Hieroglyphen und Alphabete

"Hieroglyphen und Alphabete" heißt die neue Sonderausstellung im Papyrusmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek. Sie präsentiert über 75 bemerkenswerte Objekte aus Papyrus, Pergament, Papier und Ton, die das Unterrichtssystem des alten Ägypten eindrucksvoll belegen. Diktate und Schulaufsätze, aber auch mathematische Tabellen, Rechenaufgaben und Reste antiker Lehrbücher zur Geometrie werfen dabei Fragen auf, die uns noch heute beschäftigen: Wie wichtig ist ein freier Zugang zu Wissen, wie wichtig ist Elitenbildung? Und wie geht man mit Mehrsprachigkeit in Ausbildung und Verwaltung um? Die ausgestellten Schriftstücke stammen aus der Zeit der Pharaonen, Griechen und Römer und reichen bis ins arabische Frühmittelalter. Erste, zittrige Schreibversuche und ungelenke Schreibübungen sind ebenso zu entdecken wie anspruchsvolle Abschreib- oder Stilübungen. Der Kontakt mit Schriftstücken von Schülern und Lehrern aus über 2.500 Jahren Unterricht ermöglicht dabei einen spannenden Einblick in kulturhistorische und soziale Phänomene und versetzt noch heute in den Alltag der Menschen von damals.

Wissen ist Macht
Im Ägypten der Pharaonen war Wissen Macht und das Schreiben und Rechnen eine elitäre Angelegenheit: Nur Priester, staatliche Amtsträger und professionelle Schreiber beherrschten die komplizierte Hieroglyphenschrift, Schulen existierten nur in Form von kostspieligem Privatunterricht. Die meisten Menschen vor allem am Land waren AnalphabetInnen und mussten bei Pachtverträgen oder Heiratsurkunden professionelle Schreiber und schriftkundige Vorleser beauftragen. Jahrhunderte später boten die griechische und lateinische Schrift, das Koptische und schließlich das Arabische mit ihrer jeweils überschaubaren Anzahl von Buchstaben wesentlich bessere Voraussetzungen für eine Alphabetisierung größerer Bevölkerungsgruppen. Aber auch dann galt, dass privater Unterricht teuer und daher nur der oberen Gesellschaftsschicht zugänglich war.

Bildung ohne Schulpflicht
Das antike Unterricht- und Erziehungswesen hatte also recht wenig mit heutigen Vorstellungen eines Bildungssystems gemein: Es gab keine Schulpflicht und auch keine irgendwie näher festgelegte, allgemein verbindliche Schulbildung; weder sind Lehrpläne noch dem Alter angepasste Schulbücher überliefert. Schüler – Schriftbeherrschung war in der Antike eine fast ausschließlich männliche Angelegenheit – hatten selten eigene Beschreibstoffe zur Hand: Sie übten auf bereits beschrifteten, nicht mehr aktuellen Schriftstücken. Manche der ausgestellten Papyrusblätter sind daher nach allen Richtungen vollbeschrieben, sodass die Zeilen übereinander zu liegen kommen.
Der Unterricht in der Antike war zudem individuell und frei gestaltet. Die Lehrenden waren privat zu bezahlende Gebildete und Gelehrte, die ihren Unterricht gegenüber ihren Konkurrenten attraktiv erscheinen lassen mussten. Das Niveau der schulischen Bildung war entsprechend unterschiedlich, was sich auch in den Papyri deutlich zeigt.
Dennoch lässt sich ein dreistufiges Muster erkennen, in dem dann frei agiert wurde. Zuerst ging es um den Erwerb grundlegender Lese-, Schreib- und Rechenkenntnisse, die ein Elementarlehrer (griech. grammatistes bzw. lat. ludi magister) ergänzend zur "vorschulischen" Erziehung durch das Elternhaus vermittelte. Mit ungefähr elf Jahren setzte der Unterricht im gymnasion ein, parallel dazu erfolgte der Privatunterricht bei einem grammatikos, der den Schülern die Grundzüge und wichtigsten Werke der Literatur nahe brachte sowie die grammatikalischen und orthographischen Kenntnisse trainierte. Das gymnasion war eine Unterrichtsanstalt für Buben aus privilegierten Schichten, die gewöhnlich durch Zuwendungen wohlhabender Bürger und privater Stiftungen finanziert wurde. Der Unterricht dauerte ungefähr bis zum 17. Lebensjahr und setzte neben der körperlichen Ertüchtigung den Schwerpunkt auf vertiefende Sprachkenntnisse, die über die Lektüre bedeutender Epiker, Lyriker, Dramatiker, Historiker und Redner erarbeitet wurde. Nachdem die Schüler das gymnasion absolviert hatten, besuchten sie schließlich Rhetoren-Schulen, um ihre schriftliche und mündliche Ausdrucksweise zu perfektionierten.

