[3/ S. 126:] »Man kann sich fragen, wie ein Einzelner organisiert sein muß, der in 36 Jahren - mit wenigen Beiträgern und, offensichtlich,
eher sporadisch tätigen Helfern in der Redaktion - 922 Nummern einer Zeitschrift schreibt, komponiert, redigiert, korrigiert?«
(S. 47)
Sich den Fragen, den Masken und Zuschreibungen des Satirikers vielleicht kreisend wenigstens zu nähern, waren Karl Kraus 1999
gleich zwei Großausstellungen gewidmet. Zeitgleich zur Ausstellung »Was wir umbringen« des Wiener Jüdischen Museums (23. Juni
bis 1. November) war auch das Deutsche Literaturarchiv in Marbach um den »Fackel«-Herausgeber bemüht (8. Mai bis 31. Oktober).
Anlaß war der 125. Geburtstag von Kraus und das erstmalige Erscheinen seiner »Fackel« Anfang April 1899, jenen Tagen, an denen
in Wien, wie der [3/ S. 127:] Schriftsteller Robert Scheu zehn Jahre später erinnerte, »soweit das Auge reicht, alles - rot« war. Der vorliegende Katalog
zur Ausstellung hat sich, wie der Marbacher Direktor Ulrich Ott im Vorwort anmerkt, zur Aufgabe gesetzt, nicht allein »Zeitbild«
zu sein, sondern zugleich die »Zeitschrift und ihren Verfasser« lebendig werden zu lassen. Ein Weg, der bei der engen Verflechtung
von Persönlichkeit, Werk und Öffentlichkeit, wie sie bei Kraus gegeben ist, freilich anders auch gar nicht gangbar wäre.
So beginnt das erste Kapitel des Katalogs mit dem Testament und einer nur kurzen Rückschau auf Familie, Kindheit und Jugend,
um sogleich - mittels Fotografien - den Blick in Kraus’ Arbeitszimmer zu lenken. Und dann steht schon »Die Fackel« im Mittelpunkt,
deren Vorarbeiten in enger Beratung mit dem Publizisten Maximilian Harden erfolgten, der in Berlin die Zeitschrift »Die Zukunft«
herausgab. Von nun an folgen die Kapitel den Spuren jener ungeheuren Anstrengung, die Kraus nicht nur sich selbst, sondern
auch all jenen abverlangte, die er - notgedrungen wohl - in seine Arbeit einbeziehen mußte. Die Druckerei Jahoda & Siegel
etwa, die nicht allein mit der schwierig lesbaren Handschrift, sondern stärker noch mit dem Hang zur Perfektion und den daraus
folgenden, oft zahllosen Korrekturen zu kämpfen hatte. Georg Jahoda, dessen Erben Manuskripte, Korrespondenzen und Entstehungsdokumente
zur »Fackel« dem Deutschen Literaturarchiv 1987 übereigneten, hat die Aufgabe meisterhaft bewältigt, wie der Katalog anschaulich
belegt.
Bevor sich das Augenmerk schließlich mehr und mehr auf den Schriftsteller Kraus richtet, sind zwei Kapitel den Erregungen
und Auseinandersetzungen der Zeit gewidmet, an der sich das Antimedium »Fackel« immer wieder zu entzünden verstand: Der »Pressmafia«
und also heuchlerischen und skrupellosen Journaille, wie den Kriegstreibern und Kriegsgewinnlern. Die Nummer 404 der »Fackel«,
der Aufsatz mit dem Titel »In dieser großen Zeit«, vom Dezember 1914 (als Faksimile beiliegend), verweist eindrucksvoll weil
sprachgewaltig auf das Zusammenspiel jener via Pressebericht vermittelten Wirklichkeit mit den Interessen der Herrschenden.
»Die Wahrheit ist, daß die Zeitung keine Inhaltsangabe ist, sondern ein Inhalt, mehr als das, ein Erreger. Bringt sie Lügen
über Greuel, so werden Greuel daraus. Mehr Unrecht in der Welt, weil es eine Presse gibt, die es erlogen hat und die es beklagt!«
(S. 11)
Die Konflikte mit Alfred Kerr, dem Berliner Theaterkritiker, mit dem Boulevard-Journalisten Imre Bekessy und dem Wiener Polizeipräsidenten
und späteren Bundeskanzler Johann Schober fallen, obgleich angeführt, leider etwas knapp aus.
[3/ S. 128:] Ende 1905 markiert den Übergang der »Fackel« zum Organ mit verstärkt ästhetischem, denn moralischem Anspruch. Von nun an wollte
Kraus »Schriftsteller und nicht Aufdecker« sein. Von 1911 bis Februar 1936 wuchs »Die Fackel« unter seiner Pflege allein.
Bis dahin waren zahlreiche, nicht eben klanglose Namen an der Redaktion beteiligt, darunter Adolf Loos, Oskar Kokoschka, Heinrich
Mann, Arnold Schönberg und Otto Weininger. Der Freundschaft zum Architekten Adolf Loos ist dann, nachdem zwei weitere Abschnitte
die Beziehungen zur literarischen Szene in Berlin, insbesondere den Expressionisten um Herwarth Waldens »Sturm« ausgeleuchtet
haben, ein eigenes Kapitel gewidmet.
Umfang- und materialreich ist der Entstehungsprozeß von Kraus’ Drama »Die letzten Tage der Menschheit« dokumentiert. Sechs
Abschnitte widmen sich ebenso den Dokumenten und der Genese wie auch den ästhetischen Prinzipien der Collage und Montage,
die zeitgleich in der bildenden Kunst durch Willi Baumeister und John Heartfield produktiv gemacht wurden. Die Aufführungsgeschichte
des Werkes, »dessen Umfang nach irdischem Zeitmaß etwa zehn Abende umfassen würde«, wie der Verfasser bemerkte, ist anhand
des im Februar 1923 in Wien uraufgeführten Epilogs »Die letzte Nacht« und des »Traumstücks« an den Münchner Kammerspielen
1928, das die Nationalsozialisten heftig attackierten, dokumentiert.
Da Kraus das Fotografieren während seiner Vorlesungen untersagt hatte, greift der Katalog auf einige von Zeitgenossen angefertigten
Zeichnungen und Plakate der Lesungen zurück, um das Ereignis zu vergegenwärtigen. Die Zeichnungen von Alfred Hagel sind dabei
nicht weniger eindrucksvoll als die in der Wiener Ausstellung gezeigten und heimlich aufgenommenen Fotografien. Daß wir dagegen
heute in der Lage sind, die Stimme des Vorlesenden zu hören, verdanken wir den Schallplattenaufnahmen, die Kraus selbst anfertigen
ließ - nicht zuletzt wohl auch wegen des finanziellen Gewinns, denn die lange Zeit defizitäre »Fackel« und Kraus’ großzügige
Unterstützung bedürftiger Freunde hatten das Privaterbe, das ihm so lange Zeit Unabhängigkeit gesichert hatte, langsam aber
stetig schwinden lassen. - Wer auf Zeugnisse des lesenden Kraus nicht verzichten möchte, hat die Möglichkeit, in Marbach Originaltonaufnahmen
auf drei CDs (Karl Kraus liest Eigenes und Angeeignetes. Hg. von Eva Dambacher und Friedrich Pfäfflin in Zusammenarbeit mit
Volker Kahmen. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 1999, Beih. zum Marbacher Katalog 52/2) und den Originaltonfilm von
1934 (Karl Kraus liest aus eigenen Schriften. Hg. von Eva Dambacher und Friedrich Pfäfflin in Zusammenarbeit mit Volker [3/ S. 129:] Kahmen. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 1999, Beih. zum Marbacher Katalog 52/5) zu bestellen.
Zeugnis der liebevollen und fürsorglichen Machart des Katalogs legt ganz besonders der eingefügte Abschnitt von Gedichten
aus »Worte in Versen« im Tiefdruck ab. Die letzten Kapitel widmen sich den Umständen der Entstehung des berühmten Gedichts
»Man frage nicht«, das in jener Nummer 888 im Oktober 1933 erschienen ist, in der auch die Grabrede auf den Freund Adolf Loos
veröffentlicht wurde. Sie ist dem Katalog ebenfalls als Faksimile beigefügt.
Lange war zu jener Zeit kein Heft mehr erschienen und Kraus antwortete auf Nachfragen, ob er denn krank sei, mit den Versen,
die seine persönliche Todesahnung mit der sich ankündigenden geschichtlichen Katastrophe in Eines schrieben: »Man frage nicht,
was all die Zeit ich machte. | Ich bleibe stumm; | und sage nicht, warum. | Und Stille gibt es, da die Erde krachte. | Kein
Wort, das traf; | man spricht nur aus dem Schlaf. | Und träumt von einer Sonne, welche lachte. | Es geht vorbei; | nachher
war’s einerlei. | Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.« (S. 4)
Der von Bertolt Brecht 1933 ausgesprochenen Einladung, nach Svendborg zu kommen, falls die Situation in Österreich für ihn
prekär werden sollte, kam Kraus nicht nach. Ebenso, wie er die Ausreise aus Wien überhaupt unterließ, obwohl er die Gültigkeit
seines Reisepasses auf die USA hatte erweitern lassen. Stattdessen machte er sich daran, die geliebten Shakespeare-Sonette
zu übertragen. »Die Weltdummheit macht jede Arbeit«, schrieb er in seinem letzten Brief an Sidonie Nádherný, »außer an Shakespeare
- unmöglich.« Er starb am 12. Juni 1936 in Wien. So widmet sich das letzte Kapitel einigen »Nachreden«, Reaktionen auf Kraus’
Tod.
Der Marbacher Katalog zeichnet sich durch sorgfältige Bearbeitung ebenso wie durch die auch optisch äußerst attraktive Gestaltung
aus. Neben den angeführten Ton- und Filmaufnahmen sind drei weitere Beihefte zum Katalog am Deutschen Literaturarchiv erhältlich:
»›Wie Genies sterben‹ - Annie Kalmar. Briefe und Dokumente 1900-1999«, »Karl Kraus und Mechthilde Lichnowsky: Briefe und Dokumente
1916-1958« und »Der ›Fackel-Lauf‹. Bibliographische Verzeichnisse. ›Die Fackel‹ als Verlagserzeugnis 1899-1936« (Hg. von Eva
Dambacher und Friedrich Pfäfflin in Zusammenarbeit mit Volker Kahmen. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 1999/2000, Beih.
zum Marbacher Katalog 52/1, 3, 4). Das größte Plus der Veröffentlichung jedoch liegt in der Verzweigung mit den unerschöpflichen
Ressourcen des Deutschen Literaturarchivs begründet. Sie erlaubt jedem Marbacher Projekt, über die Verschränkung der Bestände
und Sammlungen nicht al- [3/ S. 130:] lein die Einzelpersönlichkeit, sondern dazu Zeit und Diskurs lebendig werden zu lassen. Der Kraus-Katalog konnte zudem vom
persönlichen Engagement Friedrich Pfäfflins profitieren, der jahrzehntelang auf den Spuren von Kraus unterwegs war und dementsprechend
viele Leihgaben aus seiner persönlichen Sammlung beigesteuert hat.
Markus Bauer
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