3. Erwerbung ausländischer Literatur

3.1 Allgemeines

Die Sammeltätigkeit der kaiserlichen Hofbibliothek war über viele Jahrhunderte universell, d.h. auf alle Wissensgebiete hin ausgerichtet. Erst 1920, anlässlich der Umwandlung der kaiserlichen Hofbibliothek in die Nationalbibliothek der Ersten Republik erfolgte eine wichtige Einschränkung des Sammelprofils auf den Bereich der geisteswissenschaftlichen Literatur.

Diese Einschränkung der Sammelpolitik bezüglich ausländischer Literatur wurde inhaltlich schließlich auch in die Bibliotheksordnung der ÖNB vom 11.1. 2002 (BGBl. II, 12/2002) übernommen (§ 3 Abs. (2) ) und findet sich unverändert in der aktuellen Bibliothekordnung vom 1.12.2009 (BGBl. II Nr. 402/2009):

§ 16 Die Sammlungstätigkeit hat die Ergänzung und Vervollständigung der Sammlungsbereiche gemäß § 14 Abs. 1 zum Ziel, insbesondere:
1. …
2. Sammlung von Auslandsaustriaca sowie von ausländischen Publikationen mit Schwerpunkt im Bereich der Geisteswissenschaften.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass die um 1900 erfolgte vor allem auf Wilhelm Dilthey 1 zurückgehende Definition des Begriffs der Geisteswissenschaften in methodischer Abgrenzung von den Naturwissenschaften seither einer historischen Entwicklung unterlag. Heute wird mit je unterschiedlicher Akzentuierung und Abgrenzung vielfach auch von Kulturwissenschaften bzw. in Analogie zum anglo-amerikanischen Sprachraum auch von Humanwissenschaften bzw. den Wissenschaften vom Menschen gesprochen.

An der ÖNB werden die geisteswissenschaftlichen Fächer kontinuierlich und – je nach Gebiet – mit unterschiedlicher Priorität gesammelt. Als konkrete Fachgebiete, welche nicht durch die Sammelschwerpunkte der Sammlungen abgedeckt sind und gesammelt werden, sind zu nennen: philologische Fächer (Germanistik, Romanistik, Anglistik), vergleichende Literaturwissenschaft, Philosophie, Theologie, Kunstgeschichte, Buch- und Bibliothekswesen, Theaterwissenschaft, Soziologie, Psychologie, Publizistik und Kommunikationswissenschaft sowie kleinere Philologien, soweit sie sammlungshistorisch relevant sind.

Nicht explizites Sammelgebiet der ÖNB sind neben den klassischen Naturwissenschaften und den angewandten technischen Wissenschaften die Medizin und Veterinärmedizin, die so genannten Formalwissenschaften wie Mathematik, Informatik, Formale Logik sowie die Wirtschaftswissenschaften. Demgegenüber gehören wissenschaftsgeschichtliche Werke der zuletzt genannten Gebiete sowie auch die Rechtswissenschaften zum Sammelprofil der ÖNB.

Berücksichtigung finden auch aktuelle fachübergreifende Themenfelder wie Ökologie, Klimawandel, Genderfragen, Migration u.ä.

3.2 Spezielle Sammlungsschwerpunkte für ausländische Literatur

Über die allgemeine Festlegung auf den Bereich der Geisteswissenschaften hinaus gelten für den Ankauf von Auslandsliteratur folgende Schwerpunkte:

3.2.1 Auslandsaustriaca

Die Beschaffung und Dokumentation von Auslandsaustriaca bildet ein zentrales Sammelgebiet der ÖNB. Damit gemeint sind einerseits ausländische Publikationen, die Österreich oder ÖsterreicherInnen betreffen, andererseits im Ausland erschienene Werke, die von ÖsterreicherInnen verfasst oder herausgegeben wurden.

Der Begriff Austriacum ist schwer exakt zu definieren. Gesammelt werden jedenfalls alle Werke, die das Territorium der heutigen Republik Österreich betreffen, und zwar ohne zeitliche Einschränkung einer Zugehörigkeit zu Österreich.
Mit Rücksicht auf die vielen Völker, die historisch unter dem Haus Österreich vereint waren, und deren spätere nationale und territoriale Selbstständigkeit werden auch jene Werke, welche die staatliche Struktur der Nachfolgestaaten, die Gemeinsamkeit der Geschichte und die Vielfalt der Kultur- und Geistesströmungen betreffen, miteinbezogen. Unter Austriaca im weiteren Sinn werden daher auch Werke verstanden, die im Raum der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie erscheinen oder über diesen Raum handeln.

