Sichtungen. Archiv - Bibliothek - Literaturwissenschaft ISSN: 1680-8975
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Martin Lindner / Andreas Brandtner / Max Kaiser / Volker Kaukoreit: Fragen an Martin Lindner, Literaturwissenschaftler an der Universität Passau (20. 12. 2001). In: Sichtungen online, PURL: http://purl.org/sichtungen/lindner-m-1a.html ([aktuelles Datum]). - Auch in: Sichtungen 3 (2000), S. 93-100.

Martin Lindner
Universität Passau


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Andreas Brandtner
Wiener Stadt- und Landesbibliothek
Handschriftensammlung
Rathaus, A-1082 Wien
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Max Kaiser
Österreichische Nationalbibliothek
Österreichisches Literaturarchiv
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Volker Kaukoreit
Österreichische Nationalbibliothek
Österreichisches Literaturarchiv
Josefsplatz 1, A-1015 Wien
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Fragen an Martin Lindner, Literaturwissenschaftler an der Universität Passau

Martin Lindner / Andreas Brandtner / Max Kaiser / Volker Kaukoreit


[3/ S. 93:] Für welche Objektfelder, d. h. Gegenstandsbereiche (literarhistorische Perioden usw.) und für welche Theorien sowie deren untergeordnete methodischen Ansätze innerhalb der Literaturwissenschaft (im engeren Sinn der Germanistik) halten Sie Literaturarchive für relevant?

Da kann ein Literaturwissenschaftler nur antworten: Für alle Objektfelder und für alle Theorien / Methoden. Und wenn man ihn fragt, was ein Literaturarchiv sammeln soll, wird die Antwort unweigerlich lauten: »Alles, was irgendwie mit Literatur zu tun hat! Nichts ist unwichtig!«

Damit fangen die Probleme natürlich erst an. Dazu ein paar provisorische Stichworte:

Das ideale Literaturarchiv sammelt alle Arten von Dokumenten, die ›Literatur‹ repräsentieren oder das Phänomen ›Literatur‹ in irgendeiner Weise umschreiben - und zwar ebenso nach dem Verständnis der Gegenwartskultur wie nach dem Verständnis der historischen Epoche, der die Dokumente ursprünglich angehören. Dazu kommt eine zweite, zunehmend wichtige Funktion: Das Literaturarchiv muß einer ›gebildeten Öffentlichkeit‹ immer von neuem zeigen, was ›Literatur‹ ist und was sie leistet (mittels Ausstellungen und anderer Öffentlichkeitsarbeit). Natürlich kann ein real existierendes Literaturarchiv diese Ansprüche bestenfalls ansatzweise erfüllen.

Das gilt vor allem seit dem Zerfall des bildungsbürgerlichen ›Bildungs‹-Paradigmas, das eine klare Vorstellung von ›Literatur‹ einschloß. Dieses Grundproblem teilt das Literaturarchiv mit der Literaturwissenschaft: Deren Gegenstandsbereich hat sich ebenfalls extrem ausgeweitet, und parallel dazu haben sich die dazugehörigen Blickwinkel und Methoden extrem vermehrt.

[3/ S. 94:] Aus diesem Grund gerät ein Überblick über wichtige literaturwissenschaftliche Fragestellungen und die dazugehörigen Literaturarchiv-Sammelbereiche recht unübersichtlich. Jede der Varianten rückt eine besondere Vorstellung von ›Literatur‹ in den Vordergrund. Ich versuche das einmal mehr oder weniger systematisch unter sechs Gesichtspunkten aufzufächern:

