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Andreas Brandtner: Das Goethe- und Schiller-Archiv 1896-1996. Beiträge aus dem ältesten deutschen Literaturarchiv. Hg. von Jochen Golz. Weimar, Köln, Wien: Böhlau 1996, 488 S., ISBN 3-412-12095-2, € (A) 35,50 / € (D) 34,50. Rezension (20. 04. 2002). In: Sichtungen online, PURL: http://purl.org/sichtungen/brandtner-a-1b.html ([aktuelles Datum]). - Auch in: Sichtungen 1 (1998), S. 153-155.

Andreas Brandtner
Wiener Stadt- und Landesbibliothek
Handschriftensammlung
Rathaus, A-1082 Wien
Adressinformation zuletzt aktualisiert: 2000

Das Goethe- und Schiller-Archiv 1896-1996. Beiträge aus dem ältesten deutschen Literaturarchiv. Hg. von Jochen Golz. Weimar, Köln, Wien: Böhlau 1996, 488 S., ISBN 3-412-12095-2, € (A) 35,50 / € (D) 34,50

Rezension

Andreas Brandtner


[1/ S. 153:] Im Unterschied zu den meisten anderen Literaturarchiven ist der Bestand des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar grundsätzlich abgeschlossen und dem Prinzip der Anreicherung des Vorhandenen verpflichtet. Den Kern der Sammlungen des ältesten Literaturarchivs Deutschlands bilden Nachlässe aus der Zeit der deutschen Klassik, vor allem die der beiden Namensgeber. Gegründet wurde das Archiv im Jahr 1885 als Goethe-Archiv der Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar und Eisenach, in dessen Eigentum der Nachlaß Goethes übergegangen war. 1889 konnte Friedrich Schillers Nachlaß übernommen werden. Am 28. Juni 1896 wurde schließlich das Gebäude des nunmehrigen Goethe- und Schiller-Archivs feierlich eröffnet.

Der von dem Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs Jochen Golz ans Anlaß der Wiederkehr des Eröffnungsdatums herausgegebene Band umfaßt 22 Einzelbeiträge, die in der Mehrzahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Archivs verfaßt wurden. Einleitend stellt Golz in einem umfangreichen Aufsatz, der zahlreiche wichtige historische Text- und Bildquellen auswertet, die Geschichte und die gegenwärtige Arbeit des Goethe- und Schiller-Archivs vor und leistet damit zudem einen anregenden Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik. Für eine aktuelle Archivarbeit erscheinen am Beispiel Weimars besonders zwei Problemhorizonte relevant: Erstens erweist sich, daß das Literaturarchiv als Institution, der im arbeitsteiligen Feld der Literaturwissenschaft bestimmte Aufgaben zukommen, von der Konjunktur tendenziell positivistischer literaturtheoretischer Positionen abhängt, um mit dem wissenschaftlichen Systemumfeld störungsfrei kommunizieren zu können. Und zweitens wird die wechselhafte Stellung des Literaturarchivs im Verlauf seiner Ausdifferenzierung seit dem späten 19. Jahrhundert erkennbar; einerseits werden dem Archiv hauptsächlich Forschungsaufgaben vor allem ans dem Bereich der Editorik zugewiesen, andererseits die archivarischen Pflichten im engeren Sinn betont, nämlich Ordnung und Verzeichnung der Bestände. Das Goethe- und Schiller-Archiv, das weit über seine Gründung hