Krise der Frauenbewegung
In der österreichischen Frauen- wie auch Tagespresse der Zwischenkriegszeit stand die Frauenbewegung immer wieder zur Diskussion. Es wurde darüber debattiert, ob sich die Frauenbewegung überholt hatte oder ob es sich lediglich um eine Phase der Ruhe nach – bzw. auch vor – dem Sturm handelte. Wiederholt war von einer Krise der Frauenbewegung die Rede, aber auch Begriffe wie Debakel, Dekadenz, Scheitern oder Versagen der Frauenbewegung sollten fallen. Dies geschah vor dem Hintergrund der Zuerkennung des aktiven und passiven Wahlrechts an alle volljährige Bürgerinnen und Bürger des neugegründeten Staates, die am Tag der Proklamation Deutsch-Österreichs – am 12. November 1918 – erfolgt war. Für die Frauenbewegung bedeutete die Erlangung einer ihrer zentralen Forderungen einen entscheidenden Sieg – und rief doch zugleich Ziel- und Orientierungslosigkeit hervor. Notwendigkeit und selbst Existenz der Frauenbewegung wurden in Frage gestellt.
Das errungene Frauenstimmrecht stellte allerdings nur einen Teil der so genannten Krise dar: Der Frauenbewegung wurde angesichts der Forderung nach konsequenter Gleichberechtigung der Geschlechter überzogener Intellektualismus vorgeworfen. Höhere Ausbildung sowie die Berufstätigkeit von Frauen hätten entweder zu weiblicher Überqualifizierung – und damit Arbeitslosigkeit – oder zur Verdrängung kompetenter Männer durch minder begabte Frauen geführt; weibliche Doppelbelastung wiederum würde Familienleben wie Mutterglück beeinträchtigen. Aber auch der konstatierte sittliche und moralische Verfall der Gesellschaft wurde den gleichberechtigten Frauen und damit der Frauenbewegung angelastet. Statt der Gleichheit der Geschlechter wurde die Berücksichtigung einer weiblichen Wesensart verlangt.
Diese Besinnung auf das Anderssein der Frau wurde mitunter zur Grundlage einer neuen Frauenbewegung oder zumindest einer neuen Epoche der Frauenbewegung erklärt. Neue Frauenbewegung konnte aber auch bedeuten, der gesetzlichen Gleichberechtigung nicht nur deren praktische Umsetzung folgen zu lassen, sondern überdies die Förderung sozialer, materieller wie ideeller Interessen von Frauen zu propagieren. Eine Wandlung der Frauenbewegung schien in jedem Fall unumgänglich: Der Sinn der Frauenbewegung blieb stets aufs Neue zu verhandeln und herzustellen.
Literatur:
Fürth, Ernestine: „Krise der Frauenbewegung". - In: Die Österreicherin 1 (1928) 2, 6
J. W. [Widmar, Josefine]: Krise der Frauenbewegung. - In: Reichspost, Nr. 6, 06.01.1928, 1-2
Kann man von einer Dekadenz der Frauenbewegung sprechen? Äußerungen führender Frauen. - In: Neue Freie Presse, Nr. 22739, 06.01.1928, 14
Moderne Frauenrechtlerinnen. - In: Neue Freie Presse, Nr. 26125, 05.06.1937, 3
von Natascha Vittorelli
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