte) fertig
konzipiert.


17.5.53
Sonntag:

Froh über das
schöne Wetter auf-
gewacht. Am Brief noch ein wenig
gebastelt.

Schade, daß ich in diesen
schönen Jahren nicht
mit einem Mädchen leben
kann. Ich habe Sehnsucht
nach ihrer liebenden
Antwort.

Vormittags auf die Wiese.
Mama blieb auch eine Zeitlang.
Gutes Essen, nachmittags


wieder auf die Wiese gegangen. Polakovics-Brief fertig geschrieben.









18.5.53 Mo

letztes Mal beim Zahnarzt. Auf dem Rückweg von
ihm weihte ich die neue Straßenbahnlinie:,
G2, ein.


Di

wieder ein heißer Tag. Die Arbeit im Büro
läßt leicht nach. Dr. M. und auch die anderen
Arbeitverteiler werden müde.

Zuhause machten wir uns einen schönen Abend.


Mi

Wie lange schon die Kastanien blühen.

In der Früh las ich einen Essay (in einer
"Neuen Rundschau" aus dem Jahr 1950)
über Don Quijote und Faust, aus der Per-
spektive der Lebensabsurdität angesichts der
Sterblichkeit.

Während des Vormittags nahm die Arbeit im Büro
wieder zu.

Dieser Tage bin ich über die verlorene
Zeit, namentlich des Frühjahrs, nicht erregt,
sondern ich nehme den Verlust, leicht müde, hin.


Mo, 18.5.:

siehe Zettel.


Mi 20.5.:

Freundlicher Abend.

Ein Brief von Dr. Häussler
kam.


Do 21.5.:

Dachte über den Häussler-
Brief nach.

Viel Arbeit im Büro.


Fr 22.5.:

Letzter Bürotag vor
Pfingsten. Häussler-
Brief abgesandt.
Fiechtner-Brief weiter.
Im Büro fast alle
Rückstände aufgearbeitet.
Abends freute ich mich
sehr.

Bier.

Ein verärgerter Brief von
Polakovics, Abgründe
aufreißend, wie es seine
Art ist, kam.

Ich konzipierte gleich
die Antwort, beruhigend.

Wir gingen um die
Steinhofer Mauer und
setzten uns sogar
im Garten des Schutzhauses
nieder; es war allerdings
noch ein wenig kühl.

Schöner Tag.


Sa, 23.5.:

Schöner freier Tag.

Nm. Wiese. Zeitig kehrte
ich zurück.

Nach vier Uhr verleitete
ich Mama zu einem
Spaziergang die Wiental-
straße
hinauf. Flücht-
lingslager
, kleiner Bach
und Wasserfall, Bahndamm,
Umkehr, dann von der
Brauhausbrücke aus den
gewohnten Weg gegen
Hadersdorf zu gegangen. Das Umspannwerk erstmals
gesehen und die nun
elektrifizierte Bahn.
Als die Sonne sank,
umgekehrt. Das Wienfluß-
bett
nahe Hadersdorf
ist jetzt gepflegt, grasig.
Kleine giftgrüne, fast
fluoreszierende Blättchen
erinnern an den
sumpfigen Grund. Ein
junges Reptil, ich glaube:
Blindschleichlein, huschte
über unseren Weg.
Viele Badende, die aller-
dings gegen Sonnen-
untergang Schluß machten
aus dem Wasser stiegen. Die braunhäutigen Männer,
die in den Schrebergärten
arbeiteten, waren mit
dem Rosa des Abendlichts
übergossen.

Wir kauften uns d   
eiskaltes Bier vom
Westermayer (dessen
Kühlschrank auch nachts
eingeschaltet bleibt)
und fühlten uns
zuhause sehr wohl.
Ich aß vom geblumten
Teller und sehnte mich
nach einer Freundin,
mit der ich gerne auf
großblumigem Bettzeug
gelegen hätte.


Pfingstsonntag,
24.5.53:

Die Familie Pobisch lieh
uns den Gartenschlüssel;
ich sonnte mich und
nahm mir aktuelle
Schriften und "Philosophie"-
Mappe mit.

Ich konzipierte den
Fiechtner-Brief und
brachte das Fragment
"Im hohen Vormittag"
in den endgültigen
Zustand. Nebenan
weideten die Krenek-
Mädchen.

Daheim waren Tante und
Paul. Ich ging aber
bald nach Mittag wieder
in den Garten. Dort
begann ich eine über-
mütige Prosa ("Ein
Knabe und ein Mädchen
schreiben eine Pornographie.
").

Unterbrach die Arbeit
(die Kirschen oben sind
grün; matteres Grün
des Blattwerks), ging
nach Haus. Abends
war ich nicht mehr im
Garten, schrieb auch
nicht mehr. Dafür
entwickelte sich auf meiner Haut ein
ansehnlicher Sonnenbrand.
Legte mich seinetwegen
bald ins Bett, wir
sprachen aber noch
lange, von der Zeit,
als wir in der
Tschechoslowakei gewohnt
hatten.


Pfingstmontag,
25.5.:

Man sieht, wieviel man
ausarbeiten könnte, wenn
man freie Zeit genug
hätte. Einstweilen würden
mir genügen die



Samstage und Sonntage
einer Fünftagewoche.

Setzte mich vormittags wieder
in den Garten, schrieb aber
nichts.

Das größere Krenek-Mädchen
lud mich für kommenden
Sonntag in ihren Garten ein;
ein Schulkollege von ihr
will mich, sagt sie, wegen meiner
Gedichte in den "Neuen Wegen"
kennenlernen.

Nachmittags setzte ich mich
mit den "Philosophie"-Mappen
wieder ins Grüne, stilisierte
einzelne Zettel um oderund
schied andere aus. Bald
trübte es ein, und es
donnerte ein wenig. Ich
ging nach Haus.

Die einzelnen Zettel müßten
erst in sich gereinigt,
dann gegeneinandergehalten
werden, wobei die
Wiederholungen ausfallen
würden.

Abends wurde mir angesichts
der Mappe von 1949 unheimlich: Dieses
intensive Sich-Befassen
mit der Theorie jener
Dinge, die heute nur ab und
zu aus einem Verslein
auftauchen. Ein ganzes
ethisches System ausgearbeitet und überlebt;
heute kommt es mir vor, als
hätte ich auf diesem
Gebiet nichts zu sagen;
ich dürfte mich
aus-gesprochen haben.
Dabei niemandem zur Kenntnis,
zur Anregung und zum
Nutzen; ich habe wahrscheinlich zu früh
begonnen.

Auch meine engsten literari-
schen Freunde kennen
nicht dieses Fundament,
ich existiere für sie,
anscheinend wurzellos,
erst seit 1950.

Werde ich die Kraft und
die Zeit und die    
Voraussetzungen
haben,
noch einmal mich, den Leuten
sichtbar, zu fundieren?
Bin ich selbst noch der
Alte? x) Bin ich demoralisiert
worden oder
Hüte ich mich nur
vor einer zweiten
Zwischen-Addition?


Dienstag 26 5 1953 :

Fritsch. Ueber die Bedin
gungen einer Rückkehr in die
"Neuen Wege" beraten.

Dann kamen wir auf die
Kennzeichen unserer "Gruppe"
überhaupt zu sprechen.

Hielten das Abweichen der
Artmann-Gruppe von dieser
ursprünglichen "Richtung"
fest.

Objektivismus. Ueber die
präzisen Formulierungen und
das Unrecht, das man ihnen
antut, wenn man sie als Zeichen
der Gefühlskälte nimmt.

Ueber die Assoziatorik des
Objektivisten: er betritt
dieas Gebiet der Assoziationen
wie einen Garten; der Sub-
jektivist "macht" Assozia-
tionen, wie eine Spinne ihren
Faden macht; der Subjektivist
nimmt die Inkommensurabilität
der Assoziatoriken an, der
Objektivist glaubt an die
menschliche Gemeinsamkeit auch
auf diesems Gebiet.es.

Gegen die ungebundene Lyrik
odischen Charakters, die
gewisse Formen pflegt, sich
gesittet zu begeistern.
/"und zu entrüsten"; Fritsch./

Der Objektivist ist weltoffen,
er kann immer    mit Ueberraschun-
gen rechnen; anderseits steht er hilflos vor jeder neuen Er-
scheinung; wie ein Kind muss er
         den Ausdruck jedes Neuen erwerben.

Ueber schlechte Bildhaftigkeit
gesprochen.


Mittwloch 27 5:

Zeichen von Müdigkeit.
Nachmittags trübes Wetter.

Zuhause einen schönen Abend zu
machen versucht.


Donnerstag 28 5:

Kühl. Tante ging auf Urlaub.


Freitag 29 5:

Trüber Morgen. Aufhören der
Ausfuhrbewilligungen wurde gestern
angekündigt. M. besuchte T. in der
Adamsgasse. Ein Mädchen auf der
Strassenbahn gesehen, die mir gefiel,
Mama aber nicht gefiel. Einmal eine
Geschmacksdifferenz.

Abends nach arbeitreichem und
von Machwitz verhässlichtem
Bürotag fuhr ich mit Briggi.
Hatte sie in den ersten Minuten
der Fahrt gar nicht erkannt.
Sie erzählte mir von ihrer Reise.
War in einem spanischen Fischerdorf,
flog aber auch über Mallorca,
hatte die Schweiz durchzogen, war
entlang der Riviera gefahren
/in Cannes werden die Palmen abends
verschiedenfarbig beleuchtet/.


Gleich nach Mittag wieder auf die Wiese
gegangen.

Ich habe einen Instinkt, ähnlich dem Instinkt der Tiere,
dafür, ob ein bestimmter Mensch sich mit mir            zusammenfinden
könnte oder nicht.

Nachmittags auf der Wiese schon verschiedene
Eindrücke, weil einige Menschengruppen
in Sichtweite sassen. Kritischere Gedanken
als am Vormittag.

Auf der Wiese zu liegen ist die einzige später nicht
nachholbare Beschäftigung in meinem gegenwärtigen Leben.
Darum gebe ich ihr vor allen anderen Beschäftigungen
den Vorrang.

Ein etwa zweiunddreissigjähriger Mann
klagte darüber, dass man heute die Eltern
mehr als die Kinder erziehen wolle. Seine
Frau mit Raubvogelgesicht hörte seiner
schnarrenden Rede zu. Dann hielt er sich
über die heutigen Frauen auf, die "oben"
ziemlich unbedeckt auf die Wiese gehen.
"Bitte, ein Mann kann schon ...", sagte er,
"... aber eine Frau?!"

Es ist wahr, dass ein tierischer Ernst und eine ahnunglose
Souveränität den schimpfenden Spiessbürger vom halbwegs
intelligenten Ethiker unterscheidetn.







3 5 53

Halbschlafsymbol für meine Freude an der Erkenntnis,
dass ich nicht leer bin sondern nur des Auslösenden
bedarf, um mich mitzuteilen:

DER DROGIST MACHT EIN SCHELMISCHES GESICHT:
"DIE DOSE IST VOLLGESTRICHEN MIT DER SALBE!"

Wacher Gedanke spät abends:

Mein Leben ist eine nasse Lunte zu einem herrlichen
Dynamitfass.

29 5 53

Samstag 30 5:

Kein hagtte das heutige Bei-
sa  mmensein abgesagt. /Er ist
bei der Autorentagung in Linz./

Atelier Hofmann schickte mir,
wie ich es erbeten hatte,
ein  e Kopie, und zwar Photokopie,
seines Plakates für die Firma
Matzner
, des besten Badetrikot-
plakates dieser Saison.

Ich entdeckte, dass wir kein
Blatt Zellophan in unserer
Wohnung haben, mit dem ich
diese Photokopie hätte schützen
können.

Wenn unsere Wohnung nicht so
feucht wäre, würde ich gute
Plakate an den Wänden auf-
ziehen. Das habe ich von
Matejka gelernt, und das ist
sehr reizvoll.

Tante war hier und nahm
Abschied. Sie fährt eine Woche
nach Italien. Aber das Wetter
ist schlecht.

Abends ausländische Sender
abgehört. Orientalische Musik,
ein russisches Programm, ein
französisches Chanson aus
einem schweizer Kabarettabend.


Sonntag 31 5:

Schlechtwetter. Ich lief
trotzdem in den Garten der
Krenekmädchen, um sicher zu
gehen, dass ich niemand ver-
geblich warten lasse.

Tatsächlich waren das Mädchen und der
Knabe schon dort.

Gleich begann es aber zu regnen, und
wir gingen zu dem Mädchen in die
Wohnung des Mädchens hinauf. Dort
unterhielten wir uns über Literatur;
ich versuchte den Knaben dazu zu bringen,
dass er sich über sich ausspräche, er
blieb aber, wenn auch recht erfrischend
sprechend, bei der Literatur. Das Mädchen
ging, ausser in den Ausbrüchen ihres
lebhaften Temperaments, ihrem Lachen und
ihren Zustimmungen, noch weniger
aus sich hinaus. Vielleicht war die
Zeit des Kontaktes zu kurz, um mehr
enthalten zu können als die Auswertung
des konkreten Anlasses, die Mitteilung
des Knaben über seine literarischen
Vorlieben, und die Aufnahme jener
einiger Prosastücke und des Gedichtes,
die ich dem Mädchen und ihrem Freund
zu lesen gab.

Der Knabe ist seit seinem fünfzehnten
Lebensjahr von Sartre beeinflusst und
seit einer späteren Zeit von Nietzsche.
Das Mädchen scheint positiver begründet
zu sein, erkennt also die Bindungen des
Knaben /als vorübergehende/ nicht, ihn
selbst als Person aber anscheinend
ganz an.

Nachmittag Ordnungen und Tagebuch;
rannte dabei der Jazzmusik in ver-
schiedene Stationen nach. Sprach mich
auch, zuhause, über vieles aus.


Mo 1 6:

Halsschmerzen im Büro.

Müde. Kleinere Streitigkeiten.
Früh die Nachricht: Allgemeine
Wehrpflicht in Westdeutschland. Weiters:
Man "ist besorgt, dass eine
Viererkonferenz der Europaarmee
schaden könnte und damit der
'Integrierung Europas'".


Di 2 6:

Die Londoner sind verrückt auf
die Krönung von Elizabeth II.
/Vielleicht die letzte Krönung
der Geschichte./

Mount Everest ist, der englischen
Königin zum Geschenk, erstiegen
worden.

Wir liessen es uns, unabhängig
davon, gut gehen. Mama hatte
einige verschiedene Stücke Käse
gekauft; ich ass davon, zum
ersten Mal seit meiner slovakischen
Kindheit ass ich wieder mit aller
Gründlichkeit Käse.


Mi 3 6:

Früh nur plus sechs Grad.

Ein Tag böser Arbeit im Büro.
Abends wieder gut gegessen und
Bier getrunken. Mama hatte ein
ganzes Kilogramm Bananen gekauft.
Sie hat das Talent zu ein bisschen
extravagantem Wirtschaften. Mit
meinen zwölfhundert Schilling
leben wir, ohne freilich Gegen-
stände für das Haus anzuschaffen
oder nachzukaufen, und ohne freilich
Veranstaltungen zu besuchen,
gut. Diese Art, zu geniessen,
gefällt auch mir am besten: Die Freude an freundlicher Stimmung,
an gutem Essen und Trinken, einfach
und im kleinen Raum zu erleben.


Do 4 6, Feiertag:

Beginnt mit dunkelgrauem
Himmel und Regen.

Wir pflückten ein paar Kirschen
im Garten und schnitten einige
blühende Sträucherzweige ab, um die
Wohnung zu schmücken.

Noch immer kran,k. Hakelglossen
geschrieben, später in alten
Tagebüchern gelesen.


Fr 5 6:

Wollte erst nicht ins Büro gehen,
ging dann aber doch. Volksgarten:
Starker Sonnenschein mir entgegen,
Krankheit—Geschmack in mir.

Glossen an Hakel abgesandt. Abends
lang im Büro geblieben.


Sa 6 6:

Halsschmerzen. Musste im Büro
Huber vertreten, die ihren freien
Tag hatte. Hielt die beiden
Diktatoren bis ein Uhr auf, da
ich früher mit den Briefen nicht
fertig wurde. /Es waren Briefe, die
die Spedition betrafen, ein mir ziemlich
fremdes Gebiet, und die mir unmenschlich
spät in Auftrag gegeben worden waren./

Nachmittags kam Tante, von Italien
zurück.













Zu mir kam mit der gleichen Strassenbahn
Kein. Er erzählte vom Linzer Dreiländer-
treffen junger Autoren, bei dem sich
zwei Gruppen geschieden hätten;
grob eingegrenzt: Realisten und
Aestheten. Die Grenze verläuft selbst
durch unseren "Wiener Autorenkreis",
zum Beispiel zwischen Kein und Ebner.
Keins Prosa, die in Linz gelesen
worden war, erschien Ebner und
jenen, die Ebners Prosa lobten, zu
wenig "hintergründig"; dieser Realismus
sei überwunden, seit langem; momentan
stehe das Magische in Mode.

Kein erzählte noch viel anderes,
Charakteristisches und Episodisches,
von seinem Linzer Aufenthalt.

Dann gingen wir meine Korrespondenz
der letzten Zeit durch /Jandl,
Polakovics, Fiechtner .../ und wünschten
uns mehr Zeit, um die hier und da
notierten und die im Gespräch aufblitzen-
den x einzelnen Ergebnisse zu einer Summe vereinigen
zu können.


Dienstag, 26.5.:

Siehe Zettel


bis Sa, 6.6.:

Siehe Zettel


Sonntag, 7.6.:

Krank. Im Bett geblieben.

Früh den "Alten Mann und
die See
" gelesen.

Tagsüber, ohne zu arbeiten,
im Bett gelegen. (Nur ein
wenig Tagebuch geschrieben.)
Draußen scheint es wärmer
geworden zu sein.


Montag, 8.6.:

Krank.

Daheim geblieben.

Das Hakelbuch ist erschienen;
ich weiß bis heute nicht, ob
meine Beiträge dafür
verwendet worden sind.

Eine Wohnung in Meidling,
4. Stock, Zimmer und Küche,
wurde uns angeboten.
Mama lehnte des 4. Stocks
wegen ab. Frau Dwořak
sagte uns, wir haben
den Anspruch nur auf
einen Raum. Also arge
Verkleinerung in Sicht.
(In unserer derzeitigen
Wohnung haben wir zwar auch nur Zimmer und Küche,
aber beide sind sehr groß;
das Zimmer 7×10 Meter,
wir haben fast ein Gebäude
von Steinhof für uns.)

Nachmittag kam Tante, ging mit
Mama spazieren, ich blieb allein
in der Wohnung. Las das
"Urteil" von Kafka und
wieder Geschichten von Hahnl,
dann nahm ich mir meine
"P"-Mappen zum Bett.
(Mutlos wieder vor dieser
Menge an Zwischenergebnissen
[Jahr 1949], die im Wesen zu richtig
sind, als
daß man sie ruhigen Gewissens vernichten könnte, deren jedes
man aber stilistisch festigen
müßte und schließlich in
ein                 e größere Ordnung ein-
ordnen.)

Draußen ist es heiß geworden;
aber es ist dabei trüb und
windig geblieben.


Dienstag, 9.6.:

Machte mir selbst eine
Überraschung: Ging heute
noch nicht ins Büro.

Früh aber, bei getrübtem Wetter,
auf die Linzerstraße.      Verbrachte

mit Einkauf einen Morgen


Notizen 9 6 53:

Waffenstillstand in Korea
in Sicht. Ziviler sowjetischer
Hochkommissär in Oe  sterreich.
Demarkationslinie gefallen.

Zwei "schicksalhafte"
Begegnungen, die ich ver-
schuldet habe: Polakovics - Hakel, Artmann - ArtClub.

wie jene sogenannten
Haustöchterchen aus früheren
Jahrhunderten,          von denen


uns die Geschichte der
Zivilisation berichtet.

Kam müde heim und legte
mich ins Bett.

Fritsch hatte ich für heute Abend
abgesagt. Wenig Post. Tagebuch.
Fühlte mich viel ausge-
glichener als die letzten Tage.

Nachmittags allein. Sodawasser.
P-Mappen. Gegen Abend
Spaziergang um die Steinhofer
Mauer
. Noch schwach.


Mi 10 6 53:

Büro, EVE-Daten und Eintragungen,
15h heimgekommen.

Unsere Fensterrahmen werden frisch
gestrichen. Fini Pobisch brachte
den Gartenschlüssel (Kirschen-
ernte!),. Wir mußten abends
die Kammer ausräumen,
begannen auch, der nahen
Übersiedlung wegen, auszu-
misten.

Bier geholt, Gedanken über
die Spanne zwischen Präzision
und Prägnanz.

Blauer Himmel, warm.


Do 11 6 53:

Klarer (grün und blau)
Frühlingsmorgen.

Wegen dieser Spannung zwischen
Krankheit, dem Erleben des
Frühlings und dem Nicht-
bestimmendürfen über die eigene
Zeit erinnern mich diese Tage
an dieen Sommer 1944 in der
Tatra, auf Bellevue und
Hamalčik.

Fritz studiert jetzt Zeitungs-
wissenschaften. Er übergab
mir vier Artikel für die
"Schau".

Abends kamen die Kretschmer (unsere
"Hauptmieter", die aber nicht
in unserer
nicht mit uns
wohnen,) um für die Hand-
werker inm ihrem Kabinett
(das wir nicht benützen)
Ordnung zu machen.

Wieder Halsschmerzen.

Kirschenernte war.


Fr 12 6:

Wäre gern zuhause geblieben.
Trübes Wetter.

Lockerung in Ostdeutschland.
Büro: zusätzliche 1200.- bekommen.


Sa 13 6:

Johann, der Patient, der dem Portier hilft, kam nach langer Krankheit wieder.
Regen.

Büro etwas leichter.

Nachmittags niedergelegt.

Botschafteraustausch mit
Rußland.

Lockerung des Regimes in
Ostdeutschland und Näherung
der deutschen Ost- und Westzonen.
Einstein ruft auf gegen McCarthy.

Mädchengedanken.


So 14 6:

Im Bett geblieben, da ich noch
nicht ganz gesund bin.

Genoß den Tag so, wie ich es
konnte. Wolkiges Wetter.

Notizen von         halbwegs allgemeiner
Gültigkeit zu schreiben, gelang
mir nicht.

P-Mappen.


Mo 15 6:

Heute würde ich gern daheim
bleiben, auch im Bett würde
ich in ausgeglichener Stimmung
liegen können;               dies ist keine
psychologische Täuschung /Sehnsucht
                        (Wertsteigerung infolge Uner-
reichbarkeit) sondern ergibt sich daraus, daß man,
wenn    man es mehrere Tage übt,
viel von der Fähigkeit gewinnt,
einen Tag auszuschöpfen.

Traf Briggi: Sie liest jetzt Laotse.

Sie zeigt sich in letzter Zeit sehr

mondän bekleidet und
made up; man kann aber
gut mit ihr sprechen.

Erstmals Tante wieder im Büro.
Viel Arbeit, da außer Bauer,
der seit Samstag auf Urlaub ist,
auch Huber, die 107 Briefe in
einer drängenden Angelegenheit
zu schreiben hat, ausfällt.

Dennoch Rückstände aufgearbeitet.

Abends gingen wir noch
Kirschen ernten. Krenek-Mädchen
saß mit ihrem Geliebten im
Nachbargarten (sie gingen dorthin,
als die Sonne gesunken war).
McCarthy nannte Einstein den
"Feind Amerikas". Ich
erinnerte mich abends einer
Fieberzeit, da ich so durstig
war, daß ich mich nach dem
Himbeersaft sehnte, den es
einmal im Tag gab. (Es war
im deutschen Kinderlager,
1944.) Wermut, rot, getrunken.


