[3/ S. 149:] Die Reichweite des Erzählwerks und der Essayistik des Romanciers, Psychologen, Essayisten und Kulturphilosophen Manès Sperber
(Zablotow / Ostgalizien 1905 - Paris 1984) hat schon zu Lebzeiten des Autors die Grenzen der deutschsprachigen Literatur überschritten.
In den 70er Jahren wurde ihm in zunehmendem Maß die Rolle des kritischen liberalen Europäers zuteil. Leben und Werk des in
der Tradition des Chassidismus aufgewachsenen Sperber dokumentieren den Wandel der Geschichte in Ost- und Mitteleuropa in
diesem Jahrhundert. Die systematische Erschließung dieses singulären Lebenslaufs - und somit eine vollständige Werkbiographie
Sperbers - scheiterte lange Zeit nicht zuletzt an der Verstreutheit und zuweilen auch schweren Zugänglichkeit der Quellen.
Um diese Lücken zu schließen, wurde von Oktober 1995 bis April 1999 das Forschungsprojekt »Manès Sperber: Werkmonographie«
(Leitung: Paul Gerhard Klussmann, Gerhard Plumpe und Mirjana Stancic, Ruhr-Universität Bochum, Germanistisches Institut) durchgeführt.
Dazu waren intensive Quellen- und Archivforschungen notwendig: im Österreichischen Literaturarchiv, wo Sperbers Nachlaß verwahrt
wird, in den Beständen des Bundesarchivs in Berlin und Koblenz und in den historischen Archiven und Parteiarchiven in Moskau.
Die Projektergebnisse mündeten in eine Monographie: In sieben größere Kapitel unterteilt, die einerseits dem Werk Sperbers
in chronologischer Abfolge Rechnung tragen, andererseits eine dokumentarische Aufstellung seiner literarischen Arbeiten sowie
den kritischen Apparat bietet, umfaßt die Monographie in ihrer endgültigen Fassung ca. 500 Druckseiten. Auf dem Buchmarkt
wird sie im Lauf des Jahres 2001 greifbar sein.
Manès Sperber kam im Alter von elf Jahren mit seinen Eltern nach Wien, das ihn für seinen weiteren Lebens- und Bildungsweg
zutiefst prägen sollte. Als Studiengebiet wählte er Psychologie und machte Alfred Adler auf sich aufmerksam, der seine Arbeit
mit Interesse verfolgte und förderte. 1927 trat er der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) bei. Von 1927 bis 1933 lebte
Sperber in Berlin. Hier war er Mitbegründer des »Instituts der Berliner Gesellschaft für Individualpsychologie«. Er hielt
Vorträge im Anti-Kriegs-Museum, an der Hochschule für Politik und an der Marxistischen Arbeiterschule (MASCH). In Berlin kam
er u. a. mit Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Egon Erwin Kisch, Arthur Koestler und Wilhelm Reich zusammen. Nach vorübergehender
Verhaftung, in der »Künstlerkolonie« am Rüdesheimerplatz [3/ S. 150:] am 15. März 1933, emigrierte er über Prag, Wien und Jugoslawien nach Frankreich. Von 1934 bis 1936 arbeitete Sperber im Auftrag
der KPD für das »Institut zum Studium des Faschismus« und für den »Weltjugendkongreß gegen Krieg und Faschismus«. Unter dem
Eindruck der Moskauer Schauprozesse verließ er 1937 die KPD. Im Dezember 1939 rückte er in die Fremdenlegion ein, wurde im
Sommer nächsten Jahres demobilisiert und lebte bis September 1942 in Südfrankreich. Von 1942 bis 1945 hielt er sich als Flüchtling
in der Schweiz auf. Nach Kriegsende kehrte er nach Frankreich zurück, wo er bis zu seinem Tod, im Februar 1984, lebte. Sperber
widmete sich fortan seinem schriftstellerischen Schaffen, in das allerdings das Arbeitsgebiet des praktizierenden Psychologen
spürbar eingeflossen ist. Neben der Romantrilogie »Wie eine Träne im Ozean«, Essays und Studien hinterließ er zahlreiche Beiträge
zu literarischen und kulturellen Themen für Rundfunkanstalten. Seine essayistischen Texte schrieb er auch in französischer
Sprache. Sein summum opus, die Romantrilogie über die Geschichte der Kommunistischen Internationale »Wie eine Träne im Ozean«,
wurde in deutscher Sprache 1961 veröffentlicht. Für sein literarisches Schaffen erfuhr Sperber zahlreiche Auszeichnungen und
Ehrungen: Remembrance Award (New York, 1967), Hanseatischer Goethe-Preis (Hamburg, 1973), Georg-Büchner-Preis (Darmstadt,
1975), Großer Österreichischer Staatspreis für Literatur (Wien, 1977), Buber-Rosenzweig-Medaille (Hamburg, 1979) und Friedenspreis
des Deutschen Buchhandels (Frankfurt am Main, 1983).