Schreib- und Rechenübungen
Erziehung und Unterricht fanden in der Antike überwiegend mündlich statt. Umso bedeutsamer sind die ausgestellten Papyri, sind sie doch die einzigen Zeugen für den Schrifterwerb in antiken Kulturen. Am Beginn stand dabei das Erlernen der einzelnen Buchstaben, bis schließlich das ganze Alphabet beherrscht wurde. Mehrfach zeigt sich, dass das Alphabet nicht nur in der üblichen Abfolge, sondern auch rückläufig geschrieben (und aufgesagt) werden musste.
Der nächste Schritt war die Verbindung einzelner Buchstaben zu Silben. Diese Übung war wohl deshalb notwendig, weil die Antike auch in ihren literarischen Büchern keine Worttrennung und keine Satzzeichen kannte, sondern alles in scriptio continua – also wie "in einer Wurst" – niederschrieb; so konnten die einzelnen Worte und die Satzgefüge nicht im Schriftbild, sondern erst beim Lesen erkannt werden.
In der dritten Stufe ging es schließlich darum, Texte möglichst fehlerfrei, aber auch ästhetisch niederschreiben zu können. Das wurde in Abschreibübungen literarischer oder theologischer Texte oder mit Diktaten geübt. In der Ausstellung ist der Text eines solchen Diktats zu sehen: die Geschichte vom "Vatermörder". Sie war Schreibübung und zugleich pädagogische Botschaft und moralische Ermahnung.
In der Mathematik lassen die Papyri ähnliche Methoden und Zielsetzungen erkennen: Zunächst mussten die Zahlen und Zahlsysteme erlernt werden, danach die fortlaufenden Zahlenreihen und schließlich die Additionen, Multiplikationen und Divisionen. All diese Rechenvorgänge wurden in übersichtlichen Tabellen zusammengestellt. Für die Belange der Buchhaltung und des Geschäftsverkehrs waren zudem die Bruchzahlen wichtig. Da es damals noch kein Rechnen in Dezimalstellen gab, waren auch hier Tabellen die einfachste Art, den Umgang mit Bruchzahlen zu lernen oder sie zum Nachschauen parat zu haben. Einen wichtigen Platz im Mathematik-Unterricht nahm auch die Geometrie ein. Die Berechnung von Flächen hatte im Land am Nil, wo nach der alljährlichen Überflutung sämtliche Äcker und Grundstücke neu vermessen werden mussten, einen ganz konkreten und praktischen Hintergrund.


Höhepunkte antiken Unterrichts

Lobpreis auf Pi-Ramesse
Auf der Vorderseite dieses sehr gut erhaltenen Papyrusblattes finden sich 13 Zeilen eines Lobpreises auf die Stadt Pi-Ramesse, dem Sitz der neu erwählten Hauptstadt unter Ramses II. Der Text ist in hieratischer Schrift abgefasst, also der altägyptischen Alltagsschrift, die parallel zu den Hieroglyphen in Verwendung war. Dass es sich bei dem Blatt um eine Schülerhandschrift handelt, kann man aus den zahlreichen Wortwiederholungen (Vorübungen?) und Korrekturen schließen.

