Kindergeschichte; Die Lehre der Ste Victoire; Die Wiederholung; Dramatisches Gedicht

Notizbuch, 82 Seiten, 01.12.1979 bis 18.12.1979

Druckversion

Beschreibung

Besitz 1 Erhaltungszustand: 2 Seiten lose
Das Blatt mit S. 45/46 fehlt im Notizbuch (und in der Kopie). Handke verwendete die darauf enthaltene Zeichnung »Montagne Ste Victoire« (S. 45) als Vorlage für die Titelgestaltung der Buchausgabe. Das Originalblatt befindet sich im Siegfried Unseld-Archiv in Frankfurt, eine Kopie der Coverzeichnung ist dem Typoskript der Erstfassung beigelegt.
Bl. 1 und 2 in Besitz 2 sind Kopien der selben Seiten; Seite 68 unten bis Seite I* ist im Original verkehrt: Das Notizbuch wurde von Handke von hinten nach vorne beschrieben – insgesamt zwölf Seiten enthalten englische Vokabeln, die Handke eventuell für die Übersetzung von Walker Percys The Moviegoer benötigte. Der hintere Vorsatz enthält Adressen und Telefonnummern sowie eine Notiz zur Balzac-Lektüre, offenbar ein Literaturhinweis: »Balzacgeschichte, in der C. sich wiedererkannte«.

Die Kopie des Notizbuchs ist auf vielen Seiten schlecht lesbar.
Als Motto ist auf dem vorderen Vorsatz eingetragen: "O Zeiten..." [verweist auf Über die Dörfer]

Bis 30. November war Peter Handke in Salzburg, wo er hauptsächlich an der Übersetzung von Walker Percys The Moviegoer arbeitete. Mit Beginn dieses Notizbuchs am 1. Dezember ist er, dem Eintrag zufolge, von Uelzen nach Dannenberg unterwegs, wo er den zu dieser Zeit bereits sterbenskranken Nicolas Born bis zu dessen Tod am 7. Dezember besuchte. Am 7. Dezember notierte Handke, als Einschub zwischen zwei Zeilen Nicolas Borns Todeszeitpunkt: »N. +« (S. 20). Am 8. Dezember war er in Hannover, wo er – den Notizen zu mehreren Bildern zufolge – das Niedersächsische Landesmuseum besuchte. Über München und Zürich reiste er am selben Tag noch weiter und erreichte mit dem Flugzeug am 10. Dezember Aix-en-Provence, von wo aus er zu Fuß von 11. bis 13. Dezember Le Tholonet und die Umgebung der Sainte-Victoire erkundete. Am 14. Dezember flog er nach Paris und besuchte dort am 15. Dezember das Musee d'Orsay und am 16. Dezember den Louvre und notierte vor allem Reflexionen zu den dort gesehenen Bildern und weiterhin zu Cézanne (»Die Maler vor Cézanne waren alle seine Vorläufer«, S. 65).

Notizen mit Verweisen auf Werkprojekte findet man zu Die Wiederholung (S. 2, S. 67).

Herausragend ist die Notiz am 8. Dezember 1979 (S. 26), in der der Titel von Der Chinese des Schmerzes genannt wird im Zusammenhang mit einem Gemälde von Max Liebermann, mehrere Jahre vor der Werkentstehung: »Liebermann: "Der Garten des Künstlers"; die Bäume (Birken) auf dem Weg [/] der Chinese des Schmerzes«.

Werkbezüge

Die Lehre der Sainte-Victoire

In der Zeit von 1. bis 18. Dezember, als Handke dieses eher schmale Notizbuch führte, entstanden einige Einträge zu seiner Auseinandersetzung mit Cézanne und zur Wahrnehmung von Farben. Als Lektüren fallen hierbei Cézannes Über die Kunst. Gespräche mit Gasquet, Cézannes Briefe, aber auch Ludwig Hohls Notizen zu Cézanne auf. Handkes Beschäftigung mit der Kunst Cézannes ist Teil seiner Vorarbeiten für die Erzählung Die Lehre der Sainte-Victoire.

