Home | Inhalt | Beiträge | Rezensionen | Berichte | Information | Suche, Index | FAQ | Sitemap
Sichtungen. Archiv - Bibliothek - Literaturwissenschaft ISSN: 1680-8975
PURL: http://purl.org/sichtungen/
Home > Rezensionen > Bauer: Rez. v. Dambacher/Pfäfflin/Kahmen (Hg.), Karl Kraus
spacer spacer
spacer

Karl Kraus. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs. Hg. von Eva Dambacher und Friedrich Pfäfflin in Zusammenarbeit mit Volker Kahmen. Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 1999 (= Marbacher Kataloge 52), 532 S., ISBN 3-933679-19-2, € (A) 19,00 / € (D) 18,40

Rezension

Markus Bauer

Printversion:
PURL Info PURL dieser Datei:
TEI/XML-Master Info TEI/XML-Master dieser Datei:
Datum TEI/XML-Master:
Ersatz von:
Aktuellste Version dieser Datei:
DC/RDF-Metadaten Info DC/RDF-Metadaten zu dieser Datei:
Sichtungen 3 (2000), S. 126-130
http://purl.org/sichtungen/bauer-m-1b.html
http://purl.org/sichtungen/bauer-m-1b.xml
2002-04-20
http://purl.org/sichtungen/bauer-m-1a.html
http://purl.org/sichtungen/bauer-m-1
http://purl.org/sichtungen/bauer-m-1b.rdf

[3/ S. 126:] Zur nächsten Seite»Man kann sich fragen, wie ein Einzelner organisiert sein muß, der in 36 Jahren - mit wenigen Beiträgern und, offensichtlich, eher sporadisch tätigen Helfern in der Redaktion - 922 Nummern einer Zeitschrift schreibt, komponiert, redigiert, korrigiert?« (S. 47)

Sich den Fragen, den Masken und Zuschreibungen des Satirikers vielleicht kreisend wenigstens zu nähern, waren Karl Kraus 1999 gleich zwei Großausstellungen gewidmet. Zeitgleich zur Ausstellung »Was wir umbringen« des Wiener Jüdischen Museums (23. Juni bis 1. November) war auch das Deutsche Literaturarchiv in Marbach um den »Fackel«-Herausgeber bemüht (8. Mai bis 31. Oktober). Anlaß war der 125. Geburtstag von Kraus und das erstmalige Erscheinen seiner »Fackel« Anfang April 1899, jenen Tagen, an denen in Wien, wie derZur vorigen Seite [3/ S. 127:] Zur nächsten Seite Schriftsteller Robert Scheu zehn Jahre später erinnerte, »soweit das Auge reicht, alles - rot« war. Der vorliegende Katalog zur Ausstellung hat sich, wie der Marbacher Direktor Ulrich Ott im Vorwort anmerkt, zur Aufgabe gesetzt, nicht allein »Zeitbild« zu sein, sondern zugleich die »Zeitschrift und ihren Verfasser« lebendig werden zu lassen. Ein Weg, der bei der engen Verflechtung von Persönlichkeit, Werk und Öffentlichkeit, wie sie bei Kraus gegeben ist, freilich anders auch gar nicht gangbar wäre.

So beginnt das erste Kapitel des Katalogs mit dem Testament und einer nur kurzen Rückschau auf Familie, Kindheit und Jugend, um sogleich - mittels Fotografien - den Blick in Kraus’ Arbeitszimmer zu lenken. Und dann steht schon »Die Fackel« im Mittelpunkt, deren Vorarbeiten in enger Beratung mit dem Publizisten Maximilian Harden erfolgten, der in Berlin die Zeitschrift »Die Zukunft« herausgab. Von nun an folgen die Kapitel den Spuren jener ungeheuren Anstrengung, die Kraus nicht nur sich selbst, sondern auch all jenen abverlangte, die er - notgedrungen wohl - in seine Arbeit einbeziehen mußte. Die Druckerei Jahoda & Siegel etwa, die nicht allein mit der schwierig lesbaren Handschrift, sondern stärker noch mit dem Hang zur Perfektion und den daraus folgenden, oft zahllosen Korrekturen zu kämpfen hatte. Georg Jahoda, dessen Erben Manuskripte, Korrespondenzen und Entstehungsdokumente zur »Fackel« dem Deutschen Literaturarchiv 1987 übereigneten, hat die Aufgabe meisterhaft bewältigt, wie der Katalog anschaulich belegt.