Laden...

Tagebuch

1953

AOk

260

Tagebuch

von ... Fr, 1 5 53

bis ... Mo, 15 6 53

Freitag, 1. Mai 1953:

Frei. Nicht immer trübes, aber unverlässliches Wetter. Zeitig, nach einem ungewöhnlich deutlichen, dabei klugen und farbigen, Traum, aufgestanden.

Zu Artmann. Fruchtlos wie erwartet. Wir besuchten Altmann, der nun in der Starchant-Siedlung wohnt. Aber es war der traditionelle Maispaziergang.


Nachmittag Wendepunkt: Kein kam.

Froh, darüber, dass er heute und nicht morgen mich besucht. So habe ich heute einen anregenden und morgen einen ganzen freien Tag.

Ueber die Unmittelbarkeit als Kennzeichen der heutigen Literatur gesprochen. Ueber die Frage, ob frühere Dichter das Anliegen der Wiedergabe nicht gekannt haben. Ob solche /Rückert, Platen .../ nicht gewollt haben, dass eine Rose, die sie nennen, auch wirklich gesehen wird vom Leser und gerochen? Ob sie sich damit begnügt haben, ein Sigel zu nennen ohne Wirklichkeitwert? Ob jene Zeiten die Dichtung als ein Gesellschaftspiel betrachtet haben? Man könnte doch vermuten, dass das Anliegen der Wiedergabe ein zeitloses psychologisches Phänomen ist.

Ueber Kafka, Toman, Hemingway und ihre Prosa.

Kein hat eine gute Erzählung geschrieben.

Ich liess ihn Sisyphos und Sonja lesen.

Ueber meine Sehnsucht nach der Synthese der Lebensgefühle und meine Abscheu vor der althergebrachten Forderung, dass die Lebensgefühle zu trennen seien, /vor der Forderung nach "reiner Tragik" zum Beispiel und "abgeklärtem Humor",/ gesprochen.

Abends in gereinigter Laune. Einen schönen Abend verbracht. Mit Mama noch zum Fenster hinaus gesehen. Es ist warm draussen.

Je schöner die Jahreszeit wird, desto wilder wird mein Wunsch nach einer Freundin.


/Traum:/

Es beginnt mit einer endlosen Liftfahrt. Vom Erdgeschoss aus steuere ich, von Stockwerken aufwärts und abwärts lenkt mich eine ältere Frau. Einmal befiehlt sie mir sogar, um ein Stockwerk höher hinauf zu fahren als sie es vortastet, weil eine Ankunftstelle gestört ist. Die Auf- und Abfahrten werden geregelt durch ein verborgenes System, das durch Butter und Schmalz bestimmt ist.

Im Erdgeschoss hole ich Gerhard Fritsch zur Liftfahrt ab. Ich schicke die Liftzelle jedoch irrtümlich in das Kellergeschoss, und wir müssen warten, bis sie wieder heraufgesandt wird. Zwischen Keller und Erdgeschoss bleibt sie für kurze Zeit stecken. Endlich ist sie in unserer Höhe, und wir steigen ein.

Einmal eine bezaubernde Stimmung im Lift, mit einem Mädchen, von der ich aber weiss, dass sie nur Trugbild meiner intensiven Wünsche ist.

"Es gibt eine Reihe schöner, ruhiger Kunstwerke ..." /dazu Lichtbilder, farbig/

"... aber das Höllenklima verweht die zärtlichsten Liebesworte."

2

"Ich möchte wissen, ob man Liebe zugleich gross und klein sehen kann ..."

Bild: Schweinsbraten in einer Reine auf dem Tisch. Nahe davon ein Mädchen nackt, sinnlich, verträumt: "Ich werde versuchen, das Blickfeld etwas zu erweitern."

Ich schaue, um die Probe zu machen, während dieser Worte auf den Schweinsbraten.

Sie: "O, wie gemein ...!"

Jean Paul Sartre tritt, wie zu einem Kongress, zur Tür herein. Wir befragen ihn über die Welt und die Hölle.

Sartres Antwort: "Die Welt versteht unter Welt Welt, und bis dorthin reicht meine Kompetenz."

/Anschliessend wache ich auf./

1 5 53, 5 Uhr früh;
Gesprochene Sätze knapp nach dem Erwachen wörtlich aufgeschrieben.

Den Traum knapp nach dem Aufwachen kurz notiert. Gesprochene Sätze wörtlich niedergeschrieben.

Die Notiz verarbeitete ich, noch recht frisch, zu einem Bericht.

Während der Reinschrift schon die Unmittelbarkeit verloren und den Bericht plötzlich literarisch angesehen. /Es geht mir wie schon unlängst bei meinem Gedicht "Im hohen Vormittag"./ /Das Nächste und Schönste wird mir, weil ich daran feile, nach kurzer Zeit verabscheuenswert, verlogen, verhasst, und wenn sich der Aerger gelegt hat, bleibt der Eindruck zurück, dass es gar nicht festhaltenswert war. Alles verbrennt mir so zu Asche. Ich habe eine verfluchte Hand./

Zwei Tage unter ohnmächtigem Hassgefühl umgearbeitet und gestrichen, unterbrochen von hemmungslosen Zornausbrüchen. Ich habe keinen Boden unter meinen Füssen. Ich korrigiere auf kein Ziel hin, das ist das Furchtbare. Nicht auf Prägnanz und nicht auf Gerundetheit hin. Einen Satz kürze ich bis zur Telegraphierbarkeit, einen anderen fülle ich, bis er logisch vollständig wird /so wie kein Mensch auf der Welt redet; voll der überflüssigsten Einschränkungen, Erklärungen, Pedanterien/, wonach dann der Satz eine halbe Seite lang wird.


/2 5 53/

Den Rest des ersten Mai teilweise uneingedenk dieses bösen Artikels, dessen Inhalt ich so liebe, verbracht, /inmitten von viel Flieder; wir haben aus mehreren Gärten ihn geschenkt bekommen/, teilweise eingedenk des Artikels und zornblind gegen alle Schönheit. So auch eingeschlafen.

Den 2. Mai, Samstag, hatte ich wieder frei. Verschiedene Arbeiten für das Haus. Vormittag, als ich die Wäsche von Hütteldorf holte, noch heiss, so dass ich schwitzend zuhause ankam. Später wurde es trüb. Dann wieder, bis zum Höhepunkt des Zornes, geschrieben.

x) Strafverschärfungen: Daß dabei die Zeit, die wertvolle Zeit, vergeht. Daß ich dabei alles Schöne der Jahreszeit verliere. Daß ich dabei lächerlich gereizt werde, wie ein MANN, dem das Schuhband reißt. Daß ich hundert kluge Arbeiten für eine solche schwierige aber nebensächliche hingebe. (Tu ich es nicht, so bleibt sie mir auf dem Gewissen liegen, als baue ich mein ganzes Leben auf einem trügerischen unterminierten Grund: Mein Ursprung ist die Unbegabung.)

Jetzt beruhige ich mich, vielleicht vorübergehend.


Mo 4 5:

Kursangleichung, Aufhören der Kopplungsgeschäfte.

Zahnarzt.


Di 5 5:

Ein abstoßender Menschenschlag: das Luder ohne Anmut: Hur und zugleich bissige Beamtin.


Mi 6 5:

Machwitz fährt nach Deutschland. Es kam überraschend.)

Ich mußte abends lang im Büro bleiben, obwohl ich keinen Spätdienst hatte.

Diese Tage ist es wieder kalt.


Do 7 5:

Kaltes Wetter, wie gestern. Kastanienkerzen blühen.

Machwitz teilweise ersetzt. Zeitiger heim.

Zuhause gibt es Obstschnaps.


Fr 8 5:

Im Büro lebhaft. Arbeit aber großteils auf mich beschränkt. Acht Uhr heim.


Sa 9 5:

Letzter Halbtag ohne Machwitz. Zuhaus entspannte ich mich.

Noch rauhere Kälte als an den vergangenen Tagen. Wolkenbrüche.

Über den Himmel schoß vormittags ein stabförmiges Flugzeug; so hoch es flog, so stark erschütterte sein Lärm den Boden. Ich denke an die Wirklichkeit des Kriegs.


Nachmittag photographiert. Korrespondenzen.


So 10 5:

Lang im Bett gelesen. Etwas Englisch gelernt, Kafka Eisenbahnfahrt,
vormittags Jandl einen komplizierten Brief geschrieben, den ich später wegwarf.

Nachmittags Kafkas Strafkolonie vorgelesen. Starker, quälender Eindruck. Danach Van Gogh, Klee angeschaut und "Schnee auf dem Kilimandscharo" gelesen.

Kalt (+2°!), Regen, Hagel, abends Schnee.

Abends Wutausbruch in die Schreibmaschine. Alte Notizen danach weggeworfen.

Wieder nichts gesagt.


Mo 11 5:

Tiefpunkt. Nach regnerischer, stürmischer Nacht schwergrauer Morgen.

Einen guten kurzen Brief an Jandl geschrieben.

Im Büro wieder Machwitz, alter Betrieb.

Abends Zahnarzt vorletztes Mal.

Ich hätte große Lust, "In der Strafkolonie" zu verfilmen; wenn ich Zeit hätte, würde ich ein Exposé versuchen.

x Vielleicht für Steinwendner.


Di 12 5:

Die Unterhaltung mit dem Mesozoiker von neulich in der Früh wieder aufgegriffen. Kaum in Schwung, mußte ich des Tagbeginns wegen aufhören.

Nach trübendem Bürotag ein Abend bei Fritsch.

(Die 62-er Wagen haben jetzt freundliche Plattformen, hohe Fenster, die schon sehr weit unten beginnen. Auch ist die Fahrt in der lichten Jahreszeit lieber als die im Winter.)

Anregendes Gespräch.

1) Über die Herkunft des konkreten Gedichts der letzten Jahrzehnte 2) Über die Statthaftigkeit von Hilfs-Weltanschauungen.

Mi 13 5:

Kalt, jetzt schon gesteigert durch die "Eismänner"-Kälte.

Wollte gern Eliot weiter übersetzen.

Abends unerwartet freundlichen Brief von Prof. Fiechtner. Wein.


Do 14 5 FEIERTAG:

Lang im Bett geblieben. Beim Aufwachen glaubte ich, es ist schön draußen, in Wirklichkeit war es wieder wolkig, windig, kalt.

Ich las Kafkas "Verwandlung" und fachliche Artikel in den letzten "Neuen Wegen". Während des Lesens (das mir Freude bereitet) hatte ich Nebengedanken; ich bin anscheinend überanstrengt.

Wußte, daß ich heute nichts von den vielen möglichen Arbeiten zuwegebringen würde. Zu viel Möglichkeiten, zu wenig Breite.

Ich habe keine Zeit, mich zu entfalten.

Ein paar Ordnungen, viel gelesen, ein bißchen Eliot übersetzt, ein bißchen photographiert.

Brief an Polakovics begonnen.

Am 3. Mai habe ich drei Wünsche formuliert: 1) Gefährtin 2) Fünftagewoche 3) literarische Zukunftaussicht.

Freitag, 15.5:

Fiechtnerbrief konzipiert (den Anfang). Hätte große Lust gehabt, prompt mit der Wirkungsanalyse, dem Wirkungsvergleich und der Entstehungspsychologie draufloszuarbeiten.

Statt dem: Büro, lang, bis in den Abend.

Daheim entspannt.


Samstag:16.5.53

Es ist heiß geworden.

Nm. mit Kein weit spaziert. (Schutzhaus Satzberg). Gute Hurenprosa.

Von Pol kam mittags eine grobe, aber freundlich gemeinte, Karte.

Abends zuhause kühl.

Brief an Pol (noch ohne Rücksicht auf seine Karte) fertig konzipiert.


17.5.53 Sonntag:

Froh über das schöne Wetter aufgewacht. Am Brief noch ein wenig gebastelt.

Schade, daß ich in diesen schönen Jahren nicht mit einem Mädchen leben kann. Ich habe Sehnsucht nach ihrer liebenden Antwort.

Vormittags auf die Wiese. Mama blieb auch eine Zeitlang. Gutes Essen, nachmittags wieder auf die Wiese gegangen. Polakovics-Brief fertig geschrieben.



18.5.53 Mo

letztes Mal beim Zahnarzt. Auf dem Rückweg von ihm weihte ich die neue Straßenbahnlinie:, G2, ein.


Di

wieder ein heißer Tag. Die Arbeit im Büro läßt leicht nach. Dr. M. und auch die anderen Arbeitverteiler werden müde.

Zuhause machten wir uns einen schönen Abend.


Mi

Wie lange schon die Kastanien blühen.

In der Früh las ich einen Essay (in einer "Neuen Rundschau" aus dem Jahr 1950) über Don Quijote und Faust, aus der Perspektive der Lebensabsurdität angesichts der Sterblichkeit.

Während des Vormittags nahm die Arbeit im Büro wieder zu.

Dieser Tage bin ich über die verlorene Zeit, namentlich des Frühjahrs, nicht erregt, sondern ich nehme den Verlust, leicht müde, hin.


Mo, 18.5.:

siehe Zettel.


Mi 20.5.:

Freundlicher Abend.

Ein Brief von Dr. Häussler kam.


Do 21.5.:

Dachte über den Häussler-Brief nach.

Viel Arbeit im Büro.


Fr 22.5.:

Letzter Bürotag vor Pfingsten. Häussler-Brief abgesandt. Fiechtner-Brief weiter. Im Büro fast alle Rückstände aufgearbeitet. Abends freute ich mich sehr.

Bier.

Ein verärgerter Brief von Polakovics, Abgründe aufreißend, wie es seine Art ist, kam.

Ich konzipierte gleich die Antwort, beruhigend.

Wir gingen um die Steinhofer Mauer und setzten uns sogar im Garten des Schutzhauses nieder; es war allerdings noch ein wenig kühl.

Schöner Tag.


Sa, 23.5.:

Schöner freier Tag.

Nm. Wiese. Zeitig kehrte ich zurück.

Nach vier Uhr verleitete ich Mama zu einem Spaziergang die Wientalstraße hinauf. Flüchtlingslager, kleiner Bach und Wasserfall, Bahndamm, Umkehr, dann von der Brauhausbrücke aus den gewohnten Weg gegen Hadersdorf zu gegangen. Das Umspannwerk erstmals gesehen und die nun elektrifizierte Bahn. Als die Sonne sank, umgekehrt. Das Wienflußbett nahe Hadersdorf ist jetzt gepflegt, grasig. Kleine giftgrüne, fast fluoreszierende Blättchen erinnern an den sumpfigen Grund. Ein junges Reptil, ich glaube: Blindschleichlein, huschte über unseren Weg. Viele Badende, die allerdings gegen Sonnenuntergang aus dem Wasser stiegen. Die braunhäutigen Männer, die in den Schrebergärten arbeiteten, waren mit dem Rosa des Abendlichts übergossen.

Wir kauften uns eiskaltes Bier vom Westermayer (dessen Kühlschrank auch nachts eingeschaltet bleibt) und fühlten uns zuhause sehr wohl. Ich aß vom geblumten Teller und sehnte mich nach einer Freundin, mit der ich gerne auf großblumigem Bettzeug gelegen hätte.


Pfingstsonntag, 24.5.53:

Die Familie Pobisch lieh uns den Gartenschlüssel; ich sonnte mich und nahm mir aktuelle Schriften und "Philosophie"-Mappe mit.

Ich konzipierte den Fiechtner-Brief und brachte das Fragment "Im hohen Vormittag" in den endgültigen Zustand. Nebenan weideten die Krenek-Mädchen.

Daheim waren Tante und Paul. Ich ging aber bald nach Mittag wieder in den Garten. Dort begann ich eine übermütige Prosa ("Ein Knabe und ein Mädchen schreiben eine Pornographie.").

Unterbrach die Arbeit (die Kirschen oben sind grün; matteres Grün des Blattwerks), ging nach Haus. Abends war ich nicht mehr im Garten, schrieb auch nicht mehr. Dafür entwickelte sich auf meiner Haut ein ansehnlicher Sonnenbrand. Legte mich seinetwegen bald ins Bett, wir sprachen aber noch lange, von der Zeit, als wir in der Tschechoslowakei gewohnt hatten.


Pfingstmontag, 25.5.:

Man sieht, wieviel man ausarbeiten könnte, wenn man freie Zeit genug hätte. Einstweilen würden mir genügen die Samstage und Sonntage einer Fünftagewoche.

Setzte mich vormittags wieder in den Garten, schrieb aber nichts.

Das größere Krenek-Mädchen lud mich für kommenden Sonntag in ihren Garten ein; ein Schulkollege von ihr will mich, sagt sie, wegen meiner Gedichte in den "Neuen Wegen" kennenlernen.

Nachmittags setzte ich mich mit den "Philosophie"-Mappen wieder ins Grüne, stilisierte einzelne Zettel um und schied andere aus. Bald trübte es ein, und es donnerte ein wenig. Ich ging nach Haus.

Die einzelnen Zettel müßten erst in sich gereinigt, dann gegeneinandergehalten werden, wobei die Wiederholungen ausfallen würden.

Abends wurde mir angesichts der Mappe von 1949 unheimlich: Dieses intensive Sich-Befassen mit der Theorie jener Dinge, die heute nur ab und zu aus einem Verslein auftauchen. Ein ganzes ethisches System ausgearbeitet und überlebt; heute kommt es mir vor, als hätte ich auf diesem Gebiet nichts zu sagen; ich dürfte mich aus-gesprochen haben. Dabei niemandem zur Kenntnis, zur Anregung und zum Nutzen; ich habe wahrscheinlich zu früh begonnen.

Auch meine engsten literarischen Freunde kennen nicht dieses Fundament, ich existiere für sie, anscheinend wurzellos, erst seit 1950.

Werde ich die Kraft und die Zeit haben, noch einmal mich, den Leuten sichtbar, zu fundieren? Bin ich selbst noch der Alte? x) Bin ich demoralisiert worden oder Hüte ich mich nur vor einer zweiten Zwischen-Addition?


Dienstag 26 5 1953 :

Fritsch. Ueber die Bedin gungen einer Rückkehr in die "Neuen Wege" beraten.

Dann kamen wir auf die Kennzeichen unserer "Gruppe" überhaupt zu sprechen.

Hielten das Abweichen der Artmann-Gruppe von dieser ursprünglichen "Richtung" fest.

Objektivismus. Ueber die präzisen Formulierungen und das Unrecht, das man ihnen antut, wenn man sie als Zeichen der Gefühlskälte nimmt.

Ueber die Assoziatorik des Objektivisten: er betritt das Gebiet der Assoziationen wie einen Garten; der Subjektivist "macht" Assoziationen, wie eine Spinne ihren Faden macht; der Subjektivist nimmt die Inkommensurabilität der Assoziatoriken an, der Objektivist glaubt an die menschliche Gemeinsamkeit auch dieses Gebietes.

Gegen die ungebundene Lyrik odischen Charakters, die gewisse Formen pflegt, sich gesittet zu begeistern. /"und zu entrüsten"; Fritsch./

Der Objektivist ist weltoffen, er kann immer Ueberraschungen rechnen; anderseits steht er hilflos vor jeder neuen Erscheinung; wie ein Kind muss er den Ausdruck jedes Neuen erwerben.

Ueber schlechte Bildhaftigkeit gesprochen.


Mittwoch 27 5:

Zeichen von Müdigkeit. Nachmittags trübes Wetter.

Zuhause einen schönen Abend zu machen versucht.


Donnerstag 28 5:

Kühl. Tante ging auf Urlaub.


Freitag 29 5:

Trüber Morgen. Aufhören der Ausfuhrbewilligungen wurde gestern angekündigt. M. besuchte T. in der Adamsgasse. Ein Mädchen auf der Strassenbahn gesehen, die mir gefiel, Mama aber nicht gefiel. Einmal eine Geschmacksdifferenz.

Abends nach arbeitreichem und von Machwitz verhässlichtem Bürotag fuhr ich mit Briggi. Hatte sie in den ersten Minuten der Fahrt gar nicht erkannt. Sie erzählte mir von ihrer Reise. War in einem spanischen Fischerdorf, flog aber auch über Mallorca, hatte die Schweiz durchzogen, war entlang der Riviera gefahren /in Cannes werden die Palmen abends verschiedenfarbig beleuchtet/.


Gleich nach Mittag wieder auf die Wiese gegangen.

Ich habe einen Instinkt, ähnlich dem Instinkt der Tiere, dafür, ob ein bestimmter Mensch sich mit mir zusammenfinden könnte oder nicht.

Nachmittags auf der Wiese schon verschiedene Eindrücke, weil einige Menschengruppen in Sichtweite sassen. Kritischere Gedanken als am Vormittag.

Auf der Wiese zu liegen ist die einzige später nicht nachholbare Beschäftigung in meinem gegenwärtigen Leben. Darum gebe ich ihr vor allen anderen Beschäftigungen den Vorrang.

Ein etwa zweiunddreissigjähriger Mann klagte darüber, dass man heute die Eltern mehr als die Kinder erziehen wolle. Seine Frau mit Raubvogelgesicht hörte seiner schnarrenden Rede zu. Dann hielt er sich über die heutigen Frauen auf, die "oben" ziemlich unbedeckt auf die Wiese gehen. "Bitte, ein Mann kann schon ...", sagte er, "... aber eine Frau?!"

Es ist wahr, dass ein tierischer Ernst und eine ahnunglose Souveränität den schimpfenden Spiessbürger vom halbwegs intelligenten Ethiker unterscheide.


3 5 53

Halbschlafsymbol für meine Freude an der Erkenntnis, dass ich nicht leer bin sondern nur des Auslösenden bedarf, um mich mitzuteilen:

DER DROGIST MACHT EIN SCHELMISCHES GESICHT: "DIE DOSE IST VOLLGESTRICHEN MIT DER SALBE!"

Wacher Gedanke spät abends:

Mein Leben ist eine nasse Lunte zu einem herrlichen Dynamitfass.

29 5 53

Samstag 30 5:

Kein hatte das heutige Beisammensein abgesagt. /Er ist bei der Autorentagung in Linz./

Atelier Hofmann schickte mir, wie ich es erbeten hatte, eine Kopie, und zwar Photokopie, seines Plakates für die Firma Matzner, des besten Badetrikotplakates dieser Saison.

Ich entdeckte, dass wir kein Blatt Zellophan in unserer Wohnung haben, mit dem ich diese Photokopie hätte schützen können.

Wenn unsere Wohnung nicht so feucht wäre, würde ich gute Plakate an den Wänden aufziehen. Das habe ich von Matejka gelernt, und das ist sehr reizvoll.

Tante war hier und nahm Abschied. Sie fährt eine Woche nach Italien. Aber das Wetter ist schlecht.

Abends ausländische Sender abgehört. Orientalische Musik, ein russisches Programm, ein französisches Chanson aus einem schweizer Kabarettabend.


Sonntag 31 5:

Schlechtwetter. Ich lief trotzdem in den Garten der Krenekmädchen, um sicher zu gehen, dass ich niemand vergeblich warten lasse.

Tatsächlich waren das Mädchen und der Knabe schon dort.

