[1/ S. 150:] Das Computerzeitalter, in dem Begriffe wie »Speichern« oder »Archivieren« wieder zur Umgangssprache gehören, hat nicht nur
die Arbeit der Archive, sondern auch das Bewußtsein im Umgang mit archivischem Material verändert. Die Vorstellung, auf abgespeicherte
Daten zuzugreifen, um daraus das Fundament seiner Arbeit zu schaffen, ist jedem Benutzer eines Rechners vertraut. Solche Selbstverständlichkeit
führt zur Aufwertung der Archive, zur Steigerung ihrer Nutzung wie ihrer Bedeutung. Daß damit ganz neue methodische Probleme
auf die Literaturwissenschaft zukommen, Archivierung, Edition und Interpretation in ein geändertes Verhältnis zueinander geraten,
ist selbstverständlich. Verschiedene Symposien haben sich in den letzten Jahren mit diesen Problemen beschäftigt. Auf ein
solches Kolloquium geht auch dieser Band zurück, wenngleich, wie die Herausgeber betonen, im Laufe der Zeit danach weitere
Beiträge hinzugekommen sind. Dabei hat sich dann sein zweiter Hauptzweck herausgeschält, der darin besteht, dem Leser zumindest
ansatzweise eine Vorstellung der Vielfalt und Verschiedenartigkeit literarischer Archive in Österreich zu geben. Zwar liegt
mit dem von Murray G. Hall und Gerhard Renner herausgegebenen »Handbuch der Nachlässe und Sammlungen österreichischer Autoren«
jetzt ein zuverlässiges Gesamtverzeichnis vor, doch klafft zwischen Informationsmöglichkeit und Informiertheit immer noch
eine Lücke, der etwas elegische Titel des Bandes deutet es an. Er nutzt die Möglichkeit, die Arbeit und die Struktur einiger
Archive besonders herauszustellen. Das ist zur» einen das bekannte Brenner-Archiv (Beitrag von Walter Methlagl), das sind
aber insbesondere regional ausgerichtete Archive, denen in diesem Band das Hauptaugenmerk gilt. Im einzelnen werden vorgestellt:
das Salzburger Literaturarchiv, das Felder-Archiv in Bregenz, die Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur
in Wien, das Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich in Linz und das Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung
in Graz.
Dabei kann der Rückgriff auf die Praxis dieser Archive bloß illustrierenden Charakter haben, wie in dem an Geschichte und
Methodik des literarischen Archivierens interessierten Beitrag von Adolf Haslinger. Er kann andererseits über die Vorstellung
eines kompletten Einzelnachlasses wie den nach Bregenz gelangten Nachlaß der in Vorarlberg geborenen Dichterin Paula Ludwig
(Beitrag von Ulrike Längle) bis zu den interessanten Überlegungen in den Beiträgen von Johann Lachinger (Linz) und Gerhard
Fuchs (Graz) zur Theorie und zu Spezifika regionaler Archivarbeit reichen. Denn gerade am umgrenzten Feld der ›Literaturregion‹
werden die gesellschaftlichen und historischen Funktionen literarischer Archivarbeit besonders deutlich. Regionen ziehen einen
großen Teil ihrer Identität aus der kulturellen Tradition; die Entscheidung, welcher Autor als einschlägig, d. h. als zu einer
Region gehörig angesehen
[1/ S. 151:] wird, welcher des Archivierens wert erachtet wird. welcher vorrangig bearbeitet und eventuell sogar ediert wird, sind deshalb
Entscheidungen, die unmittelbar auf den gesellschaftlichen Prozeß zurückwirken. Gestützt auf die eigene praktische Arbeit
stellt dieser Band hier interessante Fragen und gibt fundierte Antworten.
Literaturarchive erweisen sich auf diese Weise als hoch aktuelle Formen der Datenspeicherung. Andere Speichertypen haben sich
dagegen ganz offenbar überlebt; dazu zählen die großen, auf Vollständigkeit angelegten historisch-kritischen Ausgaben. Am
Beispiel der CD-ROM Edition von Robert Musils Nachlaß zeigen Friedbert Aspetsberger und Arno Rußegger die aus dem Material
erwachsende zwingende Notwendigkeit für eine solche Editionsform. Hier sind wir aber mit Sicherheit erst am Anfang einer Entwicklung,
die durch den Gigantismus der großen Ausgabenprojekte und die dramatisch knapper werdenden Ressourcen ganz zwangsläufig an
Geschwindigkeit gewinnen wird. Mit einem Blick nach vorn in die Zukunft der österreichischen Literaturarchive (Wendelin Schmidt-Dengler)
und einem Blick zurück auf die erste gewissermaßen aus dem Archiv gearbeitete, neugermanistische Edition, Karl Lachmanns Lessing-Ausgabe
(Gerhard Renner), und damit auf das wichtige und zukunftsträchtige Thema der Zusammenarbeit von Archiv, Edition und Interpretation
rundet sich dieser gelungene und lesenswerte Sammelband.
Bernd Kortländer
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