Ernst Jandl Online ist ein Ansatz, ein Leben ohne Erzählung sichtbar zu machen. Diese Website ist keine Biographie des Menschen Ernst Jandl - hier gibt es keine Geschichten über das Rauchen, das Trinken oder das Sexleben, über die Liebe zur englischen Sprache, die sich in der Kriegsgefangenschaft in England entwickelt, über die Liebe zur früh verstorbenen Mutter, die das eigene Schreiben inspiriert oder über die Liebe zu Friederike Mayröcker, die ein Dichterleben lang an Jandls Seite steht. Die Autorin von Ernst Jandl Online erzählt nicht - keinen einzigen Text über das Leben des Dichters hat sie für die Website verfasst. Stattdessen findet man hier Daten zum Leben des Werks des Autors. Somit ist Ernst Jandl Online eine „Biblio-Biographie“ in drei Modulen:
- Im Modul Ernst Jandls Werke befinden sich Titel und Entstehungsdaten sämtlicher Bücher und Einzeltexte, ob Gedichte oder andere, die Jandl im Lauf seines Lebens veröffentlicht hat, und Angaben zu jeder einzelnen Veröffentlichung - ob eigenes Buch oder Gedichtabdruck in Zeitschriften, Zeitungen und Anthologien. Die Publikationsgeschichte jedes Texts, den Ernst Jandl publiziert hat, kann somit nachvollzogen werden. Auch werden die Einzelheiten dieser Publikationstätigkeit sichtbar: Etwa, welche Personen beteiligt waren, in welchen Verlagen und Zeitschriften Jandl publiziert hat und in welchen Jahren er besonders aktiv war. Nach diesen Einzelaspekten kann man filtern und die Filter beliebig miteinander kombinieren.
- Das Modul Werke über Ernst Jandl versammelt Angaben zu Texten über diese Werke, ob wissenschaftliche Aufsätze, Rezensionen oder Kommentare. Gefiltert werden kann nach Verfassenden, nach behandelten Jandl-Texten, aber auch nach Zeitungen, Zeitschriften, Verlagen und Publikationsjahr.
Das Leben von Ernst Jandls Werken kann in diesen beiden Modulen nachvollzogen werden: Wann ein Gedicht entstand, wo es abgedruckt wurde, wer sich dazu geäußert hat und wer daran beteiligt war wird über den Tod des Verfassers hinaus sichtbar. Und so kommt es, dass in dieser Nicht-Erzählung Friederike Mayröcker doch vorkommt, als Filterfunktion „Verfassende“ und „Beteiligte Person“. Das publike Leben von Jandls Werken kann man verfolgen, doch lesen kann man sie nicht und von der Biographin verfasste Texte über sein Leben findet man ebensowenig. - Dennoch ist die Website voller von Jandl verfasster Texte und Jandl-Biographien. Eine unscheinbare Mappe im Nachlass des Dichters trägt den Titel Bio-Bibliographisches - die darin versammelten Manuskripte und Typoskripte mit Kurzdarstellungen von Leben und Werk des Dichters werden auf Ernst Jandl Online im gleichnamigen Modul präsentiert, ergänzt durch ausgewählte Biobibliographien in Büchern und anderen Publikationen. So kann man erforschen, wie sich das Selbstbild, vor allem aber die Selbstdarstellung vor dem lesenden Publikum im Lauf eines Dichterlebens verändert. Wieder werfen die Filter Licht auf diese Entwicklungen: Sie zeigen, welche Werke und Preise wie oft genannt werden und was Jandl wann sonst noch für erwähnenswert hielt.
einen biographischen techniken
Kaum eine Textsorte verlangt so sehr nach der konventionellen biographischen Form der „Werk- und Leistungsschau“ wie die Biobibliographie. Um das zu verdeutlichen, ermöglicht diese Website im Modul Bio-Bibliographisches das Filtern nach genannten Werken und genannten Preisen. Ein dritter Filter versammelt „Biographeme“ (diesen Begriff prägte Roland Barthes in Sade - Fourier - Loyola, 1986) - Lebensschnipsel wie „Kriegsdienst“, „Wien“ und immer wieder „Friederike Mayröcker“, die in den Selbstbeschreibungen zur Sprache kommen. Die Module Ernst Jandls Werke und Werke über Ernst Jandl zeigen die Leistung und Leistungsfähigkeit des Gesamtwerkes und seiner Bestandteile. Wie oft es einem Text gelang, gedruckt zu werden und welchen Einfluss er nahm, indem sich andere Schreibende auf ihn bezogen, wird hier nachvollziehbar.
In dieser Hinsicht ist Ernst Jandl Online also doch eine Biographie: Die Biographie eines Werkes - und des Schriftstellers, der an ihm hängt. Die Privatperson Ernst Jandl sucht man hier vergebens. Sichtbar wird nur, was das Werk Ernst Jandl von ihr preisgeben wollte. Insofern erfüllt dieses Projekt die Forderung nach Trennung von öffentlicher und privater Persona, die David Nye in seiner Thomas-Edison-Anti-Biographie The Invented Self (1983) gestellt hat. Die Anti-Biographie bildete den zentralen Ausgangspunkt der am Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie angestellten Überlegungen zu virtueller Biographik und hat auch das von Katharina Prager umgesetzte Schwester-Projekt Karl Kraus Online wesentlich geprägt (siehe dazu den Beitrag von Vanessa Hannesschläger und Katharina Prager in Biographical Data in a Digital World 2015: „Ernst Jandl and Karl Kraus - Two Lives in Bits and Pieces“).
Ernst Jandl Online reagiert außerdem auf die veränderten Lesegewohnheiten im digitalen Raum. Bereits in den 1980er Jahren hat die Akteur-Netzwerk-Theorie (Bruno Latour) das Subjekt in den es umgebenden Strukturen und Dingen aufzulösen begonnen. Der spätestens seit Erfindung des Internets zum Gemeinplatz der Biographietheorie gewordenen Wahrnehmung der „Zersplitterung des Subjekts“ in Datensätze („bits and pieces“) wird hier Rechnung getragen, indem die wohl ursprünglichste Form der Lebens(be)schreibung produktiv gemacht wird: Die Biobibliographie ist nicht nur eine der ältesten Formen der Biographik, sondern auch die Vorgängerin des modernen Bibliothekskatalogs. Peter Haber hat das unter Bezugnahme auf Kallimachos von Kyrene, den Bibliothekar von Alexandria, in seinem Buch Digital Past (2011) schlüssig dargestellt. Die Biobibliographie scheint deshalb auch eine geeignete Form für ein Projekt, das an der Nationalbibliothek eines Landes angesiedelt ist, dessen literaturpolitische Entwicklung der biographierte Autor maßgeblich beeinflusst hat (siehe dazu auch die Beiträge der Autorin dieser Plattform in biblos 64/1: „Ein Leben, zwei schreiben, eine Stadt“ und in manuskripte 208: „Die Vernetzung Ernst Jandls“).
Indem auf dieser Plattform die „Werk- und Leistungsschau“ nicht als Präsentation von Highlights umgesetzt wird, sondern die detaillierte Überprüfung von Fakten anhand nüchterner Datensätze erlaubt, hebelt sie eine weitere biographistische Konvention aus: jene der Entwicklungsgeschichte. Während Lebensgeschichte, auch jene Jandls, üblicherweise als Entwicklung hin auf die Bedeutung inszeniert wird, die ein Mensch mit seinem Ableben endgültig erlangt, suggerieren die hier erfassten Datensätze andere Zugänge. Es ließe sich etwa anhand der Daten argumentieren, dass der Schriftsteller Jandl die literarische Bedeutsamkeit, die er mit den Gedichten in seinem frühen Gedichtband Laut und Luise erreichte, nie wieder reproduzieren konnte. Es ließe sich umgekehrt argumentieren, dass Laut und Luise den Ausgangspunkt für den Impact bildete, den Jandls Werke bis heute auf die deutschsprachige Literatur ausüben. Es ließe sich argumentieren, dass der vorrangig als Lyriker tätige Jandl Bekanntheit und Einfluss hauptsächlich durch seine szenischen Texte erlangte. Es ließe sich auch ganz anders argumentieren. Die Argumentations- und Interpretationshoheit liegt nicht bei dieser Plattform. Sie liegt bei jenen, die sie benutzen. Ernst Jandl Online basiert also auf einer Art von crowdsourcing: Das Spotlight auf die Auslegung durch die Biographin wird gebrochen, indem die Interpretation dessen, was man über den Schriftsteller Ernst Jandl objektiv festhalten kann, den Benutzenden überantwortet wird. Ernst Jandl Online baut auf crowd interpretation.
Hinweis an die crowd: illen ist menschrich - Fehler gefunden? Wissen Sie mehr? Treten Sie in einen kontakt!
einen technischen techniken
Die Basis dieser Plattform ist das drupal-basierte Content Management System Biographeme, das für die spezifischen Anforderungen von Ernst Jandl Online modifiziert wurde. Biographeme kennt vier Arten von Entitäten (Objekte, Personen, Institutionen, Ereignisse). Als solche wurden die Datensätze, die Ernst Jandl Online enthält, angelegt und mittels Relationen zueinander in Verbindung gesetzt (im Sinne des Resource Description Framework RDF in Form von tripples). Diese Verknüpfungsstruktur wurde von Vanessa Hannesschläger und Georg Bixa auf Basis der Functional Requirements for Bibliographic Records (FRBR) entworfen. Expressionen und Manifestationen von (Primär- und Sekundär-)Werken werden als Objekte angelegt, die mittels vier Relationentypen (basiert_auf, enthält, betrifft, ist_Nachfolger_von) verbunden werden können.
Expressionen sind Objekte, bestehend aus: Titel, (Untertitel,) Typ, Verfassende, (Datum).
Manifestationen sind Objekte, bestehend aus: Titel, (Untertitel,) Typ, Verfassende/Herausgebende, Datum, Institution (Verlag/Zeitung/Zeitschrift), (Heftnr.), (Auflage).
Personen bestehen aus: Vorname, Nachname.
Institutionen bestehen aus: Name, Typ.
Ereignisse bestehen aus: Name, Datum.
Unpublizierte Biobibliographien werden als Datensätze wie Expressionen behandelt; Preise werden als Ereignisse behandelt; Biographeme sind tags.
(Vanessa Hannesschläger, Januar 2016)