Bevor sich das Augenmerk schließlich mehr und mehr auf den Schriftsteller Kraus richtet, sind zwei Kapitel den Erregungen und Auseinandersetzungen der Zeit gewidmet, an der sich das Antimedium »Fackel« immer wieder zu entzünden verstand: Der »Pressmafia« und also heuchlerischen und skrupellosen Journaille, wie den Kriegstreibern und Kriegsgewinnlern. Die Nummer 404 der »Fackel«, der Aufsatz mit dem Titel »In dieser großen Zeit«, vom Dezember 1914 (als Faksimile beiliegend), verweist eindrucksvoll weil sprachgewaltig auf das Zusammenspiel jener via Pressebericht vermittelten Wirklichkeit mit den Interessen der Herrschenden. »Die Wahrheit ist, daß die Zeitung keine Inhaltsangabe ist, sondern ein Inhalt, mehr als das, ein Erreger. Bringt sie Lügen über Greuel, so werden Greuel daraus. Mehr Unrecht in der Welt, weil es eine Presse gibt, die es erlogen hat und die es beklagt!« (S. 11)

Die Konflikte mit Alfred Kerr, dem Berliner Theaterkritiker, mit dem Boulevard-Journalisten Imre Bekessy und dem Wiener Polizeipräsidenten und späteren Bundeskanzler Johann Schober fallen, obgleich angeführt, leider etwas knapp aus.

Zur vorigen Seite [3/ S. 128:] Zur nächsten SeiteEnde 1905 markiert den Übergang der »Fackel« zum Organ mit verstärkt ästhetischem, denn moralischem Anspruch. Von nun an wollte Kraus »Schriftsteller und nicht Aufdecker« sein. Von 1911 bis Februar 1936 wuchs »Die Fackel« unter seiner Pflege allein. Bis dahin waren zahlreiche, nicht eben klanglose Namen an der Redaktion beteiligt, darunter Adolf Loos, Oskar Kokoschka, Heinrich Mann, Arnold Schönberg und Otto Weininger. Der Freundschaft zum Architekten Adolf Loos ist dann, nachdem zwei weitere Abschnitte die Beziehungen zur literarischen Szene in Berlin, insbesondere den Expressionisten um Herwarth Waldens »Sturm« ausgeleuchtet haben, ein eigenes Kapitel gewidmet.

Umfang- und materialreich ist der Entstehungsprozeß von Kraus’ Drama »Die letzten Tage der Menschheit« dokumentiert. Sechs Abschnitte widmen sich ebenso den Dokumenten und der Genese wie auch den ästhetischen Prinzipien der Collage und Montage, die zeitgleich in der bildenden Kunst durch Willi Baumeister und John Heartfield produktiv gemacht wurden. Die Aufführungsgeschichte des Werkes, »dessen Umfang nach irdischem Zeitmaß etwa zehn Abende umfassen würde«, wie der Verfasser bemerkte, ist anhand des im Februar 1923 in Wien uraufgeführten Epilogs »Die letzte Nacht« und des »Traumstücks« an den Münchner Kammerspielen 1928, das die Nationalsozialisten heftig attackierten, dokumentiert.

Da Kraus das Fotografieren während seiner Vorlesungen untersagt hatte, greift der Katalog auf einige von Zeitgenossen angefertigten Zeichnungen und Plakate der Lesungen zurück, um das Ereignis zu vergegenwärtigen. Die Zeichnungen von Alfred Hagel sind dabei nicht weniger eindrucksvoll als die in der Wiener Ausstellung gezeigten und heimlich aufgenommenen Fotografien. Daß wir dagegen heute in der Lage sind, die Stimme des Vorlesenden zu hören, verdanken wir den Schallplattenaufnahmen, die Kraus selbst anfertigen ließ - nicht zuletzt wohl auch wegen des finanziellen Gewinns, denn die lange Zeit defizitäre »Fackel« und Kraus’ großzügige Unterstützung bedürftiger Freunde hatten das Privaterbe, das ihm so lange Zeit Unabhängigkeit gesichert hatte, langsam aber stetig schwinden lassen. - Wer auf Zeugnisse des lesenden Kraus nicht verzichten möchte, hat die Möglichkeit, in Marbach Originaltonaufnahmen auf drei CDs (Karl Kraus liest Eigenes und Angeeignetes. Hg. von Eva Dambacher und Friedrich Pfäfflin in Zusammenarbeit mit Volker Kahmen. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 1999, Beih. zum Marbacher Katalog 52/2) und den Originaltonfilm von 1934 (Karl Kraus liest aus eigenen Schriften. Hg. von Eva Dambacher und Friedrich Pfäfflin in Zusammenarbeit mit VolkerZur vorigen Seite [3/ S. 129:] Zur nächsten Seite Kahmen. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 1999, Beih. zum Marbacher Katalog 52/5) zu bestellen.

