| Seit dem Erscheinen von Adolf Frisés Leseausgabe des »Mann ohne Eigenschaften« (1952; völlig überarbeitet 1978), die auch
                           bis dahin unveröffentlichte und von Musil selbst nicht autorisierte Kapitel und Kapitelentwürfe aus dem Nachlaß enthält, ist
                           die Diskussion um die editorische Situation, den Status der nachgelassenen Texte sowie die rekonstruierbare Autorintention
                           hinsichtlich des unvollendeten Schlußteils dieses monumentalen Romans der ›klassischen Moderne‹ nicht mehr verstummt.[1]  Besondere Aufmerksamkeit beanspruchte dabei die höchst komplexe Entstehungsgeschichte,[2]  die sich über Musils gesamtes schriftstellerisches Leben erstreckt und von zahlreichen konzeptionellen Neuansätzen sowie
                           – wie wohl bei keinem zweiten Autor – von einer unaufhörlichen stilistischen Verbesserungsarbeit geprägt ist. Erschwerend
                           für die Rekonstruktion hat sich der Umstand ausgewirkt, daß der Nachlaß zunächst relativ schwierig zugänglich (nämlich im
                           Besitz der Musil-Erben in Rom), noch nicht katalogisiert und zudem von gewaltigen, ja schier unüberblickbaren Ausmaßen war.
                         Mit seiner 1972 erfolgten Überführung in die Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, der Katalogisierung
                           durch die Wiener Arbeitsstelle für den Robert-Musil-Nachlaß (unter der Leitung von Elisabeth Castex) und der Erarbeitung einer
                           seinerzeit als Pionierleistung vielbeachteten CD-ROM-Edition[3]  hat sich die editorische Lage entschieden verbessert. Eine erste positive Auswirkung dieser neuen Situation dokumentiert
                           sich in Bianca Cetti Marinonis detaillierter entstehungsgeschichtlicher Monographie zum Schauspiel »Die Schwärmer« (1921).[4]  Walter Fanta, selbst langjähriger Mitarbeiter an der Transkription der Manuskripte für die CD-ROM-Ausgabe und damit einer
                           der besten Kenner des Nachlasses, hat nun die erste monographische Darstellung der Entstehungsgeschichte des Musilschen Hauptwerks
                           vorgelegt. Seine höchst detaillierte Rekonstruktion der Textgenese von den frühesten Vorstufen 1898 bis zum Tod des Autors
                           1942 ist für die Musil-Philologie zweifelsohne ein gewichtiges Ereignis, wenngleich die Arbeit wohl in erster Linie für ausgesprochene
                           Spezialisten von Interesse sein wird.
                         Bei Fantas Buch handelt es sich um den überarbeiteten ersten Band einer von Friedbert Aspetsberger betreuten Klagenfurter
                           Dissertation, die drei Bände umfaßt (Bd. 2: Das apokryphe Finale des »Mann ohne Eigenschaften«; Bd. 3: Der Schreibprozeß Robert
                           Musils am »Mann ohne Eigenschaften« in Reflexen und Reflexionen[5]) und damit in ihren Dimensionen der Monumentalität des behandelten Romans selbst nahekommt. Im vorliegenden Band strebt Fanta
                           eine genaue Rekonstruktion der Werkgeschichte im chronologischen Verlauf an, die auf der systematischen Aufarbeitung und Neuinterpretation
                           des Nachlasses beruht. Die mit der akribischen Rekonstruktion eng verknüpften interpretativen Passagen der Arbeit stützen
                           sich methodisch auf Modelle und Problemstellungen aus den Teildisziplinen Textologie und vor allem Literaturpsychologie. Deren
                           praktische Integration bzw. ihr Zusammenspiel im Sinn eines in sich konsistenten Zugriffs ist durchwegs überzeugend, auch
                           und gerade die derzeit sicher nicht im Modetrend des Fachs liegende, aber für ein solches Projekt einzig richtige methodologische
                           Entscheidung, »[s]ich auf die Intentionen des Autors einzulassen« (S. 12).