Koptisches Syllabar
Ein Syllabar ist eine Liste von Silben, wobei verschiedene Konsonanten mit den Vokalen kombiniert werden. Dieses Übungsblatt in koptischer Schrift beginnt mit der Vokalreihe ("a", "kurzes e", "langes e", "i", "kurzes o", Ypsilon und "langes o") und Xi, gefolgt von der Vokalreihe mit Pi, Rho, Sigma und Dschandscha. Danach beginnt die Übung in umgekehrter Reihenfolge. Abschließend werden Kombinationen mit drei Buchstaben (Konsonant + Vokalreihe + Konsonant; z. B. BAB, BEB, usw.) versucht. Wie die schwankende Größe der Buchstaben und das Verfehlen der Zeilengrundlinie zeigt, bereitete dem Schüler das Schreiben einige Schwierigkeiten.

Diktat der Erzählung vom Vatermörder
Diese in zahlreichen Papyri belegte Geschichte wurde während der Spätantike offenbar über mehrere Jahrhunderte hinweg als Diktat oder Abschreibübung zur Festigung der Rechtschreibung verwendet. Der Inhalt: Ein Sohn tötet den eigenen Vater und flieht aus Furcht vor den Gesetzen in die Wüste. Auf seiner Flucht wird er von einem Löwen verfolgt, weshalb er auf einen Baum klettern möchte. Dort befindet sich jedoch eine Schlange, sodass der Vatermörder nicht hinauf klettern kann und umkommt. Der Text wurde auf diesem Papyrusblatt oben und unten mit einer Zierleiste umrahmt. Auffällig ist der erste, übergroß angelegte Buchstabe, der als verzierte Initiale hervorgehoben ist. Der Schreiber hatte offenkundig Probleme mit dem Griechischen, denn der Text enthält zahlreiche orthographische Fehler.

Herakles und der Kaiser
Eine kalligraphisch geschulte, sehr sorgfältige und auf Ästhetik bedachte Schreiberhand, vermutlich die eines Lehrers, hat zwei Aufsatzthemen auf dem Papyrusblatt festgehalten. Das eine Thema lautet sinngemäß: "Vergleiche die Taten des Herakles mit den Leistungen unseres Kaisers" und verlangt sowohl Kenntnis der Mythologie als auch der aktuellen historisch-politischen Ereignisse. Beim zweiten Thema fehlt am rechten Rand des Papyrusblattes ein Teil des Textes, weshalb ein vollständiges Verständnis des Satzes nicht möglich ist. Die Vermutung liegt aber nahe, dass in der Lücke lediglich die Worte ho kosmos ("die Welt") fehlen – und das Thema folglich lauten würde: "unsere Welt ist aus ähnlichen Welten geschaffen worden"; es handelt sich also vermutlich um eine philosophische, eventuell naturwissenschaftliche Frage an Schüler.

Übung von Zierbuchstaben: Europe und Pasiphae
In dekorativ verzierten Buchstaben sind hier die Namen zweier berühmter Frauengestalten der griechischen Mythologie niedergeschrieben: Dreimal wird der Name Europe wiederholt; die Tochter des phönizischen Königs Agenor wurde vom Göttervater Zeus in der Gestalt eines Stieres über das Meer nach Kreta entführt. Dieser Erdteil wurde dann nach der Königstochter Europa benannt. Als zweite wird Pasiphae genannt, die Mutter des Minotaurus. Der Papyrus illustriert die Rolle der Mythologie und die Vermittlung der Sagenstoffe im antiken Unterricht.

Griechischer Hymnus auf einer arabischen Steuerliste
Die Erstverwendung zeigt eine arabische Liste von Steuerzahlern: Offenbar stammte sie aus der Produktion einer Kanzlei und von der Hand eines erfahrenen Kanzleischreibers. Die Rückseite wurde später, von anderer Hand, zur Niederschrift eines griechischen Hymnus an Jerusalem wiederverwendet. Rück- und Vorderseite enthalten außerdem arabische Schreibübungen von offenkundig derselben Hand, die auch den Hymnus verfasste.

Übung des herakleopolitanischen Kanzleistils
Dieses Papyrusblatt, das zuvor eine Abrechnung über Artaben (Raummaß der Antike) von Weizen getragen hat, ist auf beiden Seiten für Übungen in einem besonders gestalteten Kanzleistil gebraucht worden, den man als den "herakleopolitanischen Schreibstil" bezeichnet. Der versierte Schreiber hat diverse Namen und Titel in diesem Stil geübt, aber auch mehrfach das übergroße Phi und den Schriftzug Flavianus (Phlaouianos) ausprobiert.