Erstens: Wenn ›Literatur‹ als ›literarischer Text‹ verstanden wird (zwangsläufig der Ausgangspunkt ›jeder‹ Beschäftigung mit ›Literatur‹, was auch immer man sonst darunter verstehen mag), ist zwischen einem ›ästhetisch‹ und einem ›kulturwissenschaftlich orientierten‹ Ansatz der Literaturwissenschaft zu unterscheiden:
- Eine ästhetisch orientierte Literaturwissenschaft geht aus von einem nachträglich als ›zeitlos‹ verstandenen Kanon der Höhenkammliteratur und sucht im Literaturarchiv insbesondere schlecht zugängliche Texte und Textausgaben kanonisierter Autoren. (Über den Inhalt des weitgefaßten Kanons herrscht übrigens immer noch ein erstaunlich breiter Konsens - Probleme treten nur in der Lehre auf, wenn daraus ein ›kleiner Kanon‹ destilliert werden muß.)
- Eine kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft geht aus von einem weiten Literaturbegriff mit unscharfer Abgrenzung zu anderen kulturellen Texten. Sie sucht im Literaturarchiv zum einen vor allem auch literarische Texte ›unterhalb der Höhenkammliteratur‹ - also etwa solche, die man sehr holzschnitthaft einer ›mittleren‹ bzw. einer ›trivialen Literatur‹ zuordnen könnte. Zum anderen gilt ihr Interesse Texten, die aus nicht-ästhetischen Gründen aus dem engen Literaturbegriff ausgeschlossen sind und die man ›semiliterarisch‹ nennen könnte, z. B. Essays, Tagebücher, Reden. Dazu kommen neue nicht-schriftliche Formen, die (wie im Prinzip auch das Theaterstück) literarische Texte voraussetzen: das Drehbuch, das Rundfunkfeature usw.
Zweitens: Wenn man die Dimensionen der ›Literatur‹ ins Auge faßt, die ›an die Veröffentlichungsform des Textes‹ gebunden sind - d. h. zum einen die Einbettung des ›eigentlichen literarischen Textes‹ in ›Paratexte‹, zum anderen seine ›materielle Gestalt‹:
- Der literarische Text ist mit ›Paratexten‹ verknüpft, d. h. mit Vorworten und Nachworten aller Art, mit Fußnoten, mit Titeln und Untertiteln, mit Klappen- und Umschlagtexten, mit Genre-Bezeichnungen (z.B. Roman), mit dem Autornamen, mit Verlags- und Ortsangabe usw. Deshalb ist streng genommen jede verschiedene Ausgabe des »Werther« (auch der letzte unautorisierte Raubdruck) ein eigenständiger Text und also sammelnswert. [3/ S. 95:]
- Der literarische Text ist an einen ›materiellen Träger‹ gebunden, der selbst wieder unweigerlich zusätzliche, nicht-sprachliche ›Botschaften‹ transportiert. Wichtig für eine im umfassenden Sinn semiotisch orientierte Literaturwissenschaft sind also auch die Medien der ›Literatur‹ auf allen Ebenen: das Papier, die Druckfarbe, die Typographie, die Schreib- und Drucktechnik, das gesamte ›Buch‹ (oder Zeitschrift, Flugschrift, Manuskript, Hörbuch ...) usw.

Drittens: Wenn man sich für ›Literatur als Schreibprozeß‹ interessiert:

Seit ca. 1950 gilt der text in progress als gleichwertig mit dem abgeschlossenen ›Werk‹ (oft sogar als höherwertig). Seitdem müßte das ideale Literaturarchiv, um den ›ganzen literarischen Text‹ bzw. ›das Ganze der Literatur‹ zu dokumentieren, streng genommen jede Stufe eines Manuskripts, jeden Zettelkasten, jedes Notizblatt archivieren - und dazu jedes Dokument, das indirekt über den Schreibprozeß Auskunft gibt.

Viertens: Wenn man sich für ›Literatur als Kommunikationsprozeß‹ interessiert, sind alle Dokumente relevant, die Aufschluß geben über die Produktion und Rezeption der ›literarischen Botschaft‹ - zum einen über ›die sozialpsychologischen Bedingungen‹ (auf seiten des Autors wie der Leser), zum anderen über ›die diskursiven Bedingungen‹, die zu bestimmten literarischen Codierungen und Decodierungen führen.

Fünftens: Wenn man sich für den ›Diskurs über Literatur‹ interessiert, geht es um alle Dokumente.

Sechtens: Wenn man sich für ›Literatur als soziale Praxis‹ interessiert, geht es um alle Dokumente, die Aufschluß geben über
- das ›literarische Leben‹: d. h. über Verhalten und Handeln, Habitusformen und über das soziale Geflecht ›Literatur‹, in das alle Beteiligten eingebunden sind;
- ›die ökonomische Seite der Literatur‹ (das Verlagswesen, die Marktbedingungen);
- ›die Literaturpolitik‹ (Subventionen, Formen der Zensur usw.).

Einerseits führt diese enorme Ausweitung des Literaturbegriffs zweifellos zu einer Präzisierung und Erweiterung nicht nur der Erkenntnisse über ›Literatur‹, sondern vor allem auch der Erkenntnisse über die jeweilige Kultur. Denn ›Literatur‹ kann als ein Versuchslabor verstanden werden, in dem eine (Schrift-)Kultur darüber reflektiert, wie sie aus Sprache ›Welt‹ und ›Subjektivität‹ tatsächlich konstruiert und möglicherweise konstruieren könnte.

Andererseits entsteht so in der Praxis aber ein fundamentales Problem, das solche Erkenntnisse eher behindert und das wiederum das Literaturarchiv mit der Literaturwissenschaft gemeinsam hat: Wenn man das Ganze der ›Literatur‹ möglichst adäquat dokumentieren und [3/ S. 96:] verstehen will, aber die Ressourcen (Geld und Zeit) sehr begrenzt sind - was ist am wichtigsten? Welcher Objektbereich, welche Fragestellung, welche Perspektive? Was soll bevorzugt gesammelt, und was soll bevorzugt untersucht werden?

Nötig wäre eine Verständigung darüber, nach welchen Prinzipien ›das Ganze der Literatur‹ wenigstens als möglichst repräsentativer Ausschnitt dokumentiert werden könnte. Dazu bräuchte es eine offene und öffentliche Diskussion, was ›Literatur‹ unter den Bedingungen der Informationsgesellschaft ist und was sie leistet. Diese Diskussion, die mehr wäre als die Summe unsystematischer, im Leeren verhallender Wortmeldungen, hat die Literaturwissenschaft bis jetzt nicht zustande gebracht.

Ihre Auffächerung stellt eine in der Tat hohe Leistungsanforderung an die Literaturarchive dar, wobei man - aus unserer Sicht - nur insofern etwas beruhigt sein kann, als sich in den meisten Archiven das Prinzip des Sammelns von kompletten Nachlässen (autorbezogener und institutioneller Provenienz), die in der Regel ein sehr breit gestreutes Material (Werke, Korrespondenzen, Lebensdokumente, Sammlungen) vereinen, durchgesetzt hat. Dies wird ja auch von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützt. Eine Einrichtung wie das Deutsche Literaturarchiv in Marbach dürfte demnach, da es zudem über mannigfache Spezialabteilungen (Zeitungsausschnitt-Sammlung, Mediathek usw.) verfügt und auch auf dem Veranstaltungs- und Publikationssektor recht rege ist, fast schon als vorbildlich angesehen werden. Natürlich bleiben die Fragen nach der Finanzierung und nach dem Diskurs über die Bestimmung des Begriffs ›Literatur‹, denen wir uns später widmen wollen. Wir haken zunächst noch einmal hinsichtlich Ihrer beruflichen Praxis nach: Erläutern Sie uns doch bitte an einem konkreten Beispiel, bei welcher Gelegenheit Ihrer literaturwissenschaftlichen Tätigkeit die Benutzung eines Literaturarchivs wichtig oder unabdingbar war.

Das war erstmals der Fall bei der Arbeit an meiner Dissertation über »Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne« (Anm. d. Red.: vgl. Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerks von Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth. Stuttgart: Metzler 1994).

Parallel dazu entstand ein Aufsatz bzw. Rundfunkfeature mit dem Titel »Die verschollene Generation von Weimar.« (Anm. d. Red.: vgl. Martin Lindner: Die verschollene Generation von Weimar. Eine Kultur-Geschichte in vier Lebensläufen [Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst [3/ S. 97:] von Salomon und Ernst Erich Noth]. In: Die Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte 39 (1992), H. 1). Im Mittelpunkt stehen hier die ›intellektuellen Biographien‹ der Autoren, deren Texte in der Dissertation eingehend analysiert werden: Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth.

Diese Verbindung von textanalytischem Ansatz und einer ›Geschichte der intellektuellen Mentalitäten‹ prägte zwei weitere Aufsätze mit verwandter Thematik, die beide im Zusammenhang mit Ausstellungen entstanden: zu den illustrierten Zeitschriften der Münchner Revolution um 1919 (Anm. d. Red. vgl. Martin Lindner: Illustrierte Zeitschriften der Revolution. In: Süddeutsche Freiheit. Kunst der Revolution in München 1919. Katalog zur Ausstellung im Münchner Lenbachhaus [November 1993-Januar 1994]. Hg. von Helmut Friedel, bearb. von Justin Hoffmann. München: Städtische Galerie im Lenbachhaus 1993) und zu den »neusachlichen Alltagsmythen in Erich Kästners ›indirekter Literatur‹« (Anm. d. Red. vgl. Martin Lindner: Unter der gefrorenen Oberfläche. Neusachliche Alltagsmythen in Erich Kästners ›indirekter Literatur‹. In: Katalog zur Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin (Februar-Mai 1999) und im Münchner Stadtmuseum (Juni-Oktober 1999). Berlin 1999).

Für alle diese Untersuchungen benutzte ich intensiv Literaturarchive (in Marbach und München) sowie Autorennachlässe (die fast durchwegs noch nicht in ein Literaturarchiv eingegliedert waren). Die intensive Arbeit mit den Archivmaterialien war in jedem Fall eine großartige, gelegentlich fast schon rauschhafte Erfahrung. Zum einen wegen der ›körperlichen‹ Qualität des zeitgenössischen Materials: Die ›Körper‹ der Texte (im Sinn von Roland Barthes) vermitteln die ganz unmittelbare Erfahrung, daß man es hier mit Sedimenten einer ehemals lebendigen Kultur bzw. eines früheren individuellen Lebens zu tun hat; zum anderen wegen der Fülle und Verschiedenartigkeit des Materials: Die Möglichkeit, spontan und (beinahe) simultan von einem entlegenen Text zum nächsten zu springen, führt zu einer umfassenderen, intuitiveren und anders gar nicht erreichbaren Vorstellung von einem vergangenen, kollektiven oder individuellen Sinn-Horizont.

Das intersubjektive Text-Gewebe spiegelt die ›literarische‹ Dimension der ganzen Kultur, d. h. die sprachlich codierten, zum größeren Teil unterhalb der Bewußtseinsschwelle liegenden Denkmuster und Denkfiguren, die die ›Weltbilder‹ der Zeitgenossen bestimmen und so indirekt auch ihre Verhaltens- und Handlungsmöglichkeiten beeinflussen. Am aufschlußreichsten waren hier für mich vielleicht die kleinen unbekannten ›Zeitgeist‹-Zeitschriften (z. B. »Arminius«, »Der Weg«, »Die Bücherkiste«, diverse Hauszeitschriften von Kabaretts der 20er Jahre). [3/ S. 98:] Hier zeigte sich mir am direktesten das Nebeneinander und Miteinander von ideologischen, literarischen und ästhetischen Positionen, die aus heutiger Sicht unvereinbar zu sein scheinen (wobei vor allem auch das Zusammenspiel von Texten und Bildern, das Layout, die Anzeigen und sonstigen Paratexte eine große Rolle spielen). Ebenso wichtig (und schwer zugänglich) waren die seltsamen semiliterarischen und populärwissenschaftlichen Broschüren, in denen nach 1900 unzählige Autoren ihre eigene ›Lebensanschauung‹ dokumentierten. Auch und gerade die entlegenen oder ›unwichtigen‹ Texte bilden den Nährboden und Kontext, ohne den die ›Hochkultur‹ nicht zu verstehen ist. (Das ist ein ›quasi-freudianischer‹ Analyseansatz, der das ›semantische Unbewußte‹ einer Kultur zu ergründen versucht.)

Auch die Nachlässe, die wiederum vor allem aus Texten (und visuellen Zeichen) bestehen, stellen so etwas wie den ›Horizont einer vergangenen Gegenwart‹ dar. Er wölbt sich über der Leerstelle, die das tote Individuum hinterlassen hat. Das Faszinierende ist dabei, wie durch eine Art holographische Spiegelung im Schnittfeld der Texte ein Schemen der abgelebten Subjektivität entsteht.

Mein besonderer literaturwissenschaftlicher Ansatz versucht eine Art stereoskopischen Blick, der sich zugleich der kulturhistorischen Makroperspektive und der subjekt- bzw. textorientierten Mikroperspektiven bedient. Dabei geht es nicht um eine Synthese, sondern um die möglichst extreme Betonung der beiden Pole. So entsteht eine Spannung, die katalysatorisch die literatur- und kulturwissenschaftlichen Erkenntnisse befördert, um die es mir geht.

Ohne Literaturarchive wäre man auf ›Gesammelte Werke‹ und sonstige kanonische ›Text-Gräber‹ angewiesen und würde sich aus der Befangenheit des altklugen Nachgeborenen, der seinen besserwisserischen anbeterischen Blick auf versunkene Universen wirft, kaum mehr befreien können. Literaturarchive sind die Orte, an denen der »Archäologe des Wissens« einen besonders direkten Zugang zum kulturellen »Archiv« im Sinn Michel Foucaults hat.