Gleich begann es aber zu regnen, und wir gingen in die Wohnung des Mädchens hinauf. Dort unterhielten wir uns über Literatur; ich versuchte den Knaben dazu zu bringen, dass er sich über sich ausspräche, er blieb aber, wenn auch recht erfrischend sprechend, bei der Literatur. Das Mädchen ging, ausser in den Ausbrüchen ihres lebhaften Temperaments, ihrem Lachen und ihren Zustimmungen, noch weniger aus sich hinaus. Vielleicht war die Zeit des Kontaktes zu kurz, um mehr enthalten zu können als die Auswertung des konkreten Anlasses, die Mitteilung des Knaben über seine literarischen Vorlieben, und die Aufnahme jener einiger Prosastücke und des Gedichtes, die ich dem Mädchen und ihrem Freund zu lesen gab.

Der Knabe ist seit seinem fünfzehnten Lebensjahr von Sartre beeinflusst und seit einer späteren Zeit von Nietzsche. Das Mädchen scheint positiver begründet zu sein, erkennt also die Bindungen des Knaben /als vorübergehende/ nicht, ihn selbst als Person aber anscheinend ganz an.

Nachmittag Ordnungen und Tagebuch; rannte dabei der Jazzmusik in verschiedene Stationen nach. Sprach mich auch, zuhause, über vieles aus.


Mo 1 6:

Halsschmerzen im Büro.

Müde. Kleinere Streitigkeiten. Früh die Nachricht: Allgemeine Wehrpflicht in Westdeutschland. Weiters: Man "ist besorgt, dass eine Viererkonferenz der Europaarmee schaden könnte und damit der 'Integrierung Europas'".


Di 2 6:

Die Londoner sind verrückt auf die Krönung von Elizabeth II. /Vielleicht die letzte Krönung der Geschichte./

Mount Everest ist, der englischen Königin zum Geschenk, erstiegen worden.

Wir liessen es uns, unabhängig davon, gut gehen. Mama hatte einige verschiedene Stücke Käse gekauft; ich ass davon, zum ersten Mal seit meiner slovakischen Kindheit ass ich wieder mit aller Gründlichkeit Käse.


Mi 3 6:

Früh nur plus sechs Grad.

Ein Tag böser Arbeit im Büro. Abends wieder gut gegessen und Bier getrunken. Mama hatte ein ganzes Kilogramm Bananen gekauft. Sie hat das Talent zu ein bisschen extravagantem Wirtschaften. Mit meinen zwölfhundert Schilling leben wir, ohne freilich Gegenstände für das Haus anzuschaffen oder nachzukaufen, und ohne freilich Veranstaltungen zu besuchen, gut. Diese Art, zu geniessen, gefällt auch mir am besten: Die Freude an freundlicher Stimmung, an gutem Essen und Trinken, einfach und im kleinen Raum zu erleben.


Do 4 6, Feiertag:

Beginnt mit dunkelgrauem Himmel und Regen.

Wir pflückten ein paar Kirschen im Garten und schnitten einige blühende Sträucherzweige ab, um die Wohnung zu schmücken.

Noch immer krank. Hakelglossen geschrieben, später in alten Tagebüchern gelesen.


Fr 5 6:

Wollte erst nicht ins Büro gehen, ging dann aber doch. Volksgarten: Starker Sonnenschein mir entgegen, Krankheit—Geschmack in mir.

Glossen an Hakel abgesandt. Abends lang im Büro geblieben.


Sa 6 6:

Halsschmerzen. Musste im Büro Huber vertreten, die ihren freien Tag hatte. Hielt die beiden Diktatoren bis ein Uhr auf, da ich früher mit den Briefen nicht fertig wurde. /Es waren Briefe, die die Spedition betrafen, ein mir ziemlich fremdes Gebiet, und die mir unmenschlich spät in Auftrag gegeben worden waren./

Nachmittags kam Tante, von Italien zurück.


Zu mir kam mit der gleichen Strassenbahn Kein. Er erzählte vom Linzer Dreiländertreffen junger Autoren, bei dem sich zwei Gruppen geschieden hätten; grob eingegrenzt: Realisten und Aestheten. Die Grenze verläuft selbst durch unseren "Wiener Autorenkreis", zum Beispiel zwischen Kein und Ebner. Keins Prosa, die in Linz gelesen worden war, erschien Ebner und jenen, die Ebners Prosa lobten, zu wenig "hintergründig"; dieser Realismus sei überwunden, seit langem; momentan stehe das Magische in Mode.

Kein erzählte noch viel anderes, Charakteristisches und Episodisches, von seinem Linzer Aufenthalt.

Dann gingen wir meine Korrespondenz der letzten Zeit durch /Jandl, Polakovics, Fiechtner .../ und wünschten uns mehr Zeit, um die hier und da notierten und die im Gespräch aufblitzenden x einzelnen Ergebnisse zu einer Summe vereinigen zu können.


Dienstag, 26.5.:

Siehe Zettel


bis Sa, 6.6.:

Siehe Zettel


Sonntag, 7.6.:

Krank. Im Bett geblieben.

Früh den "Alten Mann und die See" gelesen.

Tagsüber, ohne zu arbeiten, im Bett gelegen. (Nur ein wenig Tagebuch geschrieben.) Draußen scheint es wärmer geworden zu sein.


Montag, 8.6.:

Krank.

Daheim geblieben.

Das Hakelbuch ist erschienen; ich weiß bis heute nicht, ob meine Beiträge dafür verwendet worden sind.

Eine Wohnung in Meidling, 4. Stock, Zimmer und Küche, wurde uns angeboten. Mama lehnte des 4. Stocks wegen ab. Frau Dwořak sagte uns, wir haben den Anspruch nur auf einen Raum. Also arge Verkleinerung in Sicht. (In unserer derzeitigen Wohnung haben wir zwar auch nur Zimmer und Küche, aber beide sind sehr groß; das Zimmer 7×10 Meter, wir haben fast ein Gebäude von Steinhof für uns.)

Nachmittag kam Tante, ging mit Mama spazieren, ich blieb allein in der Wohnung. Las das "Urteil" von Kafka und wieder Geschichten von Hahnl, dann nahm ich mir meine "P"-Mappen zum Bett. (Mutlos wieder vor dieser Menge an Zwischenergebnissen [Jahr 1949], die im Wesen zu richtig sind, als daß man sie ruhigen Gewissens vernichten könnte, deren jedes man aber stilistisch festigen müßte und schließlich in eine größere Ordnung einordnen.)

Draußen ist es heiß geworden; aber es ist dabei trüb und windig geblieben.


Dienstag, 9.6.:

Machte mir selbst eine Überraschung: Ging heute noch nicht ins Büro.

Früh aber, bei getrübtem Wetter, auf die Linzerstraße. Verbrachte mit Einkauf einen Morgen


Notizen 9 6 53:

Waffenstillstand in Korea in Sicht. Ziviler sowjetischer Hochkommissär in Oesterreich. Demarkationslinie gefallen.

Zwei "schicksalhafte" Begegnungen, die ich verschuldet habe: Polakovics - Hakel, Artmann - ArtClub.

wie jene sogenannten Haustöchterchen aus früheren Jahrhunderten, von denen uns die Geschichte der Zivilisation berichtet.

Kam müde heim und legte mich ins Bett.

Fritsch hatte ich für heute Abend abgesagt. Wenig Post. Tagebuch. Fühlte mich viel ausgeglichener als die letzten Tage.

Nachmittags allein. Sodawasser. P-Mappen. Gegen Abend Spaziergang um die Steinhofer Mauer. Noch schwach.


Mi 10 6 53:

Büro, EVE-Daten und Eintragungen, 15h heimgekommen.

Unsere Fensterrahmen werden frisch gestrichen. Fini Pobisch brachte den Gartenschlüssel (Kirschenernte!). Wir mußten abends die Kammer ausräumen, begannen auch, der nahen Übersiedlung wegen, auszumisten.

Bier geholt, Gedanken über die Spanne zwischen Präzision und Prägnanz.

Blauer Himmel, warm.


Do 11 6 53:

Klarer (grün und blau) Frühlingsmorgen.

Wegen dieser Spannung zwischen Krankheit, dem Erleben des Frühlings und dem Nichtbestimmendürfen über die eigene Zeit erinnern mich diese Tage an den Sommer 1944 in der Tatra, auf Bellevue und Hamalčik.

Fritz studiert jetzt Zeitungswissenschaften. Er übergab mir vier Artikel für die "Schau".

Abends kamen die Kretschmer (unsere "Hauptmieter", die aber nicht mit uns wohnen,) um für die Handwerker im Kabinett (das wir nicht benützen) Ordnung zu machen.

Wieder Halsschmerzen.

Kirschenernte war.


Fr 12 6:

Wäre gern zuhause geblieben. Trübes Wetter.

Lockerung in Ostdeutschland. Büro: zusätzliche 1200.- bekommen.


Sa 13 6:

Johann, der Patient, der dem Portier hilft, kam nach langer Krankheit wieder. Regen.

Büro etwas leichter.

Nachmittags niedergelegt.

Botschafteraustausch mit Rußland.

Lockerung des Regimes in Ostdeutschland und Näherung der deutschen Ost- und Westzonen. Einstein ruft auf gegen McCarthy.

Mädchengedanken.


So 14 6:

Im Bett geblieben, da ich noch nicht ganz gesund bin.

Genoß den Tag so, wie ich es konnte. Wolkiges Wetter.

Notizen von halbwegs allgemeiner Gültigkeit zu schreiben, gelang mir nicht.

P-Mappen.


Mo 15 6:

Heute würde ich gern daheim bleiben, auch im Bett würde ich in ausgeglichener Stimmung liegen können; dies ist keine psychologische Täuschung (Wertsteigerung infolge Unerreichbarkeit) sondern ergibt sich daraus, daß man, wenn man es mehrere Tage übt, viel von der Fähigkeit gewinnt, einen Tag auszuschöpfen.

Traf Briggi: Sie liest jetzt Laotse. Sie zeigt sich in letzter Zeit sehr mondän bekleidet und made up; man kann aber gut mit ihr sprechen.

Erstmals Tante wieder im Büro. Viel Arbeit, da außer Bauer, der seit Samstag auf Urlaub ist, auch Huber, die 107 Briefe in einer drängenden Angelegenheit zu schreiben hat, ausfällt.

Dennoch Rückstände aufgearbeitet.

Abends gingen wir noch Kirschen ernten. Krenek-Mädchen saß mit ihrem Geliebten im Nachbargarten (sie gingen dorthin, als die Sonne gesunken war). McCarthy nannte Einstein den "Feind Amerikas". Ich erinnerte mich abends einer Fieberzeit, da ich so durstig war, daß ich mich nach dem Himbeersaft sehnte, den es einmal im Tag gab. (Es war im deutschen Kinderlager, 1944.) Wermut, rot, getrunken.


Tagebuch

1953

AOk

260

Tagebuch

von ... Fr, 1 5 53

bis ... Mo, 15 6 53

Freitag, 1. Mai 1953:

Frei. Nicht immer trübes,
aber unverlässliches Wetter.
Zeitig, nach einem
ungewöhnlich deutlichen,
dabei klugen und
farbigen, Traum,
aufgestanden.

Zu Artmann. Fruchtlos
wie erwartet. Wir
besuchten Altmann, der
nun in der Starchant-
Siedlung
wohnt. Aber
es war der traditionelle
Maispaziergang.


Nachmittag Wendepunkt: Kein kam.

Froh, darüber, dass er heute und nicht morgen
mich besucht. So habe ich heute einen anregenden
und morgen einen ganzen freien Tag.

Ueber die Unmittelbarkeit als Kennzeichen der
heutigen Literatur gesprochen. Ueber die Frage,
ob frühere Dichter das Anliegen der Wiedergabe
nicht gekannt haben. Ob solche /Rückert, Platen .../
nicht gewollt haben, dass eine Rose, die sie nennen,
auch wirklich gesehen wird vom Leser und gerochen?
Ob sie sich damit begnügt haben, ein Sigel zu
     nennen ohne Wirklichkeitwert? Ob jene Zeiten die
Dichtung als ein Gesellschaftspiel betrachtet
haben? Man könnte doch vermuten, dass das
Anliegen der Wiedergabe ein zeitloses psycho-
logisches Phänomen ist.