Übung der Buchschrift
Auf der Schauseite dieses Pergaments ist der ursprüngliche Text des Blattes zu sehen – der Schluss einer Festrede auf den Erzengel Michael –, auf der Rückseite trägt es eine Erzählung über das Martyrium des Hl. Ignatius. Beides wurde in Sahidisch geschrieben, einem Dialekt der koptischen Sprache. Unter der Zierleiste mit Punkten und Strichen beginnt die Schreibübung im faijumischen Dialekt. Der Text, den der Schüler schreibt, lautet: "Segnet mich. Ich bereue. Vergebt mir, meine heiligen Väter. Jeder, der lesen wird in den Schriften …". An den unterschiedlich großen und verschieden geformten Buchstaben ist erkennbar, dass der Lernende die Schrift noch nicht gut beherrscht. Es hat ihm außerdem Mühe bereitet, die Zeilengrundlinie einzuhalten.

Multiplikationstabelle
Ursprünglich war dieses helle, kräftige Papier auf der Vorderseite mit einem arabischen Text beschrieben und wurde in Zweitverwendung für eine Übung von Multiplikationen herangezogen. Der Lernende hat jede neue Multiplikationsreihe in einer neuen Spalte begonnen und schreibt die Multiplikation, wie auch wir es in der Schule lernen, also z. B. 3 × 1= 3. Aus diversen Auslassungen kann man schließen, dass es sich um eine Mathematikübung und keine professionelle Multiplikationstabelle handelt.

Flächenberechung und Homertext
Die umfangreiche Rolle scheint nach ihrem Inhalt für den Schulgebrauch hergestellt worden zu sein. Auf der Vorderseite enthält sie einen Abschnitt der Ilias, das älteste schriftlich fixierte Werk Europas, und fünf mathematische Aufgaben, die auch durch Zeichnungen anschaulich gemacht werden. Es geht um die Flächenberechnungen von Kreisen, Halbkreisen oder ähnlichen geometrischen Figuren. Der Text der Problemstellung lautet beispielsweise: "Gegeben ist ein Kreis, dessen Perimeter 30 Schoinia beträgt. Wieviele Aruren hat er? Wie man vorgehen muss: Multipliziere die 30 Schoinia mit sich selbst, macht 900. Nimm davon ein Zwölftel, macht 75. Soviele Aruren hat der Kreis, wie hier unten angegeben ist".

Schreibbrett mit Divisions- und Multiplikationstabellen
Die Holztafel enthält auf beiden Seiten mathematische Tabellen mit wiederholten Rechnungen, die daher vermutlich aus dem Schulbereich stammt und nicht als Nachschlagewerk für die Buchhaltung gedient hat. Seite A beginnt mit einer Halbierungstabelle, in der die Zahl 6.000 und danach die Zahlen von 1 bis 10.000 dividiert werden. Es folgt eine Verdopplungstabelle der Zahlen von 1 bis 10.000, schließlich eine Tabelle der Bruchzahlen der Zahl 6.000. Auf Seite B steht u. a. eine Halbierungstabelle mit Dividenden von 1 bis 100.

Ort

Papyrusmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek
Neue Burg, Heldenplatz, 1010 Wien

Dauer

16. Juni 2016 – 8. Jänner 2017

Öffnungszeiten

Dienstag – Sonntag 10 – 18 Uhr
Donnerstag 10 – 21 Uhr

Sommeröffnungszeiten

Juni, Juli, August, September
täglich 10 – 18 Uhr
Donnerstag 10 – 21 Uhr

Eintritt

€ 4,–
Ermäßigungen siehe hier
Kinder und Jugendliche unter 19 Jahren haben freien Eintritt in alle musealen Bereiche.

Freier Eintritt

Ö1

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Zur Ausstellung

Begleitbuch zur Ausstellung an der Museumskasse € 24,00

Hinweis

Informieren Sie sich über das Papyrusmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek

last update 15.06.2016