Sie haben jetzt sehr überzeugend dargestellt, daß literaturwissenschaftliche Forschung mit komplexem Theorieanspruch bei zahlreichen Frage- und Problemstellungen auf das Material, das von Literaturarchiven verwaltet wird, angewiesen ist. Nun werden aber Literaturarchive von der literaturwissenschaftlichen Forschung im allgemeinen nur äußerst zögerlich wahrgenommen. Welche Möglichkeiten sehen Sie, die Zusammenarbeit zwischen Literaturarchiven und Literaturwissenschaft zu verbessern? Haben Sie Hinweise für die Literaturarchive, wie sie ihre Funktion [3/ S. 99:] als Schnittstelle zwischen Material und Forschung optimieren können?

Bezüglich der Frage, warum die Archive wenig genutzt werden - und wenn, dann eher als Ausweichmöglichkeit für diejenigen Forscher, die lieber monographische Stoffsammlungen als neue Gedankengänge publizieren -, kann ich nur Mutmaßungen anstellen:

Zuerst ist es schlichter Mangel an Zeit. Sich über einen längeren Zeitraum als Archäologe vorbehaltlos mit dem Material auseinanderzusetzen, braucht sehr viel Zeit. Oft zu viel Zeit für die aktivsten Forscher, die noch nicht auf sichere Positionen gelangt sind und darauf angewiesen sind, Projekte zu bearbeiten, die mit möglichst ökonomischen Mitteln die Aufmerksamkeit des Establishments erregen.

Die ernsthafte Arbeit mit Archivmaterial ist demgegenüber undankbar: Die Resultate stoßen auf Desinteresse, weil niemand die Texte kennt, um die es geht. Und dazu kommt ein inhaltlicher Grund: Es ist schwierig, in der Fülle des Materials einen roten Faden in der Hand zu behalten und dennoch nicht aus allen Funden immer das herauszulesen, was man immer schon gewußt hat. Das ist das Spannende an einem solchen Unternehmen, aber eben auch das Quälende.

Wie kann diese Situation geändert werden?

Erstens: Gar nicht. Denn das fundamentale Problem ist eben in der organisatorischen wie inhaltlich unbefriedigenden Situation des Fachs selbst begründet. Wie die geändert werden kann, wüßte ich selbst gern.

Zweitens: Die Archive haben ohnehin schon unmerklich die Aufgabe zugeschoben erhalten, ihr Material nicht nur zu sammeln, sondern auch für die Öffentlichkeit zu erschließen. Viele Ausstellungsprojekte etwa in Marbach leisteten Ansätze zu Forschungen, zu denen die universitäre Wissenschaft kaum mehr in der Lage ist. Die Orientierung an einem ›gebildeten Publikum‹ - und nicht an in sich geschlossenen Fachzirkeln - tut der Sache gut. Diese Tendenz gälte es zu verstärken.

Meine Wunschvorstellung wäre tatsächlich eine eigene Schaltstelle zwischen dem eigentlichen Archiv einerseits und der Fachwissenschaft andererseits, die sich am Ziel der ›Ausstellung von Literatur‹ orientiert, um überhaupt wieder einen Ort im öffentlichen kulturellen Bewußtsein zu erkämpfen. Sobald das Material unter interessanten und zugleich öffentlichkeitswirksamen Gesichtspunkten organisiert und erschlossen ist, werden sich auch ambitionierte, nicht in Routine erstarrte Forscherinnen und Forscher anschließen.

[3/ S. 100:] Das setzt allerdings voraus, daß der Ausstellungsbetrieb nicht - wie es in Marbach trotz aller Verdienste zum Teil der Fall ist - in quasi-akademischer Selbstbezüglichkeit erstarrt.

Wenn Sie fragen, wie das praktisch gehen soll, fällt mir nur eines ein: Die ›Neuen Medien‹ werden die kulturelle Kommunikation und damit die Kultur selbst grundlegend ändern. Das geschieht zugegebenermaßen erst einmal rein oberflächlich, aber darin liegt eine große Chance: Neue Strukturen entstehen neben den alten, und die neuen Formen werden sich ihre Inhalte suchen. Ich würde mich freuen, wenn es gelänge, mit dieser an sich unausweichlichen Entwicklung innovative Ansprüche zu verbinden. Gerade für Literaturarchive scheint mir das ›Hypertext‹-Prinzip sehr fruchtbar zu sein: Totes Material kann wieder in den Kreislauf des geistigen Lebens eingespeist werden, im Idealfall ergänzt durch anspruchsvolle multimediale Mittel, d. h. Konstruktion von visuell und interaktiv erfahrbaren ›semantischen Räumen‹, womit ich mich derzeit selbst beschäftige. So könnte ein Sog entstehen, der irgendwann einmal auf die akademische Literaturwissenschaft zurückwirken wird.




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