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Sichtungen. Archiv - Bibliothek - Literaturwissenschaft ISSN: 1680-8975
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Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die »critique génétique«. Bern u.a.: Lang 1999 (= Arbeiten zur Editionswissenschaft 4), S., ISBN 3-906760-65-0, € (D) 30,70

Rezension

Rudolf Probst

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Endlich ist die grundlegende Einführung von Almuth Grésillon in die »critique génétique« auch auf deutsch erhältlich. Das französische Original mit dem sich bescheiden gebenden Titel »Éléments de critique génétique« ist 1994 in Paris (Presses Universitaires de France) erschienen. Die kenntnisreiche Übersetzung stammt von Wolfgang Günther und Frauke Rother, die Autorin – als ›bilingue‹ deutsch und französisch sprechend und schreibend – hat die Redaktion selber betreut wie auch aktuelle Entwicklungen und Neuerscheinungen zumindest in den Fußnoten berücksichtigt.

Das Buch ist in einem doppelten Sinn eine gute Einführung, und damit weit mehr als eine Darstellung von ausgewählten Themen der »critiquie génétique«, wie der französische Originaltitel nahelegt, nämlich eine systematisch angelegte Einführung in den Umgang mit literarischen Handschriften vom ersten Sichten, Beschreiben und Verzeichnen bis hin zu den Möglichkeiten, die Ergebnisse der textologischen Analysen interpretatorisch und editorisch auszuwerten; doch davon später. Und zweitens eine Einführung in die neue literaturwissenschaftliche Strömung, die sich eben »critique génétique« nennt.

Was ist und zu welchem Zweck betreibt man »critique génétique«? In den 70er Jahren hat sich in Frankreich diese literaturwissenschaftliche Untersuchungsmethode aus dem Strukturalismus heraus entwickelt. Sie interessiert sich – im Gegensatz zu der gleichzeitig in Deutschland entstehenden Rezeptionsästhetik – für die Produktion insbesondere moderner literarischer Werke und hat die Untersuchung literarischer Handschriften zum Gegenstand. Die »critique génétique« verwendet den Begriff "Handschrift" in seiner allgemeinsten Bedeutung und bezeichnet damit aus der Hand der Autoren stammende Dokumente, seien es nun Entwürfe, Arbeitsmanuskripte, maschinschriftliche Reinschriften oder handschriftlich veränderte Fahnen- und Umbruchseiten wie auch gedruckte Werke mit nachträglichen Änderungen aus der Hand des Autors. Das Interesse an und die Faszination durch Handschriften ist natürlich nicht neu. Grésillon zeichnet in ihrem Buch denn auch die Kulturgeschichte der Handschriften in einem Abschnitt kurz nach. Aber die spezifischen Fragestellungen der »critique génétique« sind durchaus originär, versucht diese literaturwissenschaftliche Methode doch, eine Ästhetik der Produktion, eine Theorie literarischer Schreibweisen und eine Typologie von literarischen Arbeitsprozessen nachzuzeichnen. Zu diesem Zweck analysiert und interpretiert die »critique génétique« Manuskriptmaterial. Das heißt, textgenetische Untersuchungen sind nur möglich, wo solches vorhanden ist, nicht aber bei Werken, die nur in einer Druckversion überliefert sind.

Die Beschreibung von Analyseverfahren der »critique génétique« ist zweifellos auch der gewichtigste Teil von Grésillons Einführung. In diesem Kapitel stellt sie das begriffliche Instrumentarium der Handschriftenanalyse vor, sie diskutiert und definiert Begriffe und Begrifflichkeit rund um das Phänomen der Handschriften: Von den verschiedenen Papiersorten und ihren Wasserzeichen ist die Rede, von Schreibwerkzeugen, verschiedenen Tinten, von der Veränderung der Schrift eines Autors, von seinen Wegen und Umwegen in der Textproduktion, von Streichungen, Erweiterungen, Ersetzungen und Umstellungen. Alle Begriffe werden in den zahlreich beigegebenen, zum Teil farbigen Illustrationen von Manu- und Typoskriptseiten vornehmlich französischer Autoren veranschaulicht. Ebenso leistet das Glossar am Ende des Buchs mit den Definitionen der wichtigsten Begriffe nützliche Dienste.