                         In seinem Vorwort weist Fanta einerseits darauf hin, daß von den zu Musils Lebzeiten unveröffentlichten Kapiteln keines als
                           ›fertig‹ und damit als autorisiert angesehen werden kann; andererseits lasse sich aber auch »keine Absicht des Autors darüber
                           erkennen, dass der Roman unabschließbar sei oder dass er etwa dort zu enden habe, wo die Arbeit an ihm [...] steckengeblieben
                           ist« (S. 11f.). Anhand von genauen Quellenbefunden kann Fanta die entsprechenden Hypothesen, die etwa von Karl Dinklage, Adolf
                           Frisé und Peter V. Zima vertreten wurden, eindeutig falsifizieren. Die Implikationen dieses Befundes für die Interpretation
                           des Romans sind nicht zu überschätzen, sie lassen u. a. den Status der nachgelassenen Texte in neuem Licht erscheinen: als
                           ›Apokryphen‹, die nicht im eigentlichen Sinn zum ›Werk‹ gehören. Da sich im »Mann ohne Eigenschaften« »das Vorher und das
                           Nachher in der Erzählsukzession [...] mit dem Früher und dem Später in der Entstehungssukzession« auf höchst komplexe Weise
                           überlappt, sei es editorisch auch nicht verantwortbar, nach dem Muster Frisés (insbesondere in den Auflagen vor 1978) »Nachlassmanuskripte
                           aneinander zu fügen und daraus die Fortsetzung des Romans zu rekonstruieren«. Mehr noch: »Das Nicht-Zustandekommen des Abschlusses
                           ist eine Resultante der Produktionsgeschichte des Romans« (S. 13). Folgt man dieser immanent werkgenetischen These, die freilich
                           von der Berücksichtigung der ungünstigen äußeren Schreibumstände Musils nicht abgekoppelt werden sollte, dann ist die (auf
                           der Grundlage des nunmehr vollständig publizierten Materials) jetzt mögliche genaue Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte
                           des »Mann ohne Eigenschaften« sogar eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung für das adäquate Verständnis
                           des fragmentarischen Charakters des Romans.
                         Fanta gibt sich deshalb mit der bloßen Rekonstruktion nicht zufrieden. Anders als Cetti Marinoni, die eher geschichtsphilosophisch-textsoziologisch
                           argumentiert, vollzieht er »von der kommentierten Selbsterklärung [des Autors] den Schritt zur psychologischen Fremderklärung
                           und nicht zuletzt zu psychoanalytischen Modellen«, 
                         um das Phänomen, dass Musil seinen Roman nicht abzuschließen vermag, aus verdeckten Intentionen und in ihnen verborgenen psychischen
                           Komplikationen zu erfassen. Die Grundhypothese lautet, dass Romansubstanz als im psychoanalytischen Sinn Bedeutendes von der
                           planend rationalisierenden Instanz des Autorbewusstseins in einer jahrzehntelangen Abwehrbewegung in den Schlussteil des Romans
                           verschoben wird. [...] Indem schriftstellerische Produktion als Abarbeiten von Bedrängendem und zu Verdrängendem durch ästhetische
                           Gestaltung gesehen wird, bedeutet das Erzählen der Geschichte immer auch ihr Verdecken, ihr Nicht-Erzählen«. (S. 14)
                         Diese für Fantas gesamtes Projekt grundlegende »Einsicht« mag nun zwar den »Hauptgewinn der psychoanalytischen Betrachtungsweise«
                           (ebd.) beim Blick auf die Gründe für Musils Unfähigkeit ausmachen, die nahezu lebenslange Entstehungsgeschichte seines Hauptwerks
                           zu einem Ende zu führen, scheint aber für eine literaturwissenschaftliche Untersuchung des Textes nicht unprekär: Sie setzt
                           nämlich implizit voraus, daß es eine Geschichte jenseits der Narration gibt, ja daß die Narration die Geschichte sogar tendenziell
                           verdeckt, aber in gnoseologischer Hinsicht zweitrangig ist. Literatur wird nach diesem theoretischen Modell – dem Fanta glücklicherweise
                           selbst nicht konsequent folgt – zum bloßen Medium einer ihr vorgängigen, substantiellen, außerliterarischen »Wahrheit«, ihre
                           konstitutive Literarizität ein latent störendes und durch die Analyse wieder aufzuhebendes Beiwerk, dessen opakisierende Nebenwirkung
                           bestenfalls in Transparenz zu übersetzen ist. Darauf wird noch zurückzukommen sein.