Nach dem Tod Nicolas Borns am 7. Dezember 1979, dem er in dessen letzten Lebenstagen Beistand geleistet hatte, reiste Handke über München, Zürich und Marseille nach Aix-en-Provence, von wo aus er ab 11. Dezember Le Tholonet und die Umgebung der Montagne Sainte-Victoire das zweite Mal im Jahr 1979 zu Fuß beging. In der fertigen Erzählung ist die Verarbeitung der Notizen ab dem 10. Dezember gut erkennbar, schon die Anreise nach Aix bezog Handke mit ein, und aus dem Eintrag »Viele Bekannte von früher höre ich nur noch ausgerufen an Flughäfen und Bahnhöfen (Zürich) [...] die würdevolle Dunkelheit in der die Leute oft auf den Flughäfen erscheinen (Schattengesichter, ohne Höllenhaftigkeit)« (S. 32) wurde beispielsweise der nahezu wortgleiche Satz in der Erzählung: »Auf den Flughäfen standen die Leute für einmal in einer würdevollen Dunkelheit; schattige Gesichter, ohne die übliche Höllenhaftigkeit. Als jemand ausgerufen wurde, den ich einst gut gekannt hatte, kam es mir vor, als begegnete ich all den Leuten von früher nur noch als Namen in internationalen Lautsprechern.« (DLS 107)

Handke unternahm diese zweite Reise nach Aix-en-Provence allen Hinweisen im Notizbuch zufolge alleine, während der Erzähler in Die Lehre der Sainte-Victoire sich in Begleitung einer Freundin namens »D.« dort befindet. Im Notizbuch hielt er bei der Niederschrift der Erzählung fest: »2. Mal Aix: "Wir"? (ohne Nennung der Person?)« (DLA, A: Handke Peter, Notizbuch 025, S. 97) Quantitativ sind Handkes Notizen zur zweiten »Begehung« um etliche Seiten umfangreicher als die Aufzeichnungen vom Juli 1979. Im Erzähltext sind diese erheblich gestrafft und betreffen rund neun Seiten (DLS 107-116). Nicht eindeutig nachvollziehbar anhand der Notizen ist, ob er seine täglichen Wanderungen von Aix-en-Provence oder Le Tholonet aus unternahm, da die Einträge diesbezüglich vage bleiben. Den Aufstieg zum Plateau de Bibémus vom 12. Dezember setzte Handke an den Beginn der die Reise wiedergebenden Episode, womit er die Notizen des ersten und zweiten Tags in der Erzählung zusammenführte (S. 42, vgl. DLS 110). Erkennbar ist, dass Handke sich ab 14. Dezember in Aix-en-Provence aufhielt, da er Cézannes Landhaus Jas de Bouffan beschreibt (S. 55), am selben Tag begibt er sich auch wieder zum Flughafen und fliegt nach Paris.

Auffällig ist, dass in diesem Notizbuch das Blatt mit den Seiten 45 und 46 fehlt. Seite 45 enthält eine am 12. Dezember auf dem »Pas du Berger« angefertigte Kugelschreiberzeichnung der Montagne Sainte-Victoire mit der Beschriftung: »Montagne Ste Victoire [/] Cabanne de Cézanne [/] Le pas du berger / Le pas du berger [/] am 12.12. 15h - 16h« (vgl. die Kopie in ÖLA SPH/LW/W19, Bl. I). Die Zeichnung wurde für die Covergestaltung der Erstausgabe verwendet. Beschrieben ist die gezeichnete Ansicht der Sainte-Victoire im Notizbuch als »Molasseblöcke: erhabene Mosaike, oben auf den Badland-Mugeln (Mergel, Ton): graublau« (S. 47). Diese Beschreibung kehrt in stark überarbeiteter Form in der Erzählung wieder, zentral treten dabei die in den Notizen verwendeten Begriffe »Badlands« (DLS 113) und die auf der Zeichnung erwähnte »Cabanne de Cézanne« (DLS 114) hervor. Der Inhalt auf der Rückseite des herausgerissenen Blattes ist unbekannt, da sich das Original in Privatbesitz befindet. Jedenfalls ist auf Seite 46 die Datierung des 13. Dezember zu vermuten, da Handke eineinhalb Seiten danach am 14. Dezember notierte: »[...] in der Wiederholung bekommt das alles seinen Schwung, wie die Zeichnung beim Nachzeichnen (gestern abend)« (S. 48). Die Notizen zu Farbeindrücken und Gesteinsformationen nehmen im unmittelbaren Umfeld der Zeichnung mehrere Seiten ein, in der Erzählung beschließen diese die Episode der zweiten Wanderung (DLS 115-116). 

