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                          [3/ S. 137:]  Zwei Materialienbände zu Ödön von Horváths spätem Roman »Jugend ohne Gott« sind anzuzeigen, beide richten sich an ein jugendliches,
                           wohl eher Schul- als Studentenpublikum und bieten einander auf diese Weise ein schönes Beispiel verlegerischer Konkurrenz.
                           Der Reclam-Band, der in der bewährten Reihe »Erläuterungen und Dokumente« erschien, ist umfangreicher und informativer und
                           dabei um wohlfeile 51 Schilling zu haben. Im Vergleich damit bietet der Suhrkamp-Band zwar einen reduzierten Materialienteil,
                           dafür bekommt der Leser hier den vollständigen Romantext mitgeliefert, das alles zusammen macht an der Kassa auch nicht mehr
                           als 95 Schilling aus.
                         
                        Für den Einsatz im Schulunterricht sind beide Bände gleichermaßen geeignet, ja es fällt fast ein bißchen schwer, in den jeweiligen
                           Kommentarteilen außer dem quantitativen noch einen anderen Unterschied zu sehen. Die Bearbeiterin des Suhrkamp-Bandes, Elisabeth
                           Tworek, legt einen etwas stärkeren Akzent auf die lokalgeschichtlichen Bezüge des Romans. Für dieses Thema, die Verbindung
                           Horváths mit seiner bayrischen Elternstadt Murnau, ist Tworek die anerkannte Instanz. Auch im Fall von »Jugend ohne Gott«
                           sprießt unerschöpflich Material aus den regionalen Chroniken: So weiß die Autorin von einem tatsächlichen Zeltlager der Hitlerjugend
                           in der Gegend von Murnau ebenso zu berichten wie von realen Personen, die für Horváth zum Ausgangspunkt seiner Figuren geworden
                           sind, etwa ein Pfarrer namens Karl Bögner, der für den Romangeistlichen Pate gestanden haben soll und dessen Lebensweg dann
                           auch luzide nachgezeichnet wird.
                         
                        Der Reclam-Band von Norbert Keufgens holt etwas weiter aus. Dokumente zur Werk- und Wirkungsgeschichte des Romans werden ausführlich
                           zitiert, gegenüber dem Suhrkamp-Produkt dominiert der Charakter eines Arbeitsbuches, in dem man nicht alles interpretativ
                           vorgekaut bekommt und die Ambivalenzen des Textes nicht von vornherein auf Null herunterdidaktisiert wurden. Der Leser wird
                           bei Keufgens zu mehr Eigenständigkeit aufgerufen, die angeführten Dokumente wollen ja eigenständig bewertet und gewichtet
                           sein.
                         
                        Dabei hält sich Keufgens mit eigenen Bewertungen zurück, was grundsätzlich richtig, nur überall dort schade ist, wo in den
                           zitierten Quellen gegen Horváth und das Buch etwas kritischere Töne angeschlagen werden. Diese Töne hätte man allein schon
                           deshalb stärken müssen, weil sie sich in der Forschung zum Spätwerk Horváths zuse-  [3/ S. 138:] hends bemerkbar machen. Als Regression wird dem Autor heute vielfach angelastet, was früher unter dem hoffnungsvollen Titel
                           ›Rückkehr zur Religiosität‹ lief. Auch den (letztlich vergeblichen) Versuch, nach 1933 durch direkte Mitwirkung von der nationalsozialistischen
                           Berliner Filmindustrie zu profitieren, will man dem Autor und seinem Werk heute nicht mehr unbesehen durchgehen lassen. Das
                           ändert nichts an der Qualität der Horváthschen Texte, macht aber endlich mit den schamlosen Beschönigungen wohlwollender Freunde
                           Schluß, die (wie der Fall Franz Theodor Csokors anschaulich zeigt) bis hin zur offenen Lüge gingen, um die Person Horváths
                           nach 1945 vor den dunklen Flecken seiner Vergangenheit zu schützen.
                         
                        Das Kapitel ›Horváth für die Schule‹ ist auch deshalb so verdrießlich, weil in ihm nach wie vor ein sakrosanktes Bild des
                           Autors gezeichnet und eine auf die gute Moral reduzierte Lesart seiner Werke vermittelt wird. Die Leistung der beiden Materialienbände
                           ist es, solid im Feld dieser Vorgaben geblieben zu sein. Ihr Versäumnis aber besteht darin, daran nichts geändert zu haben,
                           obwohl sich mit »Jugend ohne Gott« eine hervorragende (und nunmehr doppelt verpaßte) Gelegenheit geboten hat.
                         
                        Klaus Kastberger 
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