Entstehungskontext
Rund vier Jahre, nachdem Peter Handke mit Le nu perdu / Rückkehr stromauf seine erste große Übersetzungsarbeit an Gedichten René Chars beendet hatte, kam er im Sommer 1987 wieder auf das Werk des Dichters zurück. In einem Brief vom 29./30. Mai 1987 an Peter Handke erwähnt Alfred Kolleritsch seine Lektüre, die er Handke vor allem in Bezug auf die Abwesenheit nahelegt: In einem Aufsatz von Reiner Schürmann, »eine[r] Erläuterung zu René Char – Hölderlin – Heidegger« werde »das Problem der Abwesenheit – Anwesenheit diskutiert« (Handke / Kolleritsch 2008, S. 168).
»Heute habe ich nichts zu tun!«
Handkes Reaktion auf die Lektüreempfehlung lässt der Briefwechsel mit Kolleritsch offen. In seinem Notizbuch ist am 15. Juni 1987 zu lesen: »Es gibt auch das Frohlocken: Heute habe ich nichts zu tun! Und auch morgen nicht« – geschrieben einen Tag, nachdem er noch die letzten Ergänzungen zu der eben fertiggestellten Erzählung Die Abwesenheit notiert hatte. Obwohl der Eintrag weitgehend von Alltäglichem berichtet (Gartenarbeit, ein Gang nach Anif bei Salzburg, ein anschließender Besuch im Hotel-Restaurant Friesacher), übersetzte Handke, den Datierungen auf dem Bleistiftmanuskript zufolge, an diesem und auch an den folgenden Tagen bis zum 19. Juni insgesamt acht Gedichte aus René Chars Les voisinages de van Gogh. Dabei scheint es sich um eine eher spontane Idee gehandelt zu haben, wie aus einer Postkarte Handkes an Char vom 23. Juni 1987 hervorgeht, die er zusammen mit seinem Manuskript verschickte: »Cher René Char, il y a une semaine, j'éssayais de traduire quelquel de vos textes \inclus/ dans "Les voisinages de Van Gogh". L'idée m'est venue une nuit sur une autoroute en voyant ici en Haute-Autriche un camion passer avec l'inscription "L'ISLE-SUR-SORGUE".« (ÖLA 348/B6) Ein zweiter Anlass für die Übersetzung dürfte Chars 80. Geburtstag am 14. Juni gewesen sein, den Handke am betreffenden Tag in seinem Notizbuch vermerkte: »René Char, heute 80 Jahre alt« (DLA, A: Handke Peter, Notizbuch 053, 14.6.1987). Die Publikation der Gedichte in einer deutschen Fassung schien hingegen nicht der primäre Anlass für die Übersetzung gewesen zu sein. Die Char-Lektüre bezog Handke im Juni 1987 auch in die Notizen für sein Werkprojekt »Die Kunst des Fragens« mit ein: »René Chars Fragen, als Beispiel, sind enthusiastische Fragen (DKdF)« (DLA, A: Handke Peter, Notizbuch 053, 16.6.1987).
