[2/ S. 212:] Es gilt, Abschied zu nehmen. Jenes Instrument, das seit dem 22. Mai 1780 in Österreich dem geneigten Benutzer der Hof- und
nachmaligen Nationalbibliothek zum Auffinden der Bücher verhalf, (ver)schied am 1. Dezember 1998 aus dem Kreis der Suchmaschinen
im Recherchesaal am Wiener Heldenplatz. Aus diesem Grund haben sich im Frühjahr 1999 Bibliothekare, Wissenschaftler und Künstler
versammelt, um des ersten europäischen Nominalkatalogs in Zettelform im Rahmen einer Ausstellung im Museum für angewandte
Kunst in Wien zu gedenken und gegenüber einer stummen Trauergemeinde namens Leserschaft die facettenreiche Geschichte und
Ästhetik des Katalogs mit einem Katalog zu würdigen.
Gemäß der vornehmen Regel der Laudatio funebris, nur Gutes über die Toten, enthält die Dokumentation der Ausstellung zwei
ehrenvolle Grabreden, ein exemplarisches Album mit Katalogisierungs-Regelwerken, eine ergreifende Porträtserie des verwaisten
Katalogs sowie eine Auswahl von Materialien, die den Katalog in Bildern, Quellentexten und als Realie widerspiegelt. Nachdem
der Nominalkatalog am Ende seiner Dienstzeit von der Funktion befreit scheint, auf standardisierten und alphabetisch geordneten
Karteikarten den Fundus der Bibliothek beschreibend zu repräsentieren, erlaubt der kurze Moment, bevor die hölzernen Kästen
die Halle auf immer verlassen - so die Leithypothese der Verfasser -, den Blick zu weiten, von der alltäglichen Perspektive
auf ein Gestell aus Zetteln und Kästen zu lösen, um stattdessen ein Kunstwerk der Bibliothekstechnik wahrzunehmen. »Damit
aber wird der Katalog [...] erstmals als Skulptur im Raum sichtbar.« (S. 7)
Eine phänomenologische Annäherung an »Zettel, Kasten, Katalog« unternimmt zunächst Ernst Strouhal, um ausgehend von der Etymologie
der Begriffe und der zentralen Frage, was das für ein Möbel sei, ein vielfaches Lob auf die Eigenschaften nunmehr dieser Skulptur
auszusprechen. Das Lob der politischen Gesinnung preist das alphabetische Bücherverzeichnis zu Beginn der Moderne als Instrument
demokratischen Zugriffs: Vor der Ordnung des Katalogs sind alle Bücher und Nutzer gleich, die privilegierten Plätze fehlen.
Zum Lob der philologischen Treue: Die Übertragung des trotz mancher Widrigkeit gefundenen Verweises auf den Bestellschein
schult die wissenschaftliche Sorgfalt; nur wer genauestens Signatur und bibliographische Angaben zitiert, erhält den gewünschten
Text überreicht. Das Lob der Handwerkskunst weiß vom sorgsam überlegten Design der jüngsten Kästen, dem zehnten Versuch in
der Genealogie der Wiener Nominalverzettelungen, zu berichten. Der geglückten Zusammenarbeit zwischen experimenteller Präzisionstischlerei,
spätmodernem Produktdesign und avanciertesten Katalogbautheorien bleibt zu verdanken, daß jenes nun verabschiedete Verzeichnis
seinen Dienst stets zuverlässig versah. Erstellt wurde es zwischen 1958 und 1967 mit in Serie geschalteten Schreibmaschinen
der Firmen Remington (Preßluftübertragung, anfällig) und IBM (elek- [2/ S. 213:] trische Verschaltung, robust) aus den bisherigen handgeschriebenen und unstandardisierten Zetteln von 1848. Lob des (internationalen)
Formats.
Die detailbegeisterte und liebevolle Schilderung des Bibliotheksmöbels erfährt eine kongeniale Visualisierung durch die Fotografien
von Octavian Trauttmansdorff, der sich in einer Porträtserie ausgehend von der Totale des Recherchesaals vorsichtig den intimen
Winkeln der serialisierten Katalogkästen nähert. Besonders gefällt die Schublade Nr. 1023 namens Paula.