                         Zunächst klärt Fanta in einem knapp 70seitigen Einleitungsteil die zugrundegelegten »kategorialen Dichotomien« als »Voraussetzungen«
                           seiner Arbeit: Er differenziert erstens zwischen ›apokryphem‹ und ›kanonischem‹ Text, zweitens zwischen ›Auftraggeber‹ und
                           ›Gegenauftraggeber‹, drittens zwischen ›vertikaler‹ und ›horizontaler‹ Dehnung der narrativen Syntax und viertens zwischen
                           den Textstufen ›Entwurf‹ und ›Notiz‹, wodurch sich das  Nachlaßmaterial sinnvoll strukturieren läßt. Von den genannten Dichotomien
                           scheint die erste so einleuchtend, daß sie hier keines Kommentars bedarf. Problematischer aufgrund ihrer heterogenen theoretischen
                           Voraussetzungen und deren eklektizistischer Kombination wirkt vielleicht die zweite, die sich an einen Terminus aus der von
                           Algirdas J. Greimas[6]  entwickelten strukturalen Semantik anlehnt und diesen psychoanalytisch auflädt: Zu jeder rekonstruierbaren intentionalen
                           Instanz auf den verschiedenen Analyseebenen (Erzählverlauf, Autorreflexion in Notaten und psychosoziale Bedingungen des Schreibens)
                           wird eine ihr widersprechende, vom Unbewußten gesteuerte, gleichwohl intentionale Gegeninstanz postuliert. Angesichts der
                           Tatsache, daß die zu erklärende erzählsyntaktische Retardierung damit bloß auf eine andere theoretische Ebene verschoben wird
                           (vgl. S. 30f.), bieten die schematischen Kategorien ›Auftraggeber‹ und ›Gegenauftraggeber‹ (vgl. S. 395-399, 408, 411f., 419,
                           431, 459, 461, 464, 474, 483-486, 529-532) einigen Anlaß für Kritik, obwohl sie erlauben, das einschlägige Material in eine
                           brauchbare Ordnung zu bringen. Fanta selbst beruft sich zur Legitimation seiner Einführung des wahrhaft dämonischen Prinzips
                           ›Gegenauftraggeber‹ wiederholt auf eine wohl eindeutig metafiktionale (und weniger psychologisch-selbstanalytische) Äußerung
                           Musils, die aber bei anderer Beleuchtung auch als erzähltechnisch durchaus topisches narratives Strategem des ›Auftraggebers‹
                           gedeutet werden könnte; in einem Vorwort-Entwurf zum zweiten Band heißt es nämlich ironisch: »Die Geschichte dieses Romans
                           kommt darauf hinaus, daß die Geschichte, die in ihm erzählt werden sollte, nicht erzählt wird.« (S. 395, Anm. 4) Unberührt
                           von der angedeuteten Gefahr einer zu unmittelbaren Vermengung narratologischer, biographischer und psychoanalytischer Befunde
                           (und damit der Analyseebenen Text und Autor) bleiben jedoch Fantas höchst instruktive Ausführungen über die von Musil selbst
                           - insbesondere während der Arbeit am zweiten Band - reflektierten innerkonzeptionellen Spannungen.
                         Methodologisch ausführlicher setzt sich Fanta mit der dritten Dichotomie auseinander, die dem »mehrdimensionale[n] Wachstum«
                           (S. 35) des Romans Rechnung trägt, indem sie die von Wilhelm Bausinger etablierte Unterscheidung von »vertikale[m] Entwicklungszusammenhang« und »horizontalen Verbindungen«[7]  aufnimmt und vertieft. Die hochkomplexe Arbeitsweise Musils erhält hier in der strukturellen Beschreibung weiteres Profil:
                           So erlaubt die skizzierte Typologie etwa die Feststellung, daß die Erzählkomplexe des »Mann ohne Eigenschaften« »während ihres
                           Wachstums, sowohl in horizontaler als auch in vertikaler Richtung, an Ereignishaftigkeit verlieren. Außerdem kommt es in der
                           Endphase des horizontalen Wachstums zu einer Eingrenzung der Vielzahl der Erzählkomplexe.« (S. 37) Darüber hinaus betont Fanta,
                           daß Musil »die Zäsur nach Kapitel II/38 nicht freiwillig« setzte, im Gegenteil: er empfand die Teilpublikation von 1932 sogar
                           »als vom Verlag erzwungen« (S. 40; vgl. S. 425). Ähnliches gilt von der 1937 geplanten, aufgrund der politischen Umstände
                           1938 jedoch nicht zustandegekommenen und später wieder zurückgezogenen Zwischenfortsetzung, den sogenannten ›Druckfahnenkapiteln‹
                           II/39-58, die »bloß produktionsgeschichtlich, nicht dem Bauplan des Romans nach eine Einheit« bilden (S. 44; vgl. S. 480f.).
                           Generell erlaubt der von Graphiken zweckdienlich unterstützte Aufriß der werkgeschichtlichen Zäsuren bzw. der »vier Teilungsschritte«
                           in der Romangenese einen Einblick in die sukzessive Ausdifferenzierung der beiden erzählerischen »Hauptkomplexe«, der Parallelaktions-
                           und der Geschwisterhandlung (S. 41).
                         Sinnvoll und nützlich ist auch die Präzisierung der ebenfalls von Bausinger in die Musil-Editorik eingeführten genetischen
                           Kategorie ›Textstufe‹, die Fanta in drei Hauptgruppen unterteilt: (›paratextuelle‹, wie er in nicht ganz überzeugender Anlehnung
                           an Gérard Genette formuliert) Notiz - (textueller) Entwurf - fertiger Text. Da der Nachlaß keine wirklich abgeschlossenen
                           Kapitel zum »Mann ohne Eigenschaften« aufweist, sind nur die ersten beiden von editorischer und entstehungsgeschichtlicher
                           Relevanz; sie werden mit Blick auf die Strukturiertheit des vorliegenden Materials jeweils weiter in drei ›vertikal‹ unterschiedliche
                           Typen differenziert. Die Komplexität der von Musil selbst in dieser Differenzierung angelegten Vorstufen zur geplanten Reinschrift
                           zeugt vom beeindruckenden, ja tendenziell hypertrophen Organisationsgrad seines Schreibens: Bemerkenswert für dessen Rekonstruktion
                           scheint dabei folgende Beobachtung, die allerdings dem tiefenpsychologischen Ansatz Fantas in gewisser Weise zuwiderläuft:
                         Der Anteil des ›Materials‹ überragt [...] quantitativ den des ›verfassten Texts‹ bei weitem; den weitaus größeren Teil der
                           Notizen machen Kommentare und Reflexionen aus, Rohmaterialien in Form von notierten Einfällen, Stoffsammlungen (und Exzerpten)
                           sind in wesentlich geringerem Umfang präsent. Die Relationen sind dazu angetan, den reflektierenden, wenig impulsiven, in
                           jedem Fall stets experimentierenden Charakter von Musils Arbeit am ›Mann ohne Eigenschaften‹ zu unterstreichen. (S. 56)
                         Inwiefern es angesichts dieses Befunds sinnvoll ist, methodologisch auch bei der Analyse späterer Produktionsstadien und besonders
                           -stockungen weniger nach konzeptionellen Aporien, sondern vor allem nach »verdeckten Intentionen und in ihnen verborgen liegenden
                           psychischen Komplikationen« (S. 14) zu fragen, wäre noch weiter zu diskutieren. Fanta selbst muß im Verlauf seiner Untersuchung
                           einräumen, daß »sich zumindest nicht von einer ganz und gar unbewussten Determinierung sprechen« lasse (S. 459). Gegen Ende
                           seiner Einführung erläutert er noch die verschiedenen Typen von Notizen und Entwürfen und gibt auch einen Überblick über die
                           vorhandenen Exzerpte (S. 61f.) sowie über Abschriften und Druckfahnen (S. 70f.); er beschließt das Kapitel mit einem anschaulichen
                           Anhang, der faksimilierte und kommentierte Beispiele für die einzelnen Textstufen vorstellt.