Darüber hinaus wird das eigenständige Fortleben österreichischer Kultur im Ausland gesammelt (z.B. Prager Kreis, Psychoanalyse, usw.).

Ebenfalls differenziert zu sehen ist die Frage, wer im Sinne der vorliegenden Festlegung als ÖsterreicherIn zu gelten hat. Eine Eingrenzung auf die Staatszugehörigkeit greift zu kurz: gesammelt werden auch Werke von Personen, die im Dienste Österreichs gewirkt haben, ebenso wie jene, die im jeweiligen historischen Österreich geboren wurden, hier längere Zeit gelebt und österreichisches Kultur- und Geistesleben ins Ausland getragen haben.

Aus budgetären und platztechnischen Gründen werden Übersetzungen nur in Auswahl gesammelt. Gleichlautende Auflagen von Auslandsaustriaca werden nicht erworben, wohl aber in der Österreichischen Bibliografie, Reihe C, dokumentiert. Eine Ausnahme wird bei der Schönen Literatur gemacht. Hier bemüht sich die ÖNB alle erreichbaren Übersetzungen von österreichischen Werken (ohne Mehrfachauflagen) in größtmöglicher Vollständigkeit anzuschaffen.

3.2.2 Sekundärliteratur zu den Sammlungsbeständen

Für alle Sammlungen der ÖNB gilt, dass alle relevante Sekundärliteratur zu den jeweiligen Sammlungsbeständen gesammelt wird.
Richtlinien dazu finden sich im Abschnitt Sammlungen in den Absätzen Fachliteratur der einzelnen Sondersammlungen.

3.2.3 Slavica

Ein besonderer Stellenwert kommt aus bibliothekshistorischen Gründen der kontinuierlich betriebenen Sammlung von slawistischer Literatur bzw. Literatur in slawischen Sprachen zu, wobei das Schwergewicht naturgemäß auf den in der ehemaligen Monarchie vertretenen Sprachen und Literaturen liegt. Das Referat Slawistik gründet auf einem geschätzten Altbestand von 200.000 Bänden slawenkundlicher Literatur bzw. Literatur in slawischen Sprachen und pflegt vorwiegend die in der Monarchie vertretenen Sprachen: Tschechisch, Slowakisch, Polnisch, Ukrainisch, Serbisch, Kroatisch, Bosnisch, Slowenisch. Daneben aber auch Kirchenslawisch, Russisch, Weißrussisch, Bulgarisch und Mazedonisch.

Sammelschwerpunkt

  • Fachspezifische Nachschlagewerke
  • Etymologie
  • Literaturgeschichte
  • SchriftstellerInnenbiografien
  • Klassische Primärtexte in kritischen Ausgaben
  • Werk-, Brief-, und Tagebuchausgaben
  • Handschriften-Faksimiles und textkritische Ausgaben sprachgeschichtlicher Denkmäler, Geographica, Musicalia, Theatralia

In Auswahl

  • Wörterbücher, Grammatiken und Lehrbücher.
  • Belletristik in Originalsprache und in deutscher Übersetzung (insb. Werke von literaturgeschichtlicher Bedeutung, großer öffentlicher Resonanz und Werke von LiteraturpreiträgerInnen).
  • Geisteswissenschaftliche Literatur in der jeweiligen Landessprache mit besonderer Berücksichtigung der für die Spezialsammlungen der ÖNB relevanten Werke.

3.2.4 Geschichte inkl. historische Hilfswissenschaften

Das relativ hohe Gewicht der historischen Disziplinen in der Sammeltätigkeit der ÖNB ist durch die gewachsene Bestandsstruktur sowie durch die spezifischen Sammelaufgaben des Hauses begründet.
Da Österreich mit einer Reihe von Ländern zu verschiedenen Zeiten durch eine gemeinsame Geschichte verbunden war bzw. infolge von dynastischen Verflechtungen einen gewissen Einfluss auf diese Länder genommen hat, bildet Literatur über diese Länder in den fraglichen Epochen ebenso einen Sammelschwerpunkt. Dies betrifft etwa Länder bzw. Gebiete wie Spanien, Mexiko, die Lombardei, Venetien, die Toskana, Belgien, die Niederlande, die österreichischen Vorlande, Bayern, die Schweiz, Liechtenstein und sämtliche Nachfolgestaaten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie.