Ueber Kafka, Toman, Hemingway und ihre Prosa.

Kein hat eine hgute             Erzählung geschrieben.

Ich liess ihn Sisyphos und Sonja lesen.

Ueber meine Sehnsucht nach der Synthese
der Lebensgefühle und meinene Abscheu vor der
althergebrachten Forderung, dass die Lebens-
gefühle zu trennen seien, g           /vor der Forderung nach
       "reiner Tragik" zum Beispiel und
"abgeklärtem Humor",/ gesprochen.

Abends in gereinigter Laune. Einen schönen
Abend verbracht. Mit Mama noch zum Fenster
hinaus gesehen.                Es ist warm draussen.

NJe schöner die Jahreszeit wird, desto wilder
wird mein Wunsch nach einer Freundin.


/Traum:/

Es beginnt mit einer endlosen Liftfahrt. Vom Erdgeschoss
aus steuere ich, von Stockwerken aufwärts und abwärts
lenkt mich eine ältere Frau. Einmal befiehlt sie mir
sogar, um ein Stockwerk höher hinauf zu fahren als sie
es vortastet, weil eine Ankunftstelle gestört ist.
Die Auf- und Abfahrten werden geregelt durch ein
verborgenes System, das durch Butter und Schmalz
bestimmt ist.

Im Erdgeschoss hole ich Gerhard Fritsch zur Liftfahrt ab.
Ich schicke die Liftzelle jedoch irrtümlich in das
Kellergeschoss, und wir müssen warten, bis sie wieder
heraufgesandt wird. Zwischen Keller und Erdgeschoss
bleibt sie für kurze Zeit stecken. Endlich ist sie
in unserer Höhe, und wir steigen ein.

Einmal eine bezaubernde Stimmung im Lift, mit einem Mädchen,
von der ich aber weiss, dass sie nur Trugbild meiner
intensiven Wünsche ist.

"Es gibt eine Reihe schöner, ruhiger Kunstwerke ..."
/dazu Lichtbilder, farbig/

"... aber das Höllenklima verweht die zärtlichsten
Liebesworte."

2

"Ich möchte wissen, ob man Liebe zugleich gross und klein
sehen kann ..."

Bild: Schweinsbraten in einer Reine auf dem Tisch.
Nahe davon ein Mädchen nackt, sinnlich, verträumt:
"Ich werde versuchen, das Blickfeld etwas zu erweitern."

Ich schaue, um die Probe zu machen, während dieser Worte
auf den Schweinsbraten.

Sie: "O, wie gemein ...!"

Jean Paul Sartre tritt, wie zu einem Kongress, zur Tür
herein. Wir befragen ihn über die Welt und die Hölle.

Sartres Antwort: "Die Welt versteht unter Welt Welt, und
bis dorthin reicht meine Kompetenz."

/Anschliessend wache ich auf./

1 5 53, 5 Uhr früh;
Gesprochene Sätze knapp nach dem
Erwachen wörtlich aufgeschrieben.

Den Traum knapp nach dem Aufwachen kurz notiert. Gesprochene
Sätze wörtlich niedergeschrieben.

Die Notiz verarbeitete ich, noch recht frisch, zu einem
Bericht.

Während der Reinschrift schon die Unmittelbarkeit verloren
und den Bericht plötzlich literarisch angesehen. /Es geht mir
wie schon unlängst bei meinem Gedicht "Im hohen Vormittag"./
/Das Nächste und Schönste wird mir, weil ich daran feile,
nach kurzer Zeit verabscheuenswert, verloegen, verhasst, und
wenn sich der Aerger gelegt hat, bleibt der Eindruck zurück,
dass es gar nicht festhaltenswert war. Alles verbrennt mir
so zu Asche. Ich habe eine verfluchte Hand./

Zwei Tage unter ohnmächtigem Hassgefühl umgearbeitet und
gestrichen, unterbrochen von hemmungslosen Zornausbrüchen.
Ich habe keinen Boden unter meinen Füssen. Ich korrigiere
auf kein Ziel hin, das ist das Furchtbare. Nicht auf Prägnanz
und nicht auf Gerundetheit hin. Einen Satz kürze ich bis zur
Telegraphierbarkeit, einen anderen fülle ich, bis er logisch
vollständig wird /so wie kein Mensch auf der Welt redet;
voll der überflüssigsten Einschränkungen, Erjklärungen,
Pedatnterien/, wonach dann der Satz eine halbe Seite lang
wird.


/2 5 53/

Den Rest des ersten Mai teilweise uneingedenk dieses
bösen Artikels, dessen Inhalt ich so liebe, verbracht,
/inmitten von viel Flieder; wir haben aus mehreren Gärten
ihn geschenkt bekommen/, teilweise eingedenk des Artikels
und zornblind gegen alle Schönheit. So auch eingeschlafen.

Den 2. Mai, Samstag, hatte ich wieder frei. Verschiedene Arbeiten
für das Haus. Vormittag, als ich die Wäsche von Hütteldorf
holte, noch heiss, so dass ich schwitzend zuhause ankam. Später wurde
es trüb. Dann wieder,        bisauf zum Höhepunkt des Zornes, geschrieben.

x) Strafverschärfungen: Daß dabei die Zeit, die wertvolle Zeit,
vergeht. Daß ich dabei alles Schöne der Jahreszeit
verliere. Daß ich dabei lächerlich        gereizt werde, wie ein
MANN, dem das Schuhband reißt. Daß ich
hundert kluge Arbeiten für eine solches schwieriges
aber nebensächliche hingebe. (Tu ich es nicht, so
bleibt sie mir im Magenauf dem Gewissen liegen, als baue ich mein ganzes
Leben auf einem trügerischen unterminierten Grund:
es ist der Grund der ursprünglichenMein Ursprung
ist die
Unbegabung.)

Jetzt beruhige ich mich, vielleicht vorübergehend.


Mo 4 5:

Kursangleichung, Aufhören
der Kopplungsgeschäfte.

Zahnarzt.


Di 5 5:

Ein abstoßender Menschenschlag:
das Luder ohne Anmut:
Hur und zugleich
bissige Beamtin.


Mi 6 5:

Machwitz fährt nach Deutschland.





Es kam überraschend.)

Ich mußte abends lang im Büro
bleiben, obwohl ich keinen
Spätdienst hatte.

Diese Tage ist es wieder kalt.


Do 7 5:

Kaltes Wetter, wie gestern.
Kastanienkerzen blühen.

Machwitz teilweise ersetzt.
Zeitiger heim.

Zuhause gibt es Obstschnaps.


Fr 8 5:

Im Büro lebhaft. Arbeit aber
großteils auf mich beschränkt.
Acht Uhr heim.


Sa 9 5:

Letzter Halbtag ohne Machwitz.
Zuhaus entspannte ich mich.

Noch rauhere Kälte als
an den vergangenen Tagen.
Wolkenbrüche.

Über den Himmel schoß
vormittags ein stabförmiges
Flugzeug; so hoch es
flog, so stark erschütterte
sein Lärm den Boden.
Ich denke an die Wirklichkeit
des Kriegs.

                   







Nachmittag photographiert.
Korrespondenzen.


So 10 5:

Lang im Bett gelesen.
Etwas Englisch gelernt,
Kafka Eisenbahnfahrt,

vormittags Jandl einen
komplizierten Brief
geschrieben, den ich
später wegwarf.

Nachmittags Kafkas
Strafkolonie vorgelesen.
Starker, drückender quälender Eindruck.
Danach Van Gogh, Klee
angeschaut und
"Schnee auf dem Kili-
mandscharo
" gelesen.

Kalt (+2°!), Regen,
Hagel, abends Schnee.

Abends Wutausbruch
in die Schreibmaschine.
Alte Notizen danach
weggeworfen.

Wieder nichts gesagt.


Mo 11 5:

Tiefpunkt. Nach regnerischer,
stürmischer Nacht
schwergrauer Morgen.

Einen guten kurzen Brief
an Jandl geschrieben.

Im Büro wieder Machwitz,
alter Betrieb.

Abends Zahnarzt vorletztes
Mal.

Ich hätte große Lust,
"In der Strafkolonie" zu
verfilmen; wenn ich
Zeit hätte, würde ich
ein Exposé versuchen.

x Vielleicht für Steinwendner.


Di 12 5:

Die Unterhaltung mit dem
Mesozoiker von neulich
in der Früh wieder
aufgegriffen. Kaum
in Schwung, mußte ich
des Tagbeginns wegen
aufhören.

Nach trübendem Bürotag
ein Abend bei Fritsch.

(Die 62-er Wagen haben
jetzt freundliche Platt-
formen, hohe Fenster,
die schon sehr weit unten
beginnen. Auch ist die
Fahrt in der lichten
Jahreszeit lieber als
die im Winter.)

Anregendes Gespräch.

1) Über die Herkunft des
konkreten Gedichts der
letzten Jahrzehnte 2) Über die Statthaftigkeit
von Hilfs-Weltanschauungen.

Mi 13 5:

Kalt, jetzt schon
gesteigert durch die
"Eismänner"-Kälte.

Wollte gern Eliot weiter
übersetzen.

Abends unerwartet
freundlichen Brief
von Prof. Fiechtner.
Wein.


Do 14 5
FEIERTAG:

Lang im Bett geblieben. Beim Aufwachen glaubte ich,
es ist schön draußen,
in Wirklichkeit war
es wieder wolkig, windig,
kalt.

Ich las Kafkas "Verwandlung"
und fachliche Artikel
in den letzten "Neuen Wegen".
Während des Lesens
(das mir Freude
bereitet) hatte ich
Nebengedanken; ich
bin           
anscheinend überanstrengt.

Wußte, daß ich heute
nichts von den vielen möglichen Arbeiten
zuwegebringen würde.
Zu viel Möglichkeiten,
zu wenig Breite.

Ich habe keine Zeit,
mich zu entfalten.

Ein paar Ordnungen,
viel gelesen, ein bißchen
Eliot übersetzt, ein
bißchen photographiert.

Brief an Polakovics begonnen.

Am 3. Mai habe ich drei
Wünsche formuliert: 1) Gefährtin 2) Fünftagewoche 3) literarische Zukunftaussicht.

Freitag, 15.5:

Fiechtnerbrief konzipiert
(den Anfang). Hätte große
Lust gehabt, prompt
mit der Wirkungsanalyse,
dem Wirkungsvergleich und der Entstehungspsycho-
logie draufloszuarbeiten.

Statt dem: Büro, lang,
bis in den Abend.

Daheim entspannt.


Samstag:16.5.53

Es ist warmheiß
geworden.

Nm. mit Kein weit
spaziert. (Schutzhaus
Satzberg
). Gute
Hurenprosa.

Von Pol kam mittags
eine grobe, aber freundlich
gemeinte,
Karte.

Abends zuhause
kühl.

Brief an Pol (noch
ohne Rücksicht auf
seine Karte) fertig
konzipiert.


17.5.53
Sonntag:

Froh über das
schöne Wetter auf-
gewacht. Am Brief noch ein wenig
gebastelt.

Schade, daß ich in diesen
schönen Jahren nicht
mit einem Mädchen leben
kann. Ich habe Sehnsucht
nach ihrer liebenden
Antwort.

Vormittags auf die Wiese.
Mama blieb auch eine Zeitlang.
Gutes Essen, nachmittags


wieder auf die Wiese gegangen. Polakovics-Brief fertig geschrieben.









18.5.53 Mo

letztes Mal beim Zahnarzt. Auf dem Rückweg von
ihm weihte ich die neue Straßenbahnlinie:,
G2, ein.


Di

wieder ein heißer Tag. Die Arbeit im Büro
läßt leicht nach. Dr. M. und auch die anderen
Arbeitverteiler werden müde.