                         Die genaue Rekonstruktion der Entwicklungsstufen, die hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden kann, erfolgt im Hauptteil
                           des Buchs: Aus dem vorliegenden Material erschließt Fanta folgende konzeptionell abgrenzbare Produktionsphasen: 1. Vorarbeit
                           zum Roman (1898-1914), 2. das Spion-Projekt (1918-1922), 3. Erlöser und Zwillingsschwester (1923-1926), 4. der Mann ohne Eigenschaften
                           namens Anders (1927/1928), 5. der Mann ohne Eigenschaften namens Ulrich (1928-1930), 6. der Band II bis zum Teilabschluß (1930-1932),
                           7. Fortsetzungsversuche von Band II (1933-1936), 8. die Zwischenfortsetzung (1937), 9. die Fortführung und Korrektur der Druckfahnenkapitel
                           (1938/1939) und 10. Genfer Neuansätze (1939-1942). Aus der ersten Hälfte der Entstehungszeit des Romans überwiegt das Material
                           zur Figurengenese und zur Anreicherung der Erzählsubstanz, aus den Produktionsphasen ab 1930 dann die erzählerische und stilistische
                           Ausgestaltung (vgl. S. 66).
                         Bei seiner Darstellung der Figurengenese distanziert sich Fanta ausdrücklich vom Biographismus, der (ihm zufolge allerdings
                           zu Unrecht) Karl Corinos biographischen Zuschreibungen[8]  wiederholt zum Vorwurf gemacht wurde: Es gehe nicht darum, »zu fragen, wer mit den Figuren der Handlung denn ›eigentlich
                           gemeint sei‹, sondern um den Nachvollzug einer ästhetischen Metamorphose von Realität (über nicht-fiktionale Texte, die Musil
                           heranzieht) in literarische Fiktion.« (S. 229) Diese mit dem skizzierten psychoanalytischen Ansatz in einer gewissen Spannung
                           befindliche Aufgabe wird von Fanta im Anschluß an seine Rekonstruktion der Frühphasen der Romanentstehung (bis 1922) generell
                           recht überzeugend bewältigt: Ein Schlüsselkonzept zur Analyse der genannten Transformation ist dabei das Verfahren der (konzeptionell-gedanklichen
                           wie sprachlich-stilistischen) ›Verdichtung‹ sowie - als Sonderfall derselben - der konstruktiven ›Mythisierung‹ (vgl. S. 285-298),
                           die durch eine vergleichende Analyse des »Zwillingsschwester«-Entwurfs und der Endfassung des Kakanien-Kapitels veranschaulicht
                           wird (S. 298-304); als ein weiteres wäre die fortschreitende ›Intellektualisierung‹ zu nennen, welche die Handlungssubstanz
                           gegenüber ihrer essayistischen Durchdringung zunehmend in den Hintergrund drängt (S. 306-315). Da sich Fanta allerdings zunächst
                           vor allem mit der Rückführung von Handlungssubstanz und Figurenkonstellationen auf psychoanalytisch interpretierte autobiographische
                           Erlebnisse Musils beschäftigt und nicht immer die dabei erhaltenen Ergebnisse in den folgenden Kapiteln auch weiterverfolgt,
                           bleibt es in manchen Fällen bei einer bloßen ›Entschleierung‹ des literarisch ›Verschleierten‹, wodurch dann die künstlerische
                           Verarbeitung des in den Notizen aufgehäuften biographischen und historischen Materials bzw. dessen bewußte literarische Gestaltung
                           tendenziell zu kurz kommt.