Die »critique génétique« untersucht idealerweise das gesamte überlieferte Manuskriptmaterial, das zu einem Werk vorhanden ist. Während diesbezüglich der von Jean Bellemin-Noël geprägte Begriff »avant-texte« die Gesamtheit des überlieferten handschriftlichen Materials bezeichnet, bevorzugt Grésillon zurecht den Begriff »dossier génétique«, um den Gegensatz zum Begriff Text als dem Text des gedruckten Werks zu vermeiden, weil dieser nach ihrer Meinung ebenfalls zum genetischen Dossier gehört. In ihrer Untersuchung des »dossier génétique« zeichnen die Textgenetiker den Schaffungsakt des Autors nach, sie versuchen, den oft verschlungenen Wegen von den ersten Aufzeichnungen, Wortlisten und Lektürenotizen über die ersten Textentwürfe, Arbeitshandschriften und Reinschriften bis zum gedruckten Werke nachzuzeichnen, Änderungen zu interpretieren und zu begründen, warum ein Autor zu einem bestimmten Zeitpunkt einen eingeschlagenen Weg verläßt, ihn ganz aufgibt oder sich neu ausrichtet. Das Erstellen eines genetischen Dossiers setzt sich aus mehreren Schritten zusammen: Zuerst müssen die Handschriften lokalisiert (dabei kann man prinzipiell nie sicher sein, wirklich alle Handschriften gefunden zu haben!), danach einzeln verzeichnet, in eine chronologische Abfolge gebracht und transkribiert werden, möglichst in einer diplomatischen Umschrift, wie Grésillon betont.

Die Ergebnisse der Handschriftenanalyse lassen sich nach Grésillon in ganz unterschiedlichen Fragestellungen weiterverwenden, sie erwähnt u. a. sprachwissenschaftliche Ansätze, Themen- und Motivforschung, Psychoanalyse und Literatursoziologie als Disziplinen, für die textologische Erkenntnisse aufschlußreich sein könnten. Der »critique génétique« geht es selber, wie erwähnt, um eher kognitive Aspekte der Schreibforschung im allgemeinen mit dem doppelten Ziel, einerseits eine Theorie der »critique génétique« zu ermöglichen, die bis dato fehlt, und andererseits eine Ästhetik literarischer Produktionsweisen sowie eine Geschichte von literarischen Schreibweisen zu formulieren.

Ein eigenes Kapitel widmet Grésillon dem Thema »critique génétique« und Edition. Auf diesem Gebiet liegen denn auch wohl die größten Verdienste dieser Methode. Die Autorin erwähnt und charakterisiert die wichtigsten genetischen Editionen der letzten dreißig Jahre, vor allem in Frankreich, aber auch in Deutschland, und sie versucht, im Streit zwischen den Herausgebern traditioneller historisch-kritischer und genetischer Editionen – bei welchen es sich um kontroverse Ansprüche handelt (hier die Herstellung eines edierten Textes, dort die möglichst lückenlose Dokumentation der Textentstehung) – zu vermitteln: Sie kritisiert einerseits die komplizierten Notationssysteme historisch-kritischer Ausgaben, die meist nur durch den Rückgriff auf die Handschriften entziffert werden könnten, die sie selber repräsentieren, und weist andererseits auf die Möglichkeiten von Computereditionen hin, die einen wesentlich flexibleren Umgang mit handschriftlichem Material erlauben würden als in Buchform.

Eine Frage, mit der sich Grésillon nicht auseinandersetzt und die in letzter Zeit im deutschsprachigen Raum diskutiert wird (vgl. etwa Roland Reuß: Schicksal der Handschrift, Schicksal der Druckschrift. Notizen zur »Textgenese«. In: Textkritische Beiträge 5 [1999], S. 1–25) soll hier nur noch kurz angeschnitten werden: Worin liegen die Vorzüge einer textgenetischen Betrachtungsweise bezüglich der Interpretation eines (publizierten) Endtextes? Je nach Werk- oder Textbegriff fällt eine Legitimation der Bedeutung textgenetischer Analyse für die Interpretation unterschiedlich aus: Setzt man einen umfassenden Werkbegriff im Sinn des Textologen Siegfried Scheibe voraus, gehört die genetische Analyse notwendigerweise zu einer adäquaten Untersuchung von Texten, sind doch Vorfassungen nach Scheibe integrierter Bestandteil des ›Werks‹. Verschiedene zeitliche Versionen eines Textes (»Fassungen«) lassen sich nach Scheibes Kriterien der Textidentität und Textvarianz aufeinander beziehen und voneinander unterscheiden. Die Analyse von Analogien und Differenzen verschiedener Textversionen, die Untersuchung der vom Autor vorgenommenen, zeitlich zueinander in Relation zu bringenden Textänderungen ermöglichen eine ›genetische Interpretation‹ des Textes, indem Interpreten Hypothesen über die zeitliche Relation und den Charakter der Änderungen formulieren.

Schränkt man den Werkbegriff hingegen in traditioneller Weise auf den publizierten Endtext ein, wird eine Legitimation textgenetischer Betrachtungsweise schwieriger. Im folgenden sollen einige Hinweise auf den Nutzen textgenetischer Forschungen hinsichtlich dieses eingeschränkten Werkverständnisses gegeben werden, lassen sich Endtext und Vorfassung doch nur bei einem solchen Textbegriff überhaupt sinnvoll voneinander trennen.

Vorfassungen und frühe Textversionen gehören ›per se‹ zum Kontext des Werks. Wenn es erlaubt ist, einen schwierigen Text im Kontext eines Gesamtwerks zu erklären, um wieviel sinnvoller erscheint dann die Hinzuziehung des betreffenden Werkkontextes selber zur Formulierung von Interpretationshypothesen! Es geht bei der textgenetischen Untersuchung nicht darum, einen Endtext aus seinen Vorfassungen zu erklären, die Mehrdeutigkeiten des Endtextes unter Rekurs auf seine Vorfassungen eindeutig interpretieren zu wollen, wie Reuß in seiner allgemeinen Kritik der ›Textgenese‹ zu implizieren scheint. Textgenetische Erkenntnisse können bestimmte Interpretationen unterstützen, andere vielleicht aber auch widerlegen, wie dies etwa am Beispiel der Überlieferungslage von Büchners »Woyzeck« oder Kafkas »Process« und seines »America«-Romans veranschaulicht werden könnte. Anhand der werkgenetischen Betrachtungsweise können Kontexte erschlossen werden, die aus dem Endtext nicht unmittelbar hervorgehen. Mit Sicherheit vermag die Untersuchung der Textgenese Lesende auf bestimmte und bestimmende Eigenschaften eines publizierten Endtextes aufmerksam zu machen, indem sie gewisse Textmerkmale als zusammengehörende Änderungen in einer präzise bestimmbaren Sinnrichtung erkennbar werden läßt. Für die Lesenden können textgenetische Erkenntnisse neue Betrachtungsweisen und Fragestellungen, neue Kriterien bezüglich Analyse und Interpretation des Endtextes eröffnen, die möglicherweise zu einem umfassenderen Verständnis des Textes führen können, als dies die Beschränkung auf den publizierten Endtext erlaubt. Wenn Analyse und Interpretation unter einem traditionellen Werkbegriff ein quasi zweidimensionales Bild des Textes entwerfen, ergänzt der Einbezug der genetischen Betrachtungsweise dieses Bild in der dritten Dimension, jener der Zeit der Entstehung.

Rudolf Probst

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Rudolf Probst
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