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Werner Michler: Karin S. Wozonig: Die Literatin Betty Paoli. Weibliche Mobilität im 19. Jahrhundert. Wien: Löcker 1999 (= Sonderpublikationen der Grillparzer-Gesellschaft 4), 222 S., ISBN 3-85409-306-3, € (A) 28,00 / € (D) 28,00. Rezension (12. 04. 2002). In: Sichtungen online, PURL: http://purl.org/sichtungen/michler-w-1a.html ([aktuelles Datum]).

Werner Michler
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Karin S. Wozonig: Die Literatin Betty Paoli. Weibliche Mobilität im 19. Jahrhundert. Wien: Löcker 1999 (= Sonderpublikationen der Grillparzer-Gesellschaft 4), 222 S., ISBN 3-85409-306-3, € (A) 28,00 / € (D) 28,00

Rezension

Werner Michler

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An Monographien zu Autoren und Autorinnen der österreichischen Literatur des 19. Jahrhunderts herrscht wahrlich kein Überschuß. Einer der unbekanntesten Bekannten dieser Literatur hat Karin S. Wozonig eine Untersuchung gewidmet, der Lyrikerin, Übersetzerin und Journalistin Betty Paoli (eigtl. Barbara Elisabeth Glück, 1814-1894). Paoli »gehört definitiv nicht zu den ›Wiederentdeckten‹« der »feministisch orientierte[n] Literaturwissenschaft« (S. 39), eher wird sie selbst noch als »Entdeckerin« erinnert, als frühe publizistische Fördererin Ferdinand von Saars und Marie von Ebner-Eschenbachs, die auch Annette von Droste-Hülshoff und Conrad Ferdinand Meyer propagierte. Ihr umfangreiches lyrisches Werk ist weitgehend in Vergessenheit geraten; einige ihrer zum Teil erstaunlich hellsichtigen und engagierten Feuilletons sind kürzlich - unter Mitwirkung Wozonigs - von Eva Gebler neu herausgegeben worden.[1]

Wozonig legt keine Biographie Paolis vor, sondern eine »mögliche, gegenwärtige Lesart eines vergangenen Lebens« (S. 10) und befragt die Räume, die sich die Autorin durch Überschreiten des Binnenraums der bürgerlichen Familie eröffnet hat; es handelt sich um die Felder »Journalismus«, »Salon«, »Emanzipation - die Frauenfrage« (insbesondere Mädchenbildung und Erwerbstätigkeit bürgerlicher Frauen), schließlich um die Selbstverortung Paolis in einer unkonventionellen »Familien«-Konstellation als alleinstehende nichtverwandte Frau im Haus Fleischl-Marxow, in dem Paoli als Freundin von Ida Fleischl zwischen 1855 und 1894 gelebt hat. Paoli, so die Grundthese der Arbeit, habe für sich »[z]u einer Zeit, in der die Einschränkung der Bewegungsräume der Frauen auf Basis der [zu ergänzen ist wohl: »Dichotomisierung der«, W. M.] Geschlechtscharaktere etabliert und institutionalisiert war«, ein »außerordentliches Maß an Mobilität im weitesten Sinn und [...] Räume außerhalb der Familie« erreicht, »indem sie sich der Argumente eben dieses beschränkenden Diskurses bediente« (S. 21).

Wozonig lotet die »Bewegungsmöglichkeiten« in einer so konzipierten AutorInnenlaufbahn aus, »Mobilität« ist damit die dem Raumbegriff korrespondierende methodische Größe.[2] Damit hat Wozonig einen Ansatz gewählt, der unter Integration mentalitätengeschichtlicher Aspekte letztlich auf die sozialhistorisch orientierte feministische Forschung rekurriert. Daß diese (Rück-)Bewegung nicht so selbstverständlich ist, zeigen die vielen selbstapologetischen Anläufe der Verfasserin, ihre Bemühungen im gegenwärtigen Diskurs zu verorten.