                         Als prominentes und zugleich aussagekräftiges Beispiel für die genannte (bei Fanta allerdings keineswegs vorherrschende!)
                           Tendenz, die den spezifisch künstlerischen Verwandlungsprozeß eher rückgängig macht, statt ihn als solchen offenzulegen, sei
                           die Moosbrugger-Figur angeführt: Sie wird durch die ›Entlarvung‹ von Musils identifikatorischem Interesse (die angebliche
                           »Projektion des Autor-Ichs auf die Figur« [S. 141]) der von ihr ausgehenden allgemeinen Faszinationskraft innerhalb und außerhalb
                           des Textes völlig entkleidet. Gerade die nicht nur von Ulrich, sondern von der gesamten romaninternen Öffentlichkeit geteilte
                           identifikatorische Faszination für den Fall Moosbrugger ist aber ein zentraler Grund für dessen exemplarischen Stellenwert
                           innerhalb des Romankosmos: »Man seufzte zwar über eine solche Ausgeburt, aber man wurde von ihr innerlicher beschäftigt als
                           vom eigenen Lebensberuf.«[9]  Musils bereits 1911 in Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Psychologie formulierte (und später mehrmals wiederholte)
                           These, »daß es in jeder gesunden Seele Stellen gibt, die solchen in kranken gleichen« bzw. »daß zu allen Bestandteilen, aus
                           denen sie [Perversität oder Unmoral] sich aufbaut, analoge auch in der gesunden und zusammenlebenstüchtigen Seele sich finden«,[10]  bedurfte zur ästhetischen Instrumentalisierung einer ›wertfreien‹, ja tendenziell sogar ›anverwandelnden‹ literarischen
                           Darstellung des Triebtäters. Fantas (die Sublimierungsarbeit des Schreibprozesses psychoanalytisch ›dekuvrierende‹) Interpretation
                           muß aus inneren Konsistenzzwängen dagegen behaupten, Musil schreibe der Moosbrugger-Figur »Kenntnisse aus der Lektüre ›einschlägiger
                           Psychologiebücher‹« deshalb ein, »um Distanz zu ihr herzustellen« (S. 147). Daß es dem Romancier bei der Verarbeitung psychologischer
                           Erkenntnisse weniger um (moralische) Distanz, sondern allererst um eine dem Stand der damaligen Wissenschaft adäquate darstellerische
                           Durchdringung und somit auch um die von ihm selbst beanspruchten »Beiträge zur geistigen Bewältigung der Welt«[11]  durch den Roman gehen könnte, paßt offenbar nicht ins gewählte psychoanalytische Schema.
                         Einwände dieser Art betreffen freilich nur einen marginalen Teil der überaus kenntnisreichen und anregenden Ausführungen Fantas,
                           die erfrischend textnah und in angenehm sachlicher Diktion gehalten sind und in denen nur selten übertrieben szientifische
                           oder aber kolloquiale Ausdrucksweisen (»im Selftalk Musils«, S. 153 und 338; »die um sechs Jahre ältere Frau ihrem Ehemann
                           auszuspannen«, S. 171) den Lesegenuß unterbrechen. Positiv hervorgehoben seien unter den zahlreichen höchst aufschlußreichen
                           Passagen des Buchs etwa die instruktiven Bemerkungen zur Entwicklung der Erzählhaltung und generell zur Entwicklung des für
                           den »Mann ohne Eigenschaften« charakteristischen multiperspektivischen ironischen Erzählstils (etwa S. 260, 272, 287-290,
                           bes. S. 374-378), welche die Fruchtbarkeit des entstehungsgeschichtlichen Ansatzes auch in formaler Hinsicht belegen; hier
                           hätte man gern noch mehr erfahren. Selbst die manchmal vielleicht ermüdende Detailliertheit der Darstellung gereicht ihr insgesamt
                           nicht zum Nachteil, weil sie mit einer großen, vordem ungekannten rekonstruktiven Genauigkeit einhergeht, die für alle zukünftigen
                           Arbeiten Maßstäbe setzt. Daraus bisweilen entstehende Redundanzen stören allenfalls bei einer in einem Zug verfahrenden Lektüre,
                           sind jedoch entschieden von Vorteil, wenn das Buch als handbuchartiges Nachschlagewerk benutzt wird, als welches es wohl u.
