Serbien: Eine Winterliche Reise (1996)

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In der ersten Hälfte der 1990er-Jahre wurden die Sezessionskriege auf dem Balkan immer brutaler; die Serben erschienen in der Weltöffentlichkeit zu­meist als die alleinigen Aggressoren. Im Juli 1995 kam es in der ostbosni­schen Stadt Srebrenica zum größten Massaker auf europäischem Boden nach 1945. Paramilitärische serbische Truppen unter Führung des Gene­rals Ratko Mladić drangen in die UN-Schutzzone ein und ermordeten etwa 8000 männliche Bewohner. Am 21. November 1995 wird auf starken inter­nationalen Druck der Friedensvertrag von Dayton geschlossen. Bosnien-Herzegowina wird zu einem föderativen Staat mit zwei Entitäten und die Demilitarisierung des gesamten Gebietes von internationalen Schutztrup­pen überwacht.

In zwei aufeinanderfolgenden Wochenendbeilagen der Süddeutschen Zeitung erscheint im Jänner 1996 Peter Handkes Essay Gerechtigkeit für Serbien, der im Untertitel Eine Winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina heißt. Für die kurz später erfolgte Buchpublikation bei Suhrkamp wird der Titel in seiner Reihenfolge umgestellt. Der Text basiert auf einer Reise, die Handke gemeinsam mit seiner Frau Sophie Se­min und zwei jugoslawischen Freunden im November und Dezember 1995 durch Serbien unternommen hat. Mit literarischen Mitteln und aus eige­ner Anschauung heraus trachtet Handke in dem Text danach, die Wahrheit über das Land und den Konflikt zu erzählen.

Die Veröffentlichung des Textes löst eine breite Debatte aus. Von großen französischen und deutschen Zeitungen (federführend: Gustav Seibt in der FAZ und Peter Schneider im Spiegel) wird der Autor zu einem ideologisch verbrämten Serben-Freund gestempelt und ihm implizit die Leugnung des Massakers von Srebrenica unterstellt. Die Art seiner litera­rischen Wahrheitsfindung erntet harsche Kritik, wobei insbesondere auch die Beschreibung des Marktes von Belgrad in der Winterlichen Reise für An­stoß sorgt. Die dortige Lebensmittelknappheit wird bei Handke zu einem Gegenbild zur kapitalistischen Verschwendung.

Um die Debatte auf den Text der Winterlichen Reise rückzubinden und das Thema auch literarisch zu diskutieren, begibt sich Handke entgegen seiner Gewohnheit, aus eigenen Werken nicht mehr öffentlich vorzulesen, mit dem Buch auf eine Lesereise, die ihn durch zahlreiche deutsche Städte führt. Bei einer Diskussionsveranstaltung im Wiener Akademietheater kommt es zu einem Eklat. Handke attackierte einen Journalisten des österreichischen Magazins News, der ihm aus dem Publikum eine Frage gestellt hatte, mit den Worten: »Schieben Sie sich Ihre Betroffenheit in den Arsch!« Auch aus diesem Auftritt wurde in den Medien eine große Geschichte gemacht. Eine literarische Debatte, wie Handke sie sich gewünscht hatte, war zu je­nem Zeitpunkt nicht mehr möglich. Die Winterliche Reise war zum reinen Politikum geworden und kostete den Autor zahlreiche Sympathien. (kk)

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