Das politische Problem, das eine kritische, doch aber auch rettende feministische Historiographie mit Paoli hat, zeigt sich in der vorliegenden Arbeit in doppelter Hinsicht. Paolis Interventionen im Bereich der Geschlechterpolitik, in den Feldern Mädchenbildung, weiblicher Autorschaft u. a., bleiben der Rhetorik des »Differenzdiskurses« verpflichtet - Paoli könne »nicht als Fallbeispiel« für dessen »Subversion« »gehandelt werden« (S. 143), wie zutreffend bemerkt wird. Zum anderen insistierte die literarische Autorin Paoli auf »Literatur vom Typ ›Ästhetizismus‹«, »Literatur mit dominierender Systemreferenz« (S. 49), wie Wozonig systemtheoretisch in Rekurs auf Gerhard Plumpe[3] formuliert, kann also nicht für eine ›engagierte Literatur‹ reklamiert werden - von Moritz Hartmann wird sie der »Clique der reinen Ästhetik« zugerechnet (S. 53). Ihre politischen Positionen an der Wasserscheide des Jahrhunderts, der Revolution von 1848, sind mit denen ihres Freundes Adalbert Stifter vergleichbar, der Paoli bekanntlich im »Nachsommer« als Vorleserin der Fürstin Schwarzenberg ein sympathisierendes Porträt gewidmet hat.[4] Nun ist aber gerade literarische »Systemreferenz« gleichfalls eine politische Positionierung, wie diejenigen, die auf ›Umweltreferenz‹ abstellten, nicht müde wurden zu betonen. Im Fall Paolis liegen die Dinge noch komplexer, da der Rekurs auf das romantische Geniedispositiv gerade die Bedingung der Möglichkeit einer eigenen literarischen Stimme gewesen war, wie Wozonig überzeugend darstellt. Autorschaft als Dichtertum, Weltschmerz und andere literarische Vehikel dienen als Legitimation der Biographie, zumal der Ehelosigkeit (S. 153-155) - und umgekehrt; das scheint Paolis Antwort auf jene andere »Endlosschleife« (S. 119) gewesen zu sein, die sich für bürgerliche Frauen aus oktroyierter Ausbildungsverweigerung und familialistischem Weiblichkeitskonstrukt ergeben und zu ihrer »umfassende[n] ›Funktionslosigkeit‹« (ebd.) im öffentlichen Raum geführt hat. Es fragt sich allerdings, warum Paolis »Beiträge[n] zur subtilen und angepaßten Form der weiblichen Emanzipationsbestrebungen im neunzehnten Jahrhundert« (S. 118) dann immer wieder ihre »Angepaßtheit« (S. 121 u. ö.; »oft opportunistisch«, S. 175) vorgehalten werden muß.

Angesichts Wozonigs recht weitreichender und weithin durchaus plausibler Thesenbildung ist die Quellenbasis der Arbeit schmal. Wozonig stützt sich mit wenigen Ausnahmen auf publizierte Texte. Zusätzlich zur lange Zeit einzigen Feuilletonsammlung Paolis, durch deren Freundin Helene Bettelheim-Gabillon herausgegeben,[5] rekurriert Wozonig fast ausschließlich auf jene Zeitungstexte, die Paoli für einen - nicht zustandegekommenen - zweiten Band ihrer Schriften bestimmt hatte; dies angesichts von »Hunderten von Artikeln, die sie seinerzeit des Broterwerbs halber schreiben mußte«.[6] An ungedruckten Quellen benützt Wozonig lediglich Tagebücher der Autorin. Das ist ein deutliches Manko des Bandes; es läßt sich so keine Einschätzung der journalistischen Gesamtproduktion Paolis gewinnen, der - nach Adam Wandruszka[7] - »erste[n] und zugleich bedeutendste[n] Feuilletonistin Wiens« (S. 44). Einer eingehenderen Darstellung der literarischen und privaten Beziehungsnetze müßte, wie Wozonig einräumt, »eine Sichtung der überaus umfangreichen Korrespondenz vorausgehen« (S. 170), die im Nachlaß in der Handschriftensammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek erhalten ist. Auch eine Nicht-Biographie bleibt damit auf Erinnerungswerke anderer (insbesondere Bettelheim-Gabillons) sowie auf Spekulationen angewiesen. Aus literatursoziologischer Perspektive hätte man gerne mehr darüber gewußt, wie sich Einkommensverhältnisse und Vertragsbeziehungen mit Medien der »Berufsjournalistin« Paoli (S. 45) gestalteten, zumal wenn Paoli »[i]n der deutschen und österreichischen Medienlandschaft [...] kein Vorbild für diesen Ausbruch aus der normierten weiblichen Erwerbstätigkeit und für den Schritt an die Öffentlichkeit« (S. 43) gefunden haben soll. Auch eine Publikationsbiographie Paolis zeichnet sich nicht ab.