                           a. konzipiert ist. Fantas Untersuchung ist aufgrund ihres beeindruckenden Materialreichtums und ihrer mehr als profunden Sachkenntnis
                           als Leitfaden jeder philologisch akkuraten Arbeit über den »Mann ohne Eigenschaften« - besonders über dessen apokryphe Teile
                           - künftig sicherlich unverzichtbar. Das derzeit noch fehlende, aber zur Orientierung in der monumentalen Untersuchung dringend
                           nötige Register historischer Personen und vor allem fiktionaler Romanfiguren (mit Berücksichtigung der Namensänderungen!)
                           wird hoffentlich im abschließenden Band nachgereicht.
                         Norbert Christian Wolf ANMERKUNGEN 1]
                           Vgl. insbesondere Wilhelm Bausinger: Studien zu einer historisch-kritischen Ausgabe von Robert Musils Roman »Der Mann ohne
                           Eigenschaften«. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1964, v. a. S. 1-65.
                         2]
                           Vgl. etwa Wolfdietrish Rasch: Zur Entstehung von Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«. In: Deutsche Vierteljahrsschrift
                           für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 39 (1965), S. 350-387; Ernst Kaiser: Die Entstehungsgeschichte von Robert
                           Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«. In: Studi germanici N.S. 4 (1966), S. 107-118.
                         3]
                           Robert Musil: Der literarische Nachlaß. CD-ROM-Edition. Hg. von Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl und Adolf Frisé. Reinbek
                           bei Hamburg: Rowohlt 1992. Aufgrund des veralteten EDV-Programms ist diese CD-ROM, die im Buchhandel immer noch für € (A)
                           739,70 / € (D) 715,- (!) angeboten wird, heute nahezu unbrauchbar. Die von den Herausgebern für den 125. Geburtstag Musils
                           (6. November 2005) angekündigte völlig überarbeitete und erweiterte Ausgabe, in der das Gesamtwerk (zu Lebzeiten gedrucktes
                           Werk, Nachlaß und Kommentierung) zu einer digitalen Hypertext-Edition vernetzt werden soll, wird neben dem in Aussicht gestellten
                           ausführlichen Begleittext in Buchform sowie einem ›verlinkten‹ Kapitelkommentar zum »Mann ohne Eigenschaften« v. a. auch mit
                           einer graphischen Oberfläche und einer verbesserten Suchmaske ausgestattet sein.
                         4]
                           Bianca Cetti Marinoni: Essayistisches Drama. Die Entstehung von Robert Musils Stück »Die Schwärmer«. München: Fink 1992 (=
                           Musil-Studien 21).
                         5]
                           Die Folgebände sollen ebenfalls im Verlag Böhlau erscheinen, zumindest der zweite Band ist mittlerweile gesichert und für
                           Anfang 2003 angekündigt.
                         6]
                           Der dafür zentrale Literaturhinweis »Vgl. Greimas 1971« (S. 28) wird im (überhaupt relativ knappen) Literaturverzeichnis am
                           Ende des Bands nicht aufgelöst.
                         7]
                           Bausinger (Anm. 1), S. 79.
                         8]
                           Vgl. v. a. Karl Corino: Robert Musil. Leben und Werk in Bildern. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988.
                         9]
                           Robert Musil: Gesammelte Werke in neun Bänden. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, Bd. 1, S. 69.
                         10]
                           Ebd., Bd. 8, S. 981f.
                         11]
                           Ebd., Bd. 7, S. 942.
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