Zum Petrarcapreis 1987 nach Asolo
Am 17. Juni reiste Handke mit dem Zug von Salzburg nach Trient, wo er bis zum Folgetag blieb (»wieder in Trient; s. Sept. 1974«, DLA, A: Handke Peter, Notizbuch 053, 17.6.1987). Eine Assoziation mit seinem Besuch bei René Char in Südfrankreich im August des Jahres 1983 musste ihn zu der Notiz am Ende der Einträge vom 18. Juni bewogen haben: »"Und": Das Donnergrollen und die Platanen (s L'Isle-sur-Sorgue 1983)« (DLA, A: Handke Peter, Notizbuch 053, 18.6.1987). Die Übersetzungen der Gedichte stellte er unterwegs fertig. Von Trient aus setzte er die Fahrt mit dem Zug fort über die Route Levico, Strigno, Bassano und schließlich Asolo, wo er an der Verleihung des Petrarca-Preises und an den Autorenlesungen bis zum 21. Juni teilnahm (DLA, A: Handke Peter, Notizbuch 053, 18.6.1987). Aus seinen soeben fertiggestellten Char-Übersetzungen las Handke dort die Texte Die Nachbarschaften Van Goghs, Das Vor-Glanum, Grüne Steine und Vermessung. Diese wurden auch im Dokumentationsband zu den Petrarcapreisen 1987/1988 abgedruckt (Balmes, Hans Jürgen (Hg.): Petrarca-Preis 1987/1988. Hermann Lenz. Philippe Jaccottet. Hanno Helbling. Georg Rudolf Lind. Uwe Kolbe. München: Edition Petrarca 1987-1988, S. 129-132.) In der Nacht auf den 22. Juni kehrte Handke wieder nach Salzburg zurück (DLA, A: Handke Peter, Notizbuch 053, 22.6.1987). Nachträglich schrieb er dort einen längeren Notizbucheintrag über seinen Aufenthalt in Asolo, darin erwähnte er kurz den letzten im seinem Bleistiftmanuskript enthaltenen Text mit dem Titel Un énigme éclaircie, quelques touches d'amour, den er am 19. Juni auf Schreibpapier des Hotels Villa Cipriani in Asolo fertiggestellt hatte: »im Bus noch den letzten Text von René Char übersetzt (Toulourenc! Toulourenc!)« (DLA, A: Handke Peter, Notizbuch 053, 22.6.1987).
Ein Geschenk für René Char
Das Manuskript mit acht Gedichten schickte Handke von Salzburg am 23. Juni 1987 an René Char nach L'Isle-sur-Sorgue, der Notizbucheintrag dazu lautet: »der Nachmittag hat begonnen [/] Im Postamt der Angestellte klebt besonders große bunte Sondermarken auf einen Auslandsbrief, "um für Ö. Reklame zu machen"« (DLA, A: Handke Peter, Notizbuch 053, 23.6.1987). Auf einer beiliegenden Postkarte bittet Handke Char um Entschuldigung für das Erscheinungsbild der Manuskriptblätter: »Excusez l'état des feuilles, elles ont voyagée avec moi pendant une semaine en Italie.« (ÖLA 348/B6) Am 14. Oktober 1987 folgte eine weitere Postkarte Handkes aus dem französischen Autun an René Char, auf der er eine Herausgabe der Gedichte im Hanser Verlag vorschlug: »Êtes-vous d'accord, que l'éditeur allemand Hanser publie – en deux langues – vos "Voisinages de Van Gogh"? J'éssayais une "traduction".« (ÖLA 348/B7) Eine solche Veröffentlichung durch den Hanser Verlag, der bereits 1984 René Chars von Handke übersetzten Gedichtband Rückkehr stromauf herausgegeben hatte, kam allerdings aus ungeklärten Gründen nicht zustande, stattdessen wurde die das Gedicht Grüne Steine nach Chars Tod (19. Februar 1988) im April-Heft 1988 der Zeitschrift Akzente erstmals gedruckt.
Buchveröffentlichung im Jahr 1990
Erst zwei Jahre nach René Chars Tod wurde Die Nachbarschaften Van Goghs im Jahr 1990 als Buch der Reihe Edition Petrarca beim Verlag Klaus G. Renner in München veröffentlicht. Die Ausgabe enthielt alle Gedichte der französischen Erstveröffentlichung in Original und Übersetzung, einschließlich des Nachworts René Chars. Vergleicht man das Manuskript der Übersetzung vom Juni 1987 mit den publizierten Texten, so fallen geringfügige Nachbearbeitungen auf der Wortebene auf. In einem Beitrag für Le Nouvel Observateur am 5. Juli 1990 bekannte Handke, »kein Kenner, lediglich ein Leser Chars« zu sein: »Je ne suis pas connaisseur de Char [...] je suis seulement un lecteur«. Am 27. Februar 1992 äußerte er sich auf einer Postkarte an die Witwe Marie-Claude Char zum fertigen Buch mit den Worten: »Oui, Les voisinages de Van Gogh est devenu un beau livre allemand, mais presque impossible, heureusement "presque".« (ÖLA 348/B11) (ck)
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Ohne Titel
Notizbuch, 198 Seiten, 17.05.1987 bis 02.07.1987
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[Die Nachbarschaften Van Goghs]
Bleistiftmanuskript, 9 Blatt, 15.06.1987 bis 23.06.1987