An literarischen Publikationen Paolis im engeren Sinn kommen der Arbeit insbesondere lyrische Texte in den Blick, die - ebenso wie die herangezogenen Feuilletons - vor allem inhaltlich ausgewertet werden. Es werden so zwar wichtige Aufschlüsse über den Rollenentwurf Paolis im oben beschriebenen Sinn gewonnen, für eine eingehendere Analyse der Positionierungen der Autorin dürften diese Ausführungen jedoch nicht ausreichen. So wie eine differenziertere Analyse der Paolischen Feuilletons die Rekonstruktion der (Schreib-)Möglichkeiten dieses Genres impliziert hätte, vor deren Folie die Texte mehr hergegeben hätten, wäre eine stärkere literaturgeschichtliche Verortung von Paolis Literatur angeraten gewesen. Welche Differenzqualitäten eignen Paolis Lyrik etwa gegenüber den von ihr - neben anderen - verarbeiteten Modellen Heine und Platen, zwei ebenso notorischen ›Außenseitern‹ (so Wozonig über Paoli, S. 28) wie gefeierten Lyrikern der ersten Jahrhunderthälfte? Wozonig interpretiert Paolis erstes, 1832 publiziertes Gedicht »An die Männer unserer Zeit« (»Spotten hör ich Euch und zürnen ob der Frauen Wankelmuth [...]«) im Kontext ihrer - mehr als dreißig Jahre später erschienenen - Aufsätze zur Mädchenbildung und beschreibt die »Widersprüchlichkeit« des rhetorischen Verfahrens, aus der Affirmation dominanter Weiblichkeitsvorstellungen Forderungen nach bürgerlicher Verbesserung abzuleiten (S. 123-125). Muß es jedoch nicht auch die politische Einschätzung des Textes verändern, wenn man bedenkt, daß dieser Text zunächst in Versmaß und Gestus zweifellos auf Anastasius Grüns soeben - aus Zensurgründen im Ausland, bei Campe in Hamburg - erschienene »Spaziergänge eines Wiener Poeten« (1831) rekurriert, die gemeinhin als ein Gründungsdokument des Jungen Österreich bzw. der politischen Vormärzlyrik überhaupt bewertet werden? Hätte das nicht Konsequenzen für die Einschätzung von Paolis ›Ästhetizismus‹? Und ließe sich insgesamt vor dem Hintergrund einer Normalrhetorik, einer ›Grammatik‹ der politischen Vormärzlyrik, der ›ästhetizistischen‹ Schreibweisen ebenso wie des liberalen Feuilletons in Nachmärz und Gründerzeit, nicht gerade ein historisch variabler ›Raum‹ von Schreibmöglichkeiten beschreiben, innerhalb dessen sich Paoli bewegt haben kann? Der Raumbegriff, mit dem die Arbeit operiert, ist deutlich untertheoretisiert geblieben; eine naheliegende Anleihe bei der Kultursoziologie Pierre Bourdieus (die in den recht umfangreichen methodischen Erwägungen nicht diskutiert wird) hätte hier einen Ausweg geboten, ohne auf ›essentialistische‹ Konzeptionen rekurrieren zu müssen.

Es läßt sich denken, daß ein nicht nur historiographisch, sondern auch literaturtheoretisch und -historisch sensibilisierter Zugang zu Problemen historischer Biographie hier noch einiges zu leisten fände; und wenn Wozonig sich abschließend sorgt, sich mit einer »Arbeit auf der Basis sozialgeschichtlich orientierter ›Frauenforschung‹ [...] in die Gefahr begeben« zu haben, »des platten Positivismus geziehen zu werden« (S. 175), so fände auch ein wohlverstandener »Positivismus« hier noch ein reiches Betätigungsfeld vor.

ANMERKUNGEN

1] Betty Paoli: Was hat der Geist denn wohl gemein mit dem Geschlecht? Hg. und eingeleitet von Eva Geber. Mit einem Essay von Karin S. Wozonig. Wien: Mandelbaum 2001.

2] Man sieht, daß es sich hierbei um eine metaphorische Größe handelt, ist Wozonig doch gezwungen, Paolis Reisen und ihre Reisefeuilletons dann unter dem Stichwort »Buchstäbliche Mobilität« (S. 107) abzuhandeln.

3] Gerhard Plumpe: Systemtheorie und Literaturgeschichte. Mit Anmerkungen zum deutschen Realismus im 19. Jahrhundert. in: Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Hg. von Hans-Ulrich Gumbrecht und Ursula Link-Heer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 486), S. 251-264.

4] Wozonig zieht Stifters »Nachsommer« - wenngleich mit einigen Kautelen - als biographische Quelle zu Paoli heran; das mag durchaus legitim sein, ausgerechnet im Fall Stifters aber wohl nicht mit der Begründung, man könne »aus dem Literaturverständnis des Realismus ein hohes Maß an Wirklichkeitsreferenz [!] ableiten und eine Übereinstimmung mit der tatsächlichen Arbeitssituation Paolis annehmen« (S. 99).

5] Betty Paoli: Gesammelte Aufsätze. Eingeleitet und hg. von Helene Bettelheim-Gabillon. Wien: Verlag des. Literarischen Vereins in Wien 1908 (= Schriften des Literarischen Verein in Wien 9).

6] Helene Bettelheim-Gabillon: Einleitung. In: Paoli (Anm. 5), S. V-CXI, hier S. V.

7] Nicht »Wandruska«, wie S. 44, S. 217 und Register S. 222. Vgl. auch z. B.: »Minna Kautzky« (S. 169 und Register S. 220) statt Kautsky; ärgerlich auch die vielen Druckfehler in dem schlecht lektorierten Band.

Werner Michler




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