Zuhause machten wir uns einen schönen Abend.


Mi

Wie lange schon die Kastanien blühen.

In der Früh las ich einen Essay (in einer
"Neuen Rundschau" aus dem Jahr 1950)
über Don Quijote und Faust, aus der Per-
spektive der Lebensabsurdität angesichts der
Sterblichkeit.

Während des Vormittags nahm die Arbeit im Büro
wieder zu.

Dieser Tage bin ich über die verlorene
Zeit, namentlich des Frühjahrs, nicht erregt,
sondern ich nehme den Verlust, leicht müde, hin.


Mo, 18.5.:

siehe Zettel.


Mi 20.5.:

Freundlicher Abend.

Ein Brief von Dr. Häussler
kam.


Do 21.5.:

Dachte über den Häussler-
Brief nach.

Viel Arbeit im Büro.


Fr 22.5.:

Letzter Bürotag vor
Pfingsten. Häussler-
Brief abgesandt.
Fiechtner-Brief weiter.
Im Büro fast alle
Rückstände aufgearbeitet.
Abends freute ich mich
sehr.

Bier.

Ein verärgerter Brief von
Polakovics, Abgründe
aufreißend, wie es seine
Art ist, kam.

Ich konzipierte gleich
die Antwort, beruhigend.

Wir gingen um die
Steinhofer Mauer und
setzten uns sogar
im Garten des Schutzhauses
nieder; es war allerdings
noch ein wenig kühl.

Schöner Tag.


Sa, 23.5.:

Schöner freier Tag.

Nm. Wiese. Zeitig kehrte
ich zurück.

Nach vier Uhr verleitete
ich Mama zu einem
Spaziergang die Wiental-
straße
hinauf. Flücht-
lingslager
, kleiner Bach
und Wasserfall, Bahndamm,
Umkehr, dann von der
Brauhausbrücke aus den
gewohnten Weg gegen
Hadersdorf zu gegangen. Das Umspannwerk erstmals
gesehen und die nun
elektrifizierte Bahn.
Als die Sonne sank,
umgekehrt. Das Wienfluß-
bett
nahe Hadersdorf
ist jetzt gepflegt, grasig.
Kleine giftgrüne, fast
fluoreszierende Blättchen
erinnern an den
sumpfigen Grund. Ein
junges Reptil, ich glaube:
Blindschleichlein, huschte
über unseren Weg.
Viele Badende, die aller-
dings gegen Sonnen-
untergang Schluß machten
aus dem Wasser stiegen. Die braunhäutigen Männer,
die in den Schrebergärten
arbeiteten, waren mit
dem Rosa des Abendlichts
übergossen.

Wir kauften uns d   
eiskaltes Bier vom
Westermayer (dessen
Kühlschrank auch nachts
eingeschaltet bleibt)
und fühlten uns
zuhause sehr wohl.
Ich aß vom geblumten
Teller und sehnte mich
nach einer Freundin,
mit der ich gerne auf
großblumigem Bettzeug
gelegen hätte.


Pfingstsonntag,
24.5.53:

Die Familie Pobisch lieh
uns den Gartenschlüssel;
ich sonnte mich und
nahm mir aktuelle
Schriften und "Philosophie"-
Mappe mit.

Ich konzipierte den
Fiechtner-Brief und
brachte das Fragment
"Im hohen Vormittag"
in den endgültigen
Zustand. Nebenan
weideten die Krenek-
Mädchen.

Daheim waren Tante und
Paul. Ich ging aber
bald nach Mittag wieder
in den Garten. Dort
begann ich eine über-
mütige Prosa ("Ein
Knabe und ein Mädchen
schreiben eine Pornographie.
").

Unterbrach die Arbeit
(die Kirschen oben sind
grün; matteres Grün
des Blattwerks), ging
nach Haus. Abends
war ich nicht mehr im
Garten, schrieb auch
nicht mehr. Dafür
entwickelte sich auf meiner Haut ein
ansehnlicher Sonnenbrand.
Legte mich seinetwegen
bald ins Bett, wir
sprachen aber noch
lange, von der Zeit,
als wir in der
Tschechoslowakei gewohnt
hatten.


Pfingstmontag,
25.5.:

Man sieht, wieviel man
ausarbeiten könnte, wenn
man freie Zeit genug
hätte. Einstweilen würden
mir genügen die



Samstage und Sonntage
einer Fünftagewoche.

Setzte mich vormittags wieder
in den Garten, schrieb aber
nichts.

Das größere Krenek-Mädchen
lud mich für kommenden
Sonntag in ihren Garten ein;
ein Schulkollege von ihr
will mich, sagt sie, wegen meiner
Gedichte in den "Neuen Wegen"
kennenlernen.

Nachmittags setzte ich mich
mit den "Philosophie"-Mappen
wieder ins Grüne, stilisierte
einzelne Zettel um oderund
schied andere aus. Bald
trübte es ein, und es
donnerte ein wenig. Ich
ging nach Haus.

Die einzelnen Zettel müßten
erst in sich gereinigt,
dann gegeneinandergehalten
werden, wobei die
Wiederholungen ausfallen
würden.

Abends wurde mir angesichts
der Mappe von 1949 unheimlich: Dieses
intensive Sich-Befassen
mit der Theorie jener
Dinge, die heute nur ab und
zu aus einem Verslein
auftauchen. Ein ganzes
ethisches System ausgearbeitet und überlebt;
heute kommt es mir vor, als
hätte ich auf diesem
Gebiet nichts zu sagen;
ich dürfte mich
aus-gesprochen haben.
Dabei niemandem zur Kenntnis,
zur Anregung und zum
Nutzen; ich habe wahrscheinlich zu früh
begonnen.

Auch meine engsten literari-
schen Freunde kennen
nicht dieses Fundament,
ich existiere für sie,
anscheinend wurzellos,
erst seit 1950.

Werde ich die Kraft und
die Zeit und die    
Voraussetzungen
haben,
noch einmal mich, den Leuten
sichtbar, zu fundieren?
Bin ich selbst noch der
Alte? x) Bin ich demoralisiert
worden oder
Hüte ich mich nur
vor einer zweiten
Zwischen-Addition?


Dienstag 26 5 1953 :

Fritsch. Ueber die Bedin
gungen einer Rückkehr in die
"Neuen Wege" beraten.

Dann kamen wir auf die
Kennzeichen unserer "Gruppe"
überhaupt zu sprechen.

Hielten das Abweichen der
Artmann-Gruppe von dieser
ursprünglichen "Richtung"
fest.

Objektivismus. Ueber die
präzisen Formulierungen und
das Unrecht, das man ihnen
antut, wenn man sie als Zeichen
der Gefühlskälte nimmt.

Ueber die Assoziatorik des
Objektivisten: er betritt
dieas Gebiet der Assoziationen
wie einen Garten; der Sub-
jektivist "macht" Assozia-
tionen, wie eine Spinne ihren
Faden macht; der Subjektivist
nimmt die Inkommensurabilität
der Assoziatoriken an, der
Objektivist glaubt an die
menschliche Gemeinsamkeit auch
auf diesems Gebiet.es.

Gegen die ungebundene Lyrik
odischen Charakters, die
gewisse Formen pflegt, sich
gesittet zu begeistern.
/"und zu entrüsten"; Fritsch./

Der Objektivist ist weltoffen,
er kann immer    mit Ueberraschun-
gen rechnen; anderseits steht er hilflos vor jeder neuen Er-
scheinung; wie ein Kind muss er
         den Ausdruck jedes Neuen erwerben.

Ueber schlechte Bildhaftigkeit
gesprochen.


Mittwloch 27 5:

Zeichen von Müdigkeit.
Nachmittags trübes Wetter.

Zuhause einen schönen Abend zu
machen versucht.


Donnerstag 28 5:

Kühl. Tante ging auf Urlaub.


Freitag 29 5:

Trüber Morgen. Aufhören der
Ausfuhrbewilligungen wurde gestern
angekündigt. M. besuchte T. in der
Adamsgasse. Ein Mädchen auf der
Strassenbahn gesehen, die mir gefiel,
Mama aber nicht gefiel. Einmal eine
Geschmacksdifferenz.

Abends nach arbeitreichem und
von Machwitz verhässlichtem
Bürotag fuhr ich mit Briggi.
Hatte sie in den ersten Minuten
der Fahrt gar nicht erkannt.
Sie erzählte mir von ihrer Reise.
War in einem spanischen Fischerdorf,
flog aber auch über Mallorca,
hatte die Schweiz durchzogen, war
entlang der Riviera gefahren
/in Cannes werden die Palmen abends
verschiedenfarbig beleuchtet/.


Gleich nach Mittag wieder auf die Wiese
gegangen.

Ich habe einen Instinkt, ähnlich dem Instinkt der Tiere,
dafür, ob ein bestimmter Mensch sich mit mir            zusammenfinden
könnte oder nicht.

Nachmittags auf der Wiese schon verschiedene
Eindrücke, weil einige Menschengruppen
in Sichtweite sassen. Kritischere Gedanken
als am Vormittag.

Auf der Wiese zu liegen ist die einzige später nicht
nachholbare Beschäftigung in meinem gegenwärtigen Leben.
Darum gebe ich ihr vor allen anderen Beschäftigungen
den Vorrang.

Ein etwa zweiunddreissigjähriger Mann
klagte darüber, dass man heute die Eltern
mehr als die Kinder erziehen wolle. Seine
Frau mit Raubvogelgesicht hörte seiner
schnarrenden Rede zu. Dann hielt er sich
über die heutigen Frauen auf, die "oben"
ziemlich unbedeckt auf die Wiese gehen.
"Bitte, ein Mann kann schon ...", sagte er,
"... aber eine Frau?!"

Es ist wahr, dass ein tierischer Ernst und eine ahnunglose
Souveränität den schimpfenden Spiessbürger vom halbwegs
intelligenten Ethiker unterscheidetn.







3 5 53

Halbschlafsymbol für meine Freude an der Erkenntnis,
dass ich nicht leer bin sondern nur des Auslösenden
bedarf, um mich mitzuteilen:

DER DROGIST MACHT EIN SCHELMISCHES GESICHT:
"DIE DOSE IST VOLLGESTRICHEN MIT DER SALBE!"

Wacher Gedanke spät abends:

Mein Leben ist eine nasse Lunte zu einem herrlichen
Dynamitfass.

29 5 53

Samstag 30 5:

Kein hagtte das heutige Bei-
sa  mmensein abgesagt. /Er ist
bei der Autorentagung in Linz./

Atelier Hofmann schickte mir,
wie ich es erbeten hatte,
ein  e Kopie, und zwar Photokopie,
seines Plakates für die Firma
Matzner
, des besten Badetrikot-
plakates dieser Saison.

Ich entdeckte, dass wir kein
Blatt Zellophan in unserer
Wohnung haben, mit dem ich
diese Photokopie hätte schützen
können.

Wenn unsere Wohnung nicht so
feucht wäre, würde ich gute
Plakate an den Wänden auf-
ziehen. Das habe ich von
Matejka gelernt, und das ist
sehr reizvoll.

Tante war hier und nahm
Abschied. Sie fährt eine Woche
nach Italien. Aber das Wetter
ist schlecht.

Abends ausländische Sender
abgehört. Orientalische Musik,
ein russisches Programm, ein
französisches Chanson aus
einem schweizer Kabarettabend.


Sonntag 31 5:

Schlechtwetter. Ich lief
trotzdem in den Garten der
Krenekmädchen, um sicher zu
gehen, dass ich niemand ver-
geblich warten lasse.

Tatsächlich waren das Mädchen und der
Knabe schon dort.

Gleich begann es aber zu regnen, und
wir gingen zu dem Mädchen in die
Wohnung des Mädchens hinauf. Dort
unterhielten wir uns über Literatur;
ich versuchte den Knaben dazu zu bringen,
dass er sich über sich ausspräche, er
blieb aber, wenn auch recht erfrischend
sprechend, bei der Literatur. Das Mädchen
ging, ausser in den Ausbrüchen ihres
lebhaften Temperaments, ihrem Lachen und
ihren Zustimmungen, noch weniger
aus sich hinaus. Vielleicht war die
Zeit des Kontaktes zu kurz, um mehr
enthalten zu können als die Auswertung
des konkreten Anlasses, die Mitteilung
des Knaben über seine literarischen
Vorlieben, und die Aufnahme jener
einiger Prosastücke und des Gedichtes,
die ich dem Mädchen und ihrem Freund
zu lesen gab.

Der Knabe ist seit seinem fünfzehnten
Lebensjahr von Sartre beeinflusst und
seit einer späteren Zeit von Nietzsche.
Das Mädchen scheint positiver begründet
zu sein, erkennt also die Bindungen des
Knaben /als vorübergehende/ nicht, ihn
selbst als Person aber anscheinend
ganz an.

Nachmittag Ordnungen und Tagebuch;
rannte dabei der Jazzmusik in ver-
schiedene Stationen nach. Sprach mich
auch, zuhause, über vieles aus.


Mo 1 6:

Halsschmerzen im Büro.

Müde. Kleinere Streitigkeiten.
Früh die Nachricht: Allgemeine
Wehrpflicht in Westdeutschland. Weiters:
Man "ist besorgt, dass eine
Viererkonferenz der Europaarmee
schaden könnte und damit der
'Integrierung Europas'".


Di 2 6:

Die Londoner sind verrückt auf
die Krönung von Elizabeth II.
/Vielleicht die letzte Krönung
der Geschichte./

Mount Everest ist, der englischen
Königin zum Geschenk, erstiegen
worden.

Wir liessen es uns, unabhängig
davon, gut gehen. Mama hatte
einige verschiedene Stücke Käse
gekauft; ich ass davon, zum
ersten Mal seit meiner slovakischen
Kindheit ass ich wieder mit aller
Gründlichkeit Käse.


Mi 3 6:

Früh nur plus sechs Grad.

Ein Tag böser Arbeit im Büro.
Abends wieder gut gegessen und
Bier getrunken. Mama hatte ein
ganzes Kilogramm Bananen gekauft.
Sie hat das Talent zu ein bisschen
extravagantem Wirtschaften. Mit
meinen zwölfhundert Schilling
leben wir, ohne freilich Gegen-
stände für das Haus anzuschaffen
oder nachzukaufen, und ohne freilich
Veranstaltungen zu besuchen,
gut. Diese Art, zu geniessen,
gefällt auch mir am besten: Die Freude an freundlicher Stimmung,
an gutem Essen und Trinken, einfach
und im kleinen Raum zu erleben.


Do 4 6, Feiertag:

Beginnt mit dunkelgrauem
Himmel und Regen.

Wir pflückten ein paar Kirschen
im Garten und schnitten einige
blühende Sträucherzweige ab, um die
Wohnung zu schmücken.

Noch immer kran,k. Hakelglossen
geschrieben, später in alten
Tagebüchern gelesen.


Fr 5 6:

Wollte erst nicht ins Büro gehen,
ging dann aber doch. Volksgarten:
Starker Sonnenschein mir entgegen,
Krankheit—Geschmack in mir.

Glossen an Hakel abgesandt. Abends
lang im Büro geblieben.


Sa 6 6:

Halsschmerzen. Musste im Büro
Huber vertreten, die ihren freien
Tag hatte. Hielt die beiden
Diktatoren bis ein Uhr auf, da
ich früher mit den Briefen nicht
fertig wurde. /Es waren Briefe, die
die Spedition betrafen, ein mir ziemlich
fremdes Gebiet, und die mir unmenschlich
spät in Auftrag gegeben worden waren./

Nachmittags kam Tante, von Italien
zurück.













Zu mir kam mit der gleichen Strassenbahn
Kein. Er erzählte vom Linzer Dreiländer-
treffen junger Autoren, bei dem sich
zwei Gruppen geschieden hätten;
grob eingegrenzt: Realisten und
Aestheten. Die Grenze verläuft selbst
durch unseren "Wiener Autorenkreis",
zum Beispiel zwischen Kein und Ebner.
Keins Prosa, die in Linz gelesen
worden war, erschien Ebner und
jenen, die Ebners Prosa lobten, zu
wenig "hintergründig"; dieser Realismus
sei überwunden, seit langem; momentan
stehe das Magische in Mode.

Kein erzählte noch viel anderes,
Charakteristisches und Episodisches,
von seinem Linzer Aufenthalt.

Dann gingen wir meine Korrespondenz
der letzten Zeit durch /Jandl,
Polakovics, Fiechtner .../ und wünschten
uns mehr Zeit, um die hier und da
notierten und die im Gespräch aufblitzen-
den x einzelnen Ergebnisse zu einer Summe vereinigen
zu können.


Dienstag, 26.5.:

Siehe Zettel


bis Sa, 6.6.:

Siehe Zettel


Sonntag, 7.6.:

Krank. Im Bett geblieben.

Früh den "Alten Mann und
die See
" gelesen.

Tagsüber, ohne zu arbeiten,
im Bett gelegen. (Nur ein
wenig Tagebuch geschrieben.)
Draußen scheint es wärmer
geworden zu sein.


Montag, 8.6.:

Krank.

Daheim geblieben.

Das Hakelbuch ist erschienen;
ich weiß bis heute nicht, ob
meine Beiträge dafür
verwendet worden sind.

Eine Wohnung in Meidling,
4. Stock, Zimmer und Küche,
wurde uns angeboten.
Mama lehnte des 4. Stocks
wegen ab. Frau Dwořak
sagte uns, wir haben
den Anspruch nur auf
einen Raum. Also arge
Verkleinerung in Sicht.
(In unserer derzeitigen
Wohnung haben wir zwar auch nur Zimmer und Küche,
aber beide sind sehr groß;
das Zimmer 7×10 Meter,
wir haben fast ein Gebäude
von Steinhof für uns.)

Nachmittag kam Tante, ging mit
Mama spazieren, ich blieb allein
in der Wohnung. Las das
"Urteil" von Kafka und
wieder Geschichten von Hahnl,
dann nahm ich mir meine
"P"-Mappen zum Bett.
(Mutlos wieder vor dieser
Menge an Zwischenergebnissen
[Jahr 1949], die im Wesen zu richtig
sind, als
daß man sie ruhigen Gewissens vernichten könnte, deren jedes
man aber stilistisch festigen
müßte und schließlich in
ein                 e größere Ordnung ein-
ordnen.)

Draußen ist es heiß geworden;
aber es ist dabei trüb und
windig geblieben.


Dienstag, 9.6.:

Machte mir selbst eine
Überraschung: Ging heute
noch nicht ins Büro.

Früh aber, bei getrübtem Wetter,
auf die Linzerstraße.      Verbrachte

mit Einkauf einen Morgen


Notizen 9 6 53:

Waffenstillstand in Korea
in Sicht. Ziviler sowjetischer
Hochkommissär in Oe  sterreich.
Demarkationslinie gefallen.

Zwei "schicksalhafte"
Begegnungen, die ich ver-
schuldet habe: Polakovics - Hakel, Artmann - ArtClub.

wie jene sogenannten
Haustöchterchen aus früheren
Jahrhunderten,          von denen


uns die Geschichte der
Zivilisation berichtet.

Kam müde heim und legte
mich ins Bett.

Fritsch hatte ich für heute Abend
abgesagt. Wenig Post. Tagebuch.
Fühlte mich viel ausge-
glichener als die letzten Tage.

Nachmittags allein. Sodawasser.
P-Mappen. Gegen Abend
Spaziergang um die Steinhofer
Mauer
. Noch schwach.


Mi 10 6 53:

Büro, EVE-Daten und Eintragungen,
15h heimgekommen.

Unsere Fensterrahmen werden frisch
gestrichen. Fini Pobisch brachte
den Gartenschlüssel (Kirschen-
ernte!),. Wir mußten abends
die Kammer ausräumen,
begannen auch, der nahen
Übersiedlung wegen, auszu-
misten.

Bier geholt, Gedanken über
die Spanne zwischen Präzision
und Prägnanz.

Blauer Himmel, warm.


Do 11 6 53:

Klarer (grün und blau)
Frühlingsmorgen.

Wegen dieser Spannung zwischen
Krankheit, dem Erleben des
Frühlings und dem Nicht-
bestimmendürfen über die eigene
Zeit erinnern mich diese Tage
an dieen Sommer 1944 in der
Tatra, auf Bellevue und
Hamalčik.

Fritz studiert jetzt Zeitungs-
wissenschaften. Er übergab
mir vier Artikel für die
"Schau".

Abends kamen die Kretschmer (unsere
"Hauptmieter", die aber nicht
in unserer
nicht mit uns
wohnen,) um für die Hand-
werker inm ihrem Kabinett
(das wir nicht benützen)
Ordnung zu machen.

Wieder Halsschmerzen.

Kirschenernte war.


Fr 12 6:

Wäre gern zuhause geblieben.
Trübes Wetter.

Lockerung in Ostdeutschland.
Büro: zusätzliche 1200.- bekommen.


Sa 13 6:

Johann, der Patient, der dem Portier hilft, kam nach langer Krankheit wieder.
Regen.

Büro etwas leichter.

Nachmittags niedergelegt.

Botschafteraustausch mit
Rußland.

Lockerung des Regimes in
Ostdeutschland und Näherung
der deutschen Ost- und Westzonen.
Einstein ruft auf gegen McCarthy.

Mädchengedanken.


So 14 6:

Im Bett geblieben, da ich noch
nicht ganz gesund bin.

Genoß den Tag so, wie ich es
konnte. Wolkiges Wetter.

Notizen von         halbwegs allgemeiner
Gültigkeit zu schreiben, gelang
mir nicht.

P-Mappen.


Mo 15 6:

Heute würde ich gern daheim
bleiben, auch im Bett würde
ich in ausgeglichener Stimmung
liegen können;               dies ist keine
psychologische Täuschung /Sehnsucht
                        (Wertsteigerung infolge Uner-
reichbarkeit) sondern ergibt sich daraus, daß man,
wenn    man es mehrere Tage übt,
viel von der Fähigkeit gewinnt,
einen Tag auszuschöpfen.

Traf Briggi: Sie liest jetzt Laotse.

Sie zeigt sich in letzter Zeit sehr

mondän bekleidet und
made up; man kann aber
gut mit ihr sprechen.

Erstmals Tante wieder im Büro.
Viel Arbeit, da außer Bauer,
der seit Samstag auf Urlaub ist,
auch Huber, die 107 Briefe in
einer drängenden Angelegenheit
zu schreiben hat, ausfällt.

Dennoch Rückstände aufgearbeitet.

Abends gingen wir noch
Kirschen ernten. Krenek-Mädchen
saß mit ihrem Geliebten im
Nachbargarten (sie gingen dorthin,
als die Sonne gesunken war).
McCarthy nannte Einstein den
"Feind Amerikas". Ich
erinnerte mich abends einer
Fieberzeit, da ich so durstig
war, daß ich mich nach dem
Himbeersaft sehnte, den es
einmal im Tag gab. (Es war
im deutschen Kinderlager,
1944.) Wermut, rot, getrunken.


Zitiervorschlag

Okopenko, Andreas: Tagebuch 01.05.1953–15.06.1953. Digitale Edition, hrsg. von Roland Innerhofer, Bernhard Fetz, Christian Zolles, Laura Tezarek, Arno Herberth, Desiree Hebenstreit, Holger Englerth, Österreichische Nationalbibliothek und Universität Wien. Wien: Version 1.1, 15.1.2019. URL: https://edition.onb.ac.at/okopenko/o:oko.tb-19530501-19530615/methods/sdef:TEI/get?mode=p_1

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