Eine besondere Verpflichtung stellen die umfangreichen historischen Quellenbestände in den Sammlungen des Hauses dar, die eine forcierte Erwerbung relevanter Literatur als Grundlage laufender und künftiger Projekte zur wissenschaftlichen Erschließung dieser Bestände erfordern.
Gesammelt werden in erster Linie wissenschaftliche Literatur (Quelleneditionen und Sekundärliteratur, Forschungsberichte, Bibliografien, Monografien über wichtige Spezialthemen, Biografien, Tagungsliteratur, Festschriften, Referenzliteratur), in begründeten Ausnahmefällen auch Literatur, die sich an ein breites, nicht fachwissenschaftliches Publikum wendet, sofern Forschungsergebnisse in allgemein verständlicher Form zusammengefasst werden.

Sammelschwerpunkte

Geschichte bis 1913, Ur- und Frühgeschichte, hist. Hilfswissenschaften, Militärgeschichte

Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftstheorie und Methodenlehre der geschichtswissenschaftlichen Fächer unter Berücksichtigung interdisziplinärer Entwicklungen:

  • Universal- und Weltgeschichte
  • Ur- und Frühgeschichte
  • Geschichte aller Epochen und Kulturen
  • Geschichte Europas mit vertiefendem Schwerpunkt zur Geschichte und Kultur Mitteleuropas, Ost- und Südosteuropas
  • Sozial- und Wirtschaftsgeschichte unter verstärkter Berücksichtigung von Mentalitätsgeschichte und Alltagsgeschichte
  • Kultur- und Geistesgeschichte
  • Quellen- und Archivkunde
  • Historische Hilfswissenschaften

Geschichte ab 1914

  • Politische Geschichte Europas
  • Geschichte der europäischen Staaten ab 1914, Schwerpunkt Mittel- und Osteuropa
  • Politische Geschichte ab 1945

Politik

  • Politische Theorie
  • Politik, politische Geschichte einzelner Staaten in Sekundärliteratur, Biografien
  • Autobiografien mit Schwerpunkt Europa

In Auswahl

  • Politische Ideengeschichte
  • Zeitgeschichte vor 1945
  • Internationale Politik
  • Militärgeschichte
  • Internationale Konflikte seit 1945
  • Sozialgeschichte
  • Fachspezifische Darstellungen zur Politikwissenschaft

Nicht Sammelgebiet

  • Fachdidaktische Literatur (mit begründeten Ausnahmen)

3.2.5 Interdisziplinäre Frauenforschung / Feministische Theorie

Seit der Einrichtung der frauenspezifischen Dokumentationsstelle Ariadne an der ÖNB 1992 bildet dieser Bereich einen weiteren Sammelschwerpunkt.

Sammelschwerpunkte

  • Fachspezifische Nachschlagewerke
  • Briefwechsel etc.
  • Grundsatzliteratur zur feministischen und Geschlechter-Theorie (neben dem deutschsprachigen vor allem auch aus dem angloamerikanischen Raum).
  • Forschungsarbeiten zu Themen wie: Frauengeschichte, Philosophie, Frauenbewegung, Politik und Gesellschaft, Sozialisation und Geschlechterdifferenz, Psychologie, Feministische Theologie und Religion, Sprache und Literatur, Kunst und Kultur, Bildung und Wissenschaft etc.
  • Wichtige feministische Zeitschriften

In Auswahl

  • Primärliteratur (in Ausnahmefällen).
  • Graue Literatur aus obigen Forschungsschwerpunkten.

Nicht Sammelgebiet

  • Medizinische und naturwissenschaftliche Fachpublikationen im engeren Sinne (z.B. Gynäkologie).

1) Wilhelm Dilthey: Einführung in die Geisteswissenschaften. Leipzig 1883


last update 03.09.2016