[3/ S. 113:] Allgemeinen Vorstellungen über Archive und Museen haftet nach wie vor oft etwas von Elfenbeinturm, Vorgestern und Feiertagsmief
an. Vor diesem Hintergrund hat es in den letzten Jahren markante internationale Impulse und Initiativen gegeben, um die institutionelle
Selbstreflexion voranzutreiben, organisatorisch und konzeptionell neue Wege einzuschlagen sowie notwendige inhaltliche, formal-technische
und dienstleistungsorientierte Anpassungen vorzunehmen.
Einen komprimierten Einblick in diese Entwicklungen und die daraus resultierende aktuelle Situation bietet der vorliegende
Band, dessen zehn Einzelbeiträge auf eine Tagung der Evangelischen Akademie Loccum im Mai 1999 zurückgehen. Trotz seines knappen,
leicht rezipierbaren Umfangs und des Umstands, daß hauptsächlich bundesdeutsche Verhältnisse Gegenstand der Untersuchungen
sind, wird deutlich, inwiefern sich heute Literaturarchive und -museen, die hier als funktionale Einheit betrachtet werden,
an äußerst produktiven Schnittstellen befinden, die sich aus philologischen, kulturphilosophischen und -politischen, pädagogischen,
kommunikations- und informationstheoretischen Fragestellungen ergeben. So läßt / ließe sich, über die gegebenen Befunde hinaus,
manches ohne weiteres auch auf Österreich übertragen bzw. für die dort geltenden Rahmenbedingungen fruchtbar machen, wo nach
einer Reihe von Neugründungen und Kooperationsanstrengungen eine relativ lebendige Szene einschlägiger Einrichtungen (unterschiedlichster
Trägerschaften) existiert.
Konsens besteht - bei allen Unterschieden zentralistisch-nationaler versus föderalistisch-regionaler Ausrichtung - über das
Aufgabenprofil eines modernen Literaturarchivbetriebs: Auf der Basis einer historisch gewachsene Zusammenhänge bedenkenden
Tätigkeit des Sammelns, Bewahrens und Erschließens von literarischen und literaturdokumentarischen Materialien aller Art sollte
es sich um interdisziplinäre Forschungsanstalten handeln, die einerseits für eine möglichst unbürokratische Zugänglichkeit
und Benutzbarkeit der Bestände durch Wissenschaftler und sonstige Interessierte und andererseits für eine aktive Publikationspolitik
(Editionen) zu sorgen haben, wie auch generell für eine verständliche Vermittlung der eigenen Leistungen nach außen, um den
Wert literarischer Zeugnisse für das geistige und kulturelle Profil eines Landes oder einer Region bewußt zu halten bzw. erst
zu machen.
[3/ S. 114:] Wir erfahren, in welch beispielhaftem und längst anerkanntem Maß diesem komplexen und hohen Anspruch im bundesdeutschen Leitbetrieb
Schiller-Nationalmuseum / Deutsches Literaturarchiv in Marbach begegnet wird (Ulrich Ott), welche Strategien der Bestandsbildung
dort zur Anwendung kommen und wie man sich mit regionalen Archiven zu koordinieren versucht, um das Allerschlimmste zu vermeiden,
nämlich die Zersplitterung und Zerstreuung von Bestandseinheiten.
Ergänzt und im Detail zurechtgerückt wird dieses monumentale Bild durch mehrere aufschlußreiche Darstellungen vergleichsweise
kleinerer Einrichtungen, wie etwa des Heinrich-Heine-Instituts in Düsseldorf (Joseph A. Kruse), des Heinrich-Böll-Archivs
in Köln (Viktor Böll) oder verschiedener Literaturarchive in Hannover (Wolfgang Dittrich). Insbesondere Kruse gelingt es,
in launig und mitunter provokant formulierter Argumentationsfolge auf vorhandene Probleme hinzuweisen:
Denn es wimmelt im Verlauf unserer alltäglichen Arbeit nur so vom unüberbrückbaren Gegensatz großer Worte und zäher Anstrengungen.