Als Essayist und Romanschriftsteller zählt Sperber zu den Schlüsselfiguren der modernen deutschsprachigen Literatur. Als aktiver
Zeuge im Inferno des nationalsozialistischen und des kommunistischen Totalitarismus begann er aufgrund seiner Erfahrungen
und Erlebnisse alles doktrinäre Denken und jeden ideologischen Totalitätsanspruch abzulehnen. Mit der Loslösung von der Partei
setzt auch seine schriftstellerische Produktion ein, ein werkästhetischer Reifeprozeß, der ihn in die geistige Nähe der dichtenden
Renegaten rückt.[1] Von Kontroversen und Aporien ist Sperbers Leben geprägt.
In Hinblick auf den Umfang des Nachlasses und die Besonderheiten der Quellenrecherchen sei mit Nachdruck hervorgehoben: Das
zu untersuchende Korpus der Primärliteratur umfaßt mehrere hundert bibliographische Einheiten. Die mehrmalige Durchsicht von
Sperbers Gesamtwerk in seinem Nachlaß durch Mirjana Stancic zeitigte eine Dokumentation, die abgesehen von wenigen Ausnahmen
(die erste Schaffensperiode aus der frühesten Jugendzeit, die Exilzeit in Jugoslawien, Paris, Südfrankreich und in der Schweiz)
als vollständig anzusehen ist. Die vorhandenen Lücken wurden aus anderen zugänglichen Quellen ergänzt (die Sammlung der Witwe
Manès Sperbers, die bereits publizierten Studien zu Sperber, in erster Linie die Monographie der französischen Germanistin
Anne-Marie Corbin-Schuffels). Das ausschließlich durch Autopsie zusammengetragene, besonders umfangreiche, alle literarischen
Gattungen umfassende Quellenmaterial diente als Korpus für die durchgeführten literaturwissenschaftlichen Untersuchungen.
Die Recherchen in den Archiven, Bibliotheken, Privatsammlungen, die Interviews mit Zeitzeugen und Fachleuten vervollständigten
die Erkenntnisse über die Wirkungshorizonte des Autors, darüber hinaus auch über die spezifischen literarisch-ästhetischen,
kulturellen, politischen, nicht zuletzt auch wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Epoche, die Sperber entschieden beeinflußt
hatten. Obwohl allen Archivrecherchen nachhaltige Bedeutung für die Erweiterung nicht nur der positivistischen Erkenntnisse
über den Autor und seine Zeit beizumessen ist, erwiesen sich die Recherchen in den Archiven der Russischen Föderation in Moskau
als besonders aufschlußreich. Einzelne Ergebnisse des Projekts wurden bereits in Fachpublikationen mitgeteilt.[2]
Mirjana Stancic
ANMERKUNGEN
1]
Vgl. Michael Rohrwasser: Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten. Stuttgart: Metzler 1991, S. 20f.
2]
Vgl. etwa Mirjana Stancic: Manès Sperber und die Linke. Der historische, politische und literarische Kontext. In: Weimarer
Beiträge 44 (1998), S. 392-410.
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