Der Arbeiterinnen-Bildungsvereins in Wien durchläuft eine wechselvolle Geschichte, Gründungen, Auflösungen, Engagement, intensive Mitgliederwerbung wechseln in der Bestehungsgeschichte einander ab. Die konstituierende Gründungsversammlung findet am 5. Februar 1871 im Gasthaus "Engel" in Fünfhaus statt. Die Zentrale wird folglich im 6. Bezirk in der Gumpendorferstraße 64 eingerichtet mit Lesezimmern in vielen anderen Bezirken. In diesen haben die Frauen die Möglichkeit - neben dem üblichen Handarbeitsunterricht, sich Kenntnisse in Stenographie, Fremdwörtern, Musik, Gesang, Tanz und Schönschrift anzueignen. Eine Bibliotheks-Sektion verwaltet die Buchbestände; diese sozialdemokratische Frauenorganisation existiert nur kurze Zeit; Tätigkeiten nach 1873 sind leider nur spärlich dokumentiert. Mit dem Niedergang der Arbeiterbewegung und der Spaltung in eine "gemäßigte" und eine "radikale" Fraktion löst sich 1877 auch der Arbeiterinnen-Bildungsverein auf. Die nächste Initiative erfolgt erst 1889. Am 8. März (dem späteren Frauentag!) veröffentlicht die engagierte Arbeiterin
Viktoria Kofler einen Aufruf im sozialistischen Wochenblatt "Gleichheit", in dem sie an ihre Genossen appelliert: "Lasset uns an Euren Studien teilnehmen, errichtet Unterrichtskurse für Arbeiterinnen, bemüht Euch, die Euch bekannten Arbeiterinnen dafür zu interessieren, und Ihr werdet bald uns nicht nur zahlreich bei Euren Versammlungen erscheinen, nein, in Euren Reihen mutig kämpfend sehen." Am 29. Juni 1890 kommt es mit Unterstützung von
Viktor Adler im Gasthaus "Zum Goldenen Luchsen" in Lerchenfeld zur Neugründung des "Arbeiterinnen-Bildungsvereins".
Anna Altmann (geb. 1851), die erste sozialdemokratische Rednerin in Österreich, wird aus diesem Anlaß von Viktor Adler aus Polzental in Böhmen nach Wien berufen, um den Frauen die Notwendigkeit und Bedeutung der Organisation auseinanderzusetzen. Sie spricht bei dieser Veranstaltung über die "Lage der Arbeiterin". Der Vorstand wird hauptsächlich aus Frauen und Töchtern von Parteigenossen zusammengesetzt: erste Obmännin ist Anna Steiner, die Frau eines Bäckereiarbeiters. Der Vereinsraum wird im Fachverein der Bäckergewerkschaft, Wien 15, Neubaugürtel 44 eingerichtet. Dort gibt es auch eine Bücherei mit den wichtigsten Informationsbroschüren und Lehrbücher u.a. zum Elementarunterricht, Lesen und Schreiben, Deutsche Sprache, Literatur, Gesundheitspflege, Buchhaltung u.v.a.m. Der vorgeblich "unpolitische" Arbeiterinnen-Bildungsverein sah seine Hauptaufgabe darin, Bildung und Wissen unter den Arbeiterinnen zu verbreiten. Dies war auch deswegen notwendig, da viele Gewerkschaften, die als die eigentlichen Schulungsorganisationen der Partei galten, Frauen den Zutritt verweigerten, weil sie in ihnen vorrangig Lohndrückerinnen sahen (= Proletarischer Antifeminismus). Folglich erfreute sich der Arbeiterinnen-Bildungsverein regen Zustroms und zählte mehrere Hundert Mitglieder. Der Verein bildet somit die Wurzel der sozialdemokratischen Frauenbewegung: 1891 bildeten die Frauen bei den Maifeiern einen eigenen Zug und zu Pfingsten 1891 beim zweiten Parteitag der österreichischen Sozialdemokratie durfte der Verein zwei Delegierte entsenden: Viktoria Kofler und Alice Salomon. Auch die Lehrerinnen
Auguste Fickert und I
da Baumann halten immer wieder Vorträge. Ab 1892 wird in der Arbeiterinnen-Zeitung intensiv um neue Mitglieder geworben; später wird mit einer Statutenänderung auch Niederösterreich einbezogen.
Ein Zusammengehen mit der bürgerlichen Frauenbewegung wird von den Arbeiterinnen schon 1892 anlässlich der Gespräche über die Teilnahme an dem von Auguste Fickert geplanten Frauentag abgelehnt.
Adelheid Popp beginnt 1891 ihre Agitation und veranstaltet am 1. Oktober 1893 eine Arbeiterinnenversammlung, in der auch Lotte Pohl und
Amalie Seidel den Kampf um das Frauenwahlrecht vertreten. Auch die die junge Textilarbeiterin Maria Krasas erhält hier ihre Schulung als Agitatorin. Und mit 19 Jahren schickte sie der Arbeiterinnen-Bildungsverein als Sprecherin für die Frauen in den Weihnachtsfeiertagen 1893 zum ersten Gewerkschaftskongress. Nach Gründung des
Lese- und Diskutierklubs "Libertas" verliert der Verein 1895 zunehmend an Bedeutung - gegenüber den neu gegründeten Gewerkschaftsorganisationen - und wird aufgelöst. Am 18. März 1895 findet die letzte Generalversammlung statt; die reichhaltige Bücherei wird dem Arbeiter- und Arbeiterinnen-Bildungsverein Hernals übertragen .
1898 wird von der ersten sozialdemokratischen Frauenkonferenz sogar ein Gründungsverbot für spezielle Arbeiterinnen-Bildungsvereine beschlossen, um eine bessere Organisation von Frauen in den Gewerkschaften (und eigenen Frauensektionen) zu erreichen.
Popp, Adelheid: Der Weg zur Höhe. Wien, 1929,
www.dasrotewien.at
Frauen in der Sozialdemokratie / Renner-Institut, Wien
Edith Hahn: „Durch die Weiber kann man viel, sehr viel ausrichten." Frühformen der Arbeiterinnenorganisierung (1870-1890). In: Archiv. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung . - Wien , 1961