Poetologisch knüpft Handke in den Aufzeichnungen dieses Notizbuchs zwei Mal an die Langsame Heimkehr an. So sah er am 11. Dezember die »Gefahr, daß die Ste Victoire mir plötzlich zum Phantom wird, wie der Yukon? ("Raumverlust")« (S. 40-41). Und seinen Protagonisten betreffend überlegte er am 13. Dezember: »"Wie soll ich ihn mich diesmal nennen? 'Ich', 'Wanderer', 'Man'? Vor zwei Jahren sah ich..." (*Ohne Subjekt auskommen, ohne 'Helden'?« (S. 52-53). Am 14. Dezember reiste er wieder nach Paris, wo bis zum 18. Dezember – bis auf einzelne Bemerkungen zu Cézanne – keine relevanten Notizen zur Lehre der Sainte-Victoire mehr entstanden. (ck)

Siglenverzeichnis Editorische Zeichen

Kindergeschichte

Seine beiläufigen Notizen zu Kindergeschichte führte Handke in diesem schmalen Notizbuch, das nur den kurzen Zeitraum von 1. – 18. Dezember 1979 umfasst, mit vereinzelten Einträgen fort. Er nennt das Projekt als Werktitel zusammen mit Die Lehre der Sainte-Victoire, Die Wiederholung und Dramatisches Gedicht am vorderen Vorsatz des Notizbuchs. Tatsächlich enthalten die Aufzeichnungen aber nur sehr lose Beobachtungen zur Kind-Thematik, etwa: »[...] Gegenstände, die nach beiden Seiten hinweisen, sind die günstigsten. (Kindergeschichte!)« (S. 28) Anlässlich seiner Fahrt nach Le Tholonet bei Aix-en-Provence treten diese zugunsten von Notizen für Die Lehre der Sainte-Victoire in den Hintergrund oder sind zumindest nicht mehr explizit zuordenbar. An dieses Notizbuch anschließend folgte eine längere Pause des Notierens für Kindergeschichte, da Handke sich in den folgenden Monaten intensiv der Arbeit an Die Lehre der Sainte-Victoire widmete. (ck)

Siglenverzeichnis Editorische Zeichen

Über die Dörfer

Dieses 82 Seiten umfassende Notizbuch mit Aufzeichnungen aus der Zeit vom 1. bis 18. Dezember 1979 wurde von Peter Handke den vier Folgeprojekten seines Romans Langsame Heimkehr zugeschrieben. Die Werktitel dieser Schreibprojekte wurden von ihm am vorderen Vorsatz des Notizbuches eingetragen: »Kindergeschichte«, »Die Lehre der Ste Victoire«, »Die Wiederholung« und »Dramatisches Gedicht« (S. I), wie der Arbeitstitel für Über die Dörfer noch lautete. Trotz dieser Zuordnung findet man in den Notizen nur einen einzigen Eintrag zum Theaterstück. Peter Handke notierte am 8. Dezember 1979: »Im Winter blüht alles (nicht nur auf den Lößhängen neben dem Main) ("Dramatisches Gedicht")« (S. 29). Die Notiz entstand einen Tag nach dem Tod des Schriftstellers Nicolas Born in Dannenberg, zu dem Handke gefahren war, um ihm beizustehen. Viele Notizen und auch Zeichnungen dieses Notizbuchs betreffen das Sterben seines Freundes. Darüber hinaus enthält es vor allem Aufzeichnungen zu Die Lehre der Sainte-Victoire und im hinteren Notizbuchteil Vokabeln für die Übesetzung von Walker Percys The Moviegoer. Die Auflistung aller anderen Schreibprojekte am vorderen Vorsatz könnte sich aus der engen Verbindung dieser Werke ergeben haben. Auch wenn Handke in diesem Notizbuch keine weiteren Ideen zu Über die Dörfer sammelte, so geht es in seinen poetologischen Notizen doch immer auch um das Theaterstück. Auffällig ist, dass er das Stück hier immer noch »Dramatisches Gedicht« nennt – der Titel Über die Dörfer könnte ihm demnach erst nach dem 8. Dezember 1979 eingefallen sein. (kp)

Siglenverzeichnis Editorische Zeichen

Tabellarische Daten

Titel, Datum und Ort

Eingetragene Werktitel (laut Vorsatzblatt): 

"Kindergeschichte"; "Die Lehre der Ste Victoire"; "Die Wiederholung"; "Dramatisches Gedicht" [Bl. I]

Zusätzlich eingetragene Werktitel:  [nicht erfasst]
Entstehungsdatum (laut Vorlage):  1.12.1979 – 18.12.1979 [Bl. I]; Dez. 1979 [Beilage]; [nicht vollständig erfasst]
Datum normiert:  01.12.1979 bis 18.12.1979
Entstehungsorte (laut Vorsatzblatt): 

Salzburg

Zusätzlich eingetragene Entstehungsorte: 

Uelzen, Dannenberg [1.12., S. 1]; Penkefitz [3.12., S. 4];  Pf. Breese [5.12., S. 15]; Breese [6.12., S. 18]; Dannenberg, Dambeck [6.12., S. 20]; Hannover [8.12., S. 22], Sterbfritz, Mittelsinn, Würzburg [8.12., S. 28-29]; Theatinerkirche [München; 9.12., S. 31]; Zürich [10.12., S. 32]; Cours Mirabeau [Aix-en-Provence; 10.12., S. 34]; Le Tholonet [11.12., S. 37; 12.12., S. 43, S. 47, S. 48]; Neuilly [15.12., S. 60]; Auvers [15.12., S. 60]; Clamart [16.12., S. 64]; Clichy [17.12., S. 67]

Materialart und Besitz

Besitz 1:  Deutsches Literaturarchiv Marbach
Art, Umfang, Anzahl: 

Notizbuch mit grünem Umschlag und Spiralbindung, kariert, 82 Seiten, I-II, pag. 2-68, (69-82 unpag.), I*

Format:  8 x 12 cm
Schreibstoff:  Kugelschreiber (blau, rot), Bleistift, Fineliner (schwarz, grün), Filzstift (grün)
Weitere Beilagen: 

 

  • 1 Papierstreifen mit hs. Datierung des Notizbuchs »Dez. 1979«, 1 Blatt

Nachweisbare Lektüren

  • Nicolas Born: Bahnhof Lüneburg. 30. April 1976 (2.12., S. 2)
  • Paul Cézanne: Gespräche mit Gasquet (2.12., S. 4); Briefe (4.12., S. 10, 5.12., S. 13)
  • Ludwig Hohl: Notizen (3.12., S. 6; 4.12., S. 11-12)
  • Johann Wolfgang Goethe: Faust (4.12., S. 11); Maximen und Reflexionen (8.12., S. 27-28; 13.12., S. 54-55); Sprüche in Prosa (11.-13.12., S. 40-41, S. 54-55)
  • Paul Klee: Tagebücher 1898-1918 (6.12., S. 20)
  • Odysseas Elytis (8.12., S. 29)
  • Kurt Badt: Die Kunst Cézannes (9.12., S. 32; 16.12., S. 62)
  • Honoré de Balzac: Le Chef-d’œuvre inconnu (10.12., S. 34)
  • Francis Ponge (13.12., S. 50)
  • Kurt Leonhard: Paul Cézanne in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (13.12., S. 53)
  • Italo Calvino (16.12., S. 64)
  • Nicolas Poussin: Lettre à Monsieur de Chambray (18.12., S. 68)

Bildende Kunst:

  • Jacob Isaackszoon van Ruisdael (1.12., S. 1)
  • Max Liebermann: Der Garten des Künstlers am Wannsee (8.12., S. 26)
  • Paula Modersohn-Becker: Stilleben mit gelbem Krug (8.12., S. 26)
  • Carl Schuch (8.12., S. 26)
  • Tilman Riemenschneider: Madonna im Rosenkranz (8.12., S. 27)
  • Winslow Homer: Die Sommernacht (15.12., S. 60)
  • Édouard Vuillard (15.12., S. 60)
  • Nicolas Poussin: Je Jeune Pyrrhus sauvé (16.12., S. 63)
  • Domenico Beccafumi (16.12., S. 63)
  • Pablo Picasso (17.12., S. 67)

Ergänzende Bemerkungen

Illustrationen: 

 

  • »gegen Abend, 3.12.1979 Nicolas«, Porträt des todkranken Nicolas Born (3.12.1979, S. 7)
  • Porträt des todkranken Nicolas Born (5.12.1979, 16h, S. 19)
  • der tote Nicolas Born (7.12.1979, 12h, S. 23)
  • »Le Tholonet, Bank, 11.12.79«, ausgezogener Schuh auf Eichenblättern (S. 37)
  • »Montagne Ste Victoire«, spätere Titelzeichnung für die Buchausgabe, aus dem Notizbuch entnommen (S. 45)
  • Felsen der Barre du Cengle (S. 53)