Immer noch Sturm (2010)
In dem 2011 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführten Stück Immer noch Sturm ist der Autor in die Welt seiner slowenischen Vorfahren gestellt. Mit dem Selbstmord seiner Mutter hatte sich Peter Handke bereits in der Erzählung Wunschloses Unglück (1972) auseinandergesetzt, und auch der im Zweiten Weltkrieg gefallene Patenonkel Gregor Siutz kommt in seinem Werk immer wieder an entscheidenden Stellen vor. Das handschriftlich geschriebene Obstbaubuch des Onkels, das dieser während seiner Ausbildung an der Obstbauschule in Maribor angefertigt hatte, präsentiert Handke in dem Stück als eine Art Familienevangelium. Auch die Feldpostbriefe, die seine beiden Onkel Gregor und Hans der Familie von der Front geschickt hatten, bilden für Handkes Schreiben einen zentralen Bezugspunkt. Schon in einem Notizbuch aus dem Jahr 1981 schrieb der Autor die entscheidenden Passagen ab. Dabei wird seine eigene Geburt am 6. Dezember 1942 direkt mit dem Tod der beiden Verwandten an der Front konfrontiert.
Von seinem richtigen Vater erfuhr Handke erst im Alter von 18 Jahren. Nicht der Ehemann der Mutter, Bruno Handke, sondern ein anderer deutscher Soldat hat ihn gezeugt: Erich Schönemann, mit dem Handke dann in Kontakt tritt. Eine der zentralen Stellen in Immer noch Sturm ist die Szene, in der das von einem deutschen Vater abstammende Kind dem Großvater als kleines Bündel vor die Füße gelegt wird. Der Szene geht eine Verfluchung alles Deutschen durch den Großvater voraus. Darin eingeschlossen ist die durch den Nationalsozialismus verordnete Leugnung des Slowenischen in der Kärntner Familie. Getrieben von seiner Frau erkennt der Großvater das vor ihm liegende Bündel dennoch an.
Als ein Stück über den Kärntner Partisanenkampf gegen den Nationalsozialismus und damit als eine Würdigung von deren Anteil an der Befreiung Österreichs hat Peter Handke Immer noch Sturm angekündigt. Dabei sollte die reale Geschichte des Landes wie in den Geschichtsdramen von Shakespeare erscheinen, nämlich gleichsam wie im Traum erlebt. Von einer Regieanweisung aus dem King Lear speist sich der Titel des Stückes: »Storm Still«. In den werkgenetischen Materialien zu Immer noch Sturm wurde dies vom Autor immer wieder als »SS« abgekürzt.
Im Vorfeld seiner Arbeit hat sich Handke intensiv mit Erinnerungsbüchern der kärntner-slowenischen Partisanen auseinandergesetzt. Besonders intensiv und in mehrmaligen Lektürevorgängen arbeitete er ein Buch von Karel Prušnik-Gašper durch: Gemsen auf der Lawine. Die zahlreichen Anmerkungen in seinem Leseexemplar zeigen, dass er dabei seine eigene Familiengeschichte wie ein verborgenes Palimpsest über den Text gelegt hat. Damit schuf sich der Autor eine Möglichkeit zur Transformation: Die eigene Familie greift in Immer noch Sturm zu den Waffen und beteiligt sich am Kampf.
Das Stück wurde im Jahr 2011 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt, nachdem sich eine Realisierung am Wiener Burgtheater zerschlagen hatte. Die Inszenierung stammte von einem für Handke neuen Regisseur: Dimiter Gotscheff, der mit dezidiert politischen Inszenierungen unter anderem von Heiner Müller bekannt geworden ist. Von der Kritik wurde Immer noch Sturm durchwegs begeistert als österreichisches Staatsdrama, gleichzeitig aber auch als eines der persönlichsten Stücke des Autors aufgenommen. Eine enorme Spannweite, die die Komplexität von Handkes Theaterarbeit zeigt. (kk)
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