Auf die enge Kopplung von Moderne, (französischer) Revolution von Spielkarten zu Karteikarten und der österreichischen Vorläuferschaft
in dieser Praxis des Katalogisierens zielt Hans Petschars kulturhistorischer Beitrag »Einige Bemerkungen, die sorgfältige
Verfertigung eines Bibliothekskatalogs für das allgemeine Lesepublikum betreffend«. Die Geschichte reicht von den ersten Konzeptionen,
mit denen die k. u. k. Hofbibliothekare die Ordnung der Moderne unter der Präfektur von Gerhard und später Gottfried van Swieten
entwerfen, bis zum jüngst im Internet virtualisierten Katalogkonzept (vgl. http://www.onb.ac.at/). Wegweisend für die Produktion
von Bibliotheksverzeichnissen unter den Bedingungen säkularisierter Büchermassen zeigt sich bereits 1780 bei den Unternehmungen
zum ersten Nominalzettelkatalog, dem sogenannten »Josephinischen«, die effiziente Organisation der Arbeit: Zum Einsatz kommen
Hilfskräfte, die - wenngleich ohne bibliothekarische Qualifikation - allein nach ihren Fähigkeiten bemessen werden. Ihre Schreibarbeiten
fügen sich nur insofern zu einem einheitlichen Gesamten, als eindeutige Regelwerke mit ebenso deutlichen Verfahrensvorschriften
existieren. Diese Beschreibungsregelwerke, deren Titelbilder in chronologischer Auswahl von Heimo Zobernig abgebildet sind,
verzeichnen den Algorithmus zur Verfertigung von großen Katalogen und formieren damit die bibliothekarische Gebrauchsanweisung
noch vor Martin Schrettingers Begründung einer systematischen »Bibliothek-Wissenschaft« von 1806. Die rationalisierende Tendenz
des Katalogisierungsprojekts schließt gleichwohl eine politische mit ein. Angestrebt wird fortan, die Leistungen der Bibliothek
umzustellen von vorwiegend monarchischer Repräsentation und Nutzung durch wenige Gelehrte hin zu einer Öffnung in Richtung
der bürgerlichen Öffentlichkeit. Die Bemühungen um 1800, die Bibliothek als Institution für jedermann zu etablieren, also
die Administration und Beschreibung des Bücherschatzes zum Vorteil des Verwenders einheitlich auszurichten, scheinen jedoch
erst mit dem ausgelobten Ziel von moderner Dienstleistung in der nicht mehr faßbaren Gestalt von elektronischen und weltweit
zu befragenden Katalogen zu einem Ende zu kommen und verwirklicht zu sein.
Die kataloggeschichtlichen und fotografieästhetischen Beiträge werden durch eine umfangreiche Dokumentation ergänzt, gegliedert
nach Außen- und Innenansicht, die sowohl Fragmente aus literarischen Quellenmaterial (Friedrich Nicolai, Robert Musil und
andere) liefert, als auch Impressionen vom zeitgenössischen bibliothekarischen Diskurs gewährt. Erst der Vergleich zwischen
Quellen und Darstellungen trübt die beinahe uneingeschränkte Freude während der Lektüre ein wenig. Die beredsamen Darstellungen
zollen ihren [2/ S. 214:] Tribut den oftmals wortgetreuen Quellen-Passagen. Diesen kaum paraphrasierten Zitaten hätte vielleicht etwas Distanz geholfen,
um noch weitere Reflexionen zu eröffnen und Redundanzen zu vermeiden.
Die Dokumentation schließt mit einer Fotografie vom letzten Gang des Nominalkatalogs. Mit militärischen Ehren (und vier würdigen
Trägern) verläßt nicht nur General Stumm die Bibliothek, schweigend. Hinterlassen wird eine Lücke, deren große Leere die Bedeutsamkeit
des Katalogs zu Lebzeiten ermißt. Steht zu hoffen, daß dieser Anblick die Leser nicht zu jenem Zustand rührt, welcher ehedem
den Hofbibliotheksdiener Johann Lechner 1779 des Dienstes entsetzte: Melancholie.
Aus meinem Rezensionsexemplar rutscht eine als Illustration beigelegte Karteikarte hervor, die streng nach der österreichischen
Katalogisierungspraxis (die leicht von den »Preußischen Instruktionen« abweicht) als Nominalordnungswort »Grosz« verzeichnet
und »Bilanz« als begriffliche Einordnung des Titels. Das Kompositum gibt vielleicht das Ziel dieses Buches vor, das aus ästhetischer
wie informativer Sicht nicht anders als gelungen zu bezeichnen ist. Vielleicht aber diffundiert der Katalog in sein eigenes
Denkmal. Gesetzt den Fall, Sie finden in Ihrem Katalog eine andere als die großbilanzierende Karteikarte, so bleibt anzunehmen,
daß sich der gesamte ehrwürdige und abdankende Nominalkatalog in Zettelform von 1966 auf die Auflage dieser Ihnen vorliegenden
Dokumentation verteilt. Was einer Auflage von 2,6 Millionen Exemplaren entspräche. Dem Ausstellungsband sei sie zu wünschen
wie eine ebenso zahlreiche Leserschaft.
Markus Krajewski
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