Notizbücher
Peter Handkes Notizbücher aus den Jahren 1971 bis 1990 sind textgenetisch einzigartige Quellen im Arbeits- und Schreibprozess des Autors und ein bedeutender Bestandteil des Vorlasses. Sechs der insgesamt 78 für die Forschung zugänglichen Notizbücher sind Teil der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, zwei werden in der Sammlung Schafroth am Schweizer Literaturarchiv in Bern aufbewahrt. Der größere Bestand wurde vom Deutschen Literaturarchiv Marbach angekauft, befindet sich in Kopie aber ebenfalls am Literaturarchiv der ÖNB. Einzelne Notizbücher, die nicht in den Beständen der öffentlichen Archive verzeichnet sind, sind entweder verloren gegangen oder wurden von Handke an Freunde (zum Beispiel an den Verleger Siegfried Unseld) verschenkt.
Die Notizbücher sind Dokumente der intensiven Arbeit und des Unterwegsseins: Ihr Aussehen ist sehr unterschiedlich, aber das Format ist immer »hosentaschentauglich«, die Umschläge mitunter bemalt, beschrieben, zerschlissen und zerfallend, die Seiten speckig vom Blättern und steif von Wind und Regen, denen sie ausgesetzt waren. In sie wurden unterwegs gefundene Blätter und Blumen, Zeitungsschnipsel, Briefe, Fotos oder Bilder eingelegt. Die Wahl des Schreibgeräts ist im Gegensatz zu den Manuskripten weniger poetologischen als vielmehr pragmatischen Überlegungen geschuldet: Die Kugelschreiber, Filzstifte oder Fineliner, die Handke in seinen Notizbüchern hauptsächlich verwendet, sind im Gegensatz zum Bleistift auch nach Jahren noch gut lesbar. Handke notierte mit dem, was schnell zur Hand war – es lassen sich keine besonderen Präferenzen feststellen. Dieser Umstand bewirkt ein buntes Aussehen der Notate, in denen rote, blaue, grüne, lila, schwarze Stifte einander häufig abwechseln. Auf den vorderen und hinteren Vorsatzblättern notiert Handke in der Regel Arbeitstitel zu Werkprojekten, Ortsangaben, Datierungen, zentrale Lektürezitate sowie Adressen und Telefonnummern von Personen, Fahrpläne und Reiserouten.
Die Notizbücher führt Handke seit Anfang 1976 nicht mehr rein projektbezogen (wie beispielsweise noch 1972/73 für Die Unvernünftigen sterben aus), sondern in der Art eines zweckfreien Aufzeichnens. Sie versammeln Notate zu Beobachtungen, Begriffen, Lektüren und Orten, aber auch immer wieder Zeichnungen. Sehr häufig reflektiert er sein eigenes Schreiben, nur vereinzelt sind allerdings Ereignisse seines außerliterarischen Alltags, wie etwa Begegnungen mit Personen, festgehalten. Die Einträge sind meist nach Tagen datiert – eine Praxis, die Handke Ende der 1980er-Jahre wieder aufgab. Die Notizbücher enthalten aufschlussreiche Informationen über die konkrete Arbeit an einzelnen Werken und ihre sukzessive Entstehung. Handke recherchierte und sammelte Ideen und poetologische Überlegungen über viele Jahre (wie etwa zu Langsame Heimkehr oder Die Wiederholung), bevor es zur tatsächlichen Ausarbeitung kam. Während der Niederschrift eines Werkes treten unspezifische Notizen in den Hintergrund. Die folgenden Arbeitsphasen, in welchen er intensiv mit den Korrekturen des Textes beschäftigt ist, sind durch Korrekturnotizen oder Einfügungen (die mit entsprechenden Kürzeln gekennzeichnet werden) auch in den Notizbüchern erkennbar. Mit den Journalen Das Gewicht der Welt, Die Geschichte des Bleistifts, Phantasien der Wiederholung, Am Felsfenster morgens und Gestern unterwegs wurden zwar weitgehend überarbeitete und nicht projektbezogene Passagen aus den Notizbüchern veröffentlicht, der vollständige und originale Inhalt ist aber noch unpubliziert. (kp)