Zeugnis der liebevollen und fürsorglichen Machart des Katalogs legt ganz besonders der eingefügte Abschnitt von Gedichten aus »Worte in Versen« im Tiefdruck ab. Die letzten Kapitel widmen sich den Umständen der Entstehung des berühmten Gedichts »Man frage nicht«, das in jener Nummer 888 im Oktober 1933 erschienen ist, in der auch die Grabrede auf den Freund Adolf Loos veröffentlicht wurde. Sie ist dem Katalog ebenfalls als Faksimile beigefügt.

Lange war zu jener Zeit kein Heft mehr erschienen und Kraus antwortete auf Nachfragen, ob er denn krank sei, mit den Versen, die seine persönliche Todesahnung mit der sich ankündigenden geschichtlichen Katastrophe in Eines schrieben: »Man frage nicht, was all die Zeit ich machte. | Ich bleibe stumm; | und sage nicht, warum. | Und Stille gibt es, da die Erde krachte. | Kein Wort, das traf; | man spricht nur aus dem Schlaf. | Und träumt von einer Sonne, welche lachte. | Es geht vorbei; | nachher war’s einerlei. | Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.« (S. 4)

Der von Bertolt Brecht 1933 ausgesprochenen Einladung, nach Svendborg zu kommen, falls die Situation in Österreich für ihn prekär werden sollte, kam Kraus nicht nach. Ebenso, wie er die Ausreise aus Wien überhaupt unterließ, obwohl er die Gültigkeit seines Reisepasses auf die USA hatte erweitern lassen. Stattdessen machte er sich daran, die geliebten Shakespeare-Sonette zu übertragen. »Die Weltdummheit macht jede Arbeit«, schrieb er in seinem letzten Brief an Sidonie Nádherný, »außer an Shakespeare - unmöglich.« Er starb am 12. Juni 1936 in Wien. So widmet sich das letzte Kapitel einigen »Nachreden«, Reaktionen auf Kraus’ Tod.

Der Marbacher Katalog zeichnet sich durch sorgfältige Bearbeitung ebenso wie durch die auch optisch äußerst attraktive Gestaltung aus. Neben den angeführten Ton- und Filmaufnahmen sind drei weitere Beihefte zum Katalog am Deutschen Literaturarchiv erhältlich: »›Wie Genies sterben‹ - Annie Kalmar. Briefe und Dokumente 1900-1999«, »Karl Kraus und Mechthilde Lichnowsky: Briefe und Dokumente 1916-1958« und »Der ›Fackel-Lauf‹. Bibliographische Verzeichnisse. ›Die Fackel‹ als Verlagserzeugnis 1899-1936« (Hg. von Eva Dambacher und Friedrich Pfäfflin in Zusammenarbeit mit Volker Kahmen. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 1999/2000, Beih. zum Marbacher Katalog 52/1, 3, 4). Das größte Plus der Veröffentlichung jedoch liegt in der Verzweigung mit den unerschöpflichen Ressourcen des Deutschen Literaturarchivs begründet. Sie erlaubt jedem Marbacher Projekt, über die Verschränkung der Bestände und Sammlungen nicht al-Zur vorigen Seite [3/ S. 130:] lein die Einzelpersönlichkeit, sondern dazu Zeit und Diskurs lebendig werden zu lassen. Der Kraus-Katalog konnte zudem vom persönlichen Engagement Friedrich Pfäfflins profitieren, der jahrzehntelang auf den Spuren von Kraus unterwegs war und dementsprechend viele Leihgaben aus seiner persönlichen Sammlung beigesteuert hat.

Markus Bauer

spacer
Zitierhinweis Zitierhinweis
Textausdruck vorbereiten Textausdruck vorbereiten
Mail an die Redaktion Mail an die Redaktion

Beitrag von:
Markus Bauer
Wimmentalerstraße 3, D-74182 Obersulm
Letzte Adressaktualisierung: 2000
Adressänderung melden Meldung Adressänderung
spacer spacer
[Zum Seitenanfang]
Home | Inhalt | Beiträge | Rezensionen | Berichte | Information | Suche, Index | FAQ | Sitemap

Copyright 2001-2002 by Sichtungen online
HTML-Datei automatisch generiert am Tue 21. May. 2002, 22:33 Uhr
XSLT-Stylesheet: http://purl.org/sichtungen/sichtcont-xml2html.xsl, Vers. 1.0.4, erstellt am 2002-05-16 durch mka
Parser: "SAXON 6.4.3 from Michael Kay"
TEI/XML-Master: http://purl.org/sichtungen/bauer-m-1b.xml, erstellt am 2001-12-06 durch mp, zuletzt geändert am 2002-04-20 durch mp
Version History:
ch1) 2001-12-06: TEI XML Markup / mp
ch2) 2002-04-20: Rezensionstitel aktualisiert / mp
[Webmaster] [Disclaimer]


Valid XHTML 1.0!