[...] Immer streift uns bei solchen Gelegenheiten des Nachdenkens über den historischen Part jeglicher Kulturarbeit der Atem
der Geschichte. Uns ist allen bewußt, was Franz Kafka in der ›Kaiserlichen Botschaft‹ mit dem historischen Bodensatz gemeint
haben muß. Zäh ist nicht nur das kulturelle historische Erbe; zäher sind die ausweichenden Antworten der Verantwortlichen,
wenn es gilt, sich adäquat darum zu kümmern, was nun einmal meist öffentliches Geld kostet; zäh bleiben, wie gesagt, unsere
dennoch einmal auf uns genommenen Bemühungen. [...] Schließlich reden wir vom kollektiven Gedächtnis und den verschiedensten
Formen der Erinnerung, ohne die jegliches gegenwärtige Leben stumpf und dumpf bleibt. Wir behaupten, daß wir ausschließlich
durch und in der Vielfalt von Sprache und sonstigen kulturellen Äußerungen sinnvoll leben. Also werden wir mit Recht die passenden
Bedingungen von deren Erhaltung und Tradierung wie Dokumentierung, deren Erforschung und mögliche Visualisierung bedenken
und verlangen dürfen. (S. 50f.)
Im Zentrum des Interesses steht freilich immer die handschriftliche Quelle, also vor allem das Manuskript als solches. Umgeben
von der Aura des unmittelbaren künstlerischen Schreibaktes, wird ihr die Eigenschaft zugesprochen, etwas vom allgemeinen Verlust
primärer Erfahrungen, der moderne Lebensweisen prägt, kompensieren zu können und so die Vorstellung des Authentischen auch
ins 21. Jahrhundert zu retten. Hier kommt den Literaturarchiven eine grundlegende Veränderung des Literaturbegriffs zugute,
der nicht mehr auf die vollendete, geschlossene Form abzielt, sondern ein offenes Gewebe von gleichwertigen, einander überlagernden
Schreibprozessen und Text [3/ S. 115:] stufen bezeichnet. Dieser Bedeutungswandel mag in Zukunft entscheidend dazu beitragen, die Existenz von Literaturarchiven
neu zu legitimieren und die konzeptionelle Miteinbeziehung elektronischer Medien in den Erschließungs- und Präsentationsprozeß
von Handschriften zu beschleunigen. Diesem Bereich wird von den beiden Herausgebern bemerkenswert umfangreicher Diskussionsraum
gegeben, wenngleich sich ausgerechnet das Deutsche Literaturarchiv in Marbach diesbezüglich noch zögerlich gibt: »Zurückhaltend
stehen wir dagegen virtuellen Literaturarchivbildungen durch Scannen und öffentliche Zugänglichkeit des Gescannten gegenüber
- wie auch der gegenseitigen Ergänzung von Archivbeständen durch den Austausch von Kopien.« (Ott, S. 46) Ganz anders klingt
da Jutta Weber von der Staatsbibliothek zu Berlin:
Die Vermarktung des kulturellen Erbes hat im virtuellen Umfeld bereits begonnen. Mit allen Informationsangeboten, die über
das Internet von unseren Institutionen ausgehen, haben wir die Rolle dessen aufgegeben, der gelassen auf einen Nutzer oder
Besucher wartet, da dieser zwangsläufig sowieso den Weg in die Institution finden muß; wir sind zum Händler mit der Ware ›Kultur‹
geworden, der sich in einem konkurrierenden Umfeld behaupten muß. Unser Vorteil ist die Tatsache, daß die fraglichen Dokumente
und Gegenstände als Originale nur in unseren Institutionen zu sehen und zu benutzen sind. (S. 112)
Daher gelte es, die Neugier und das Interesse an musealen Schätzen zu fördern, um zu verhindern, »daß vielleicht schon in
50 Jahren die Fähigkeit, handschriftliche Dokumente zu lesen und zu verstehen völlig verlorengegangen sein wird.« (S. 115)
Das vorliegende Büchlein hat seinen Teil dazu sicherlich geleistet, so schmucklos-protokollarisch es auf den ersten Blick
auch erscheint. Doch hat man sich auf die Lektüre einmal eingelassen, ist man mit einer Fülle anregender Informationen literatur-
und wissenschaftsgeschichtlicher, technischer und organisatorischer, praktischer und theoretischer Art konfrontiert, die die
Referentinnen und Referenten als jene vielseitig erfahrenen und eloquenten Fachleute ausweisen, die es in der täglichen Literaturarchivarbeit
eben braucht. Am liebsten möchte man alles in einem Stück lesen, so spannend sind manche Ausführungen. Wie oft kann man das
von einer Fachpublikation schon sagen?
Arno Rußegger
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