85 Jahre allgemeines Frauenwahlrecht in Österreich
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II. Die Frau als Wählerin und Politikerin - 1918 bis 1919
Frauen im Parlament
Amalie Seidel
Amalie Seidel


Amalie Seidel wurde 1876 in Wien geboren. Ihre Eltern, Anna und Jakob Ryba, waren aus Böhmen in die Hauptstadt gezogen. Ihr Vater, ein Schlosser, war Gewerkschafter und Sozialdemokrat; er achtete schon früh auf das politische Bewusstsein seiner Tochter, die als eines von vier Kindern überlebte. Zwölf der Kinder von Anna Ryba erreichten das Erwachsenenalter nicht.

Schon mit elf Jahren musste Amalie Arbeiten gehen, zuerst als Dienstmädchen und Heimarbeiterin, später in eine Textilfabrik, wo sie das erste Mal durch ihre Zivilcourage auffiel: 1893, mit erst 17 Jahren, setzte sie den 1. Mai als arbeitsfreien Tag an ihrer Arbeitsstelle durch, wurde jedoch am nächsten Tag fristlos entlassen. Ihre Kolleginnen solidarisierten sich mit ihr und begannen zu streiken; andere Arbeiterinnen schlossen sich an. Insgesamt sollen bei diesem ersten Frauenstreik in Cisleithanien rund 700 Frauen für ihre Rechte die Arbeit niedergelegt haben. Schließlich wurden ihre Forderungen, darunter der Zehnstunden-Arbeitstag und die Wiedereinstellung Amaliens, von den Arbeitgebern angenommen. Durch diese Aktion wurden führende Sozialdemokraten wie Victor Adler auf Amalie Ryba aufmerksam, förderten sie und sorgten für ihre Weiterbildung.

Im gleichen Jahr wurde sie jedoch wegen einer allzu engagierten Teilnahme an einer Wahlrechtskundgebung zu drei Wochen Arrest und dem Abschub aus Wien verurteilt.

Untätig blieb sie aber auch in den nächsten Jahren nicht. Sie engagierte sich in der Frauenbildung und war Mitbegründerin einer Konsumgenossenschaft. 1895 heiratete sie den Sozialdemokraten und Gewerkschafter Richard Seidel, mit dem sie zwei Töchter hatte.

Zu ihren zahlreichen Tätigkeiten gehörten auch ihre Mitgliedschaft zur Konstituierenden Nationalversammlung vom 4. März bis zum 31. Mai 1919 und von 1918 bis 1923 zum Wiener Gemeinderat, wo sie die erste Frau war, die das Wort ergriff. Viele Jahre, 1920 bis 1934, bis zur Demontage der Demokratie, wirkte sie als Abgeordnete zum Nationalrat. Ihre Arbeit war von der Armut ihrer Kindheit geprägt: So befürwortete sie die Konsumgenossenschaftsbewegung, engagierte sich in sozialpolitischen Fragen, war stellvertretende Vorsitzende des Wiener Jugendhilfswerks und widmete sich der Gleichstellung der Frau.

1934 sollten jedoch alle Errungenschaften zunichte gemacht werden: Die Austrofaschisten zerschlugen Österreichs demokratische Strukturen. Richard Seidel, Amaliens Mann, wurde verschleppt, sie selbst wurde verhaftet und zog sich offiziell aus der Politik zurück. Während des Ständestaates war ihre Wohnung ein fester Treffpunkt für mehrere Wiener Politikerinnen, wo sie ungestört reden konnten. In dieser Zeit wurde sie „Lysistrate“ genannt, nach der mutigen und entschlossenen Athener Frauenrechtlerin der Antike.

1942 heiratete sie ihren langjährigen Freund, den jüdischen Wiener Gemeinderat Siegmund Rausnitz, um ihn vor der Verfolgung der Nazis zu schützen. Sie konnte nicht helfen: Bald nach ihrer Hochzeit nahm er sich das Leben.

Auch nach dem Ende des Nationalsozialismus sollte Amalie Seidel kein politisches Amt mehr übernehmen. Sie starb 1952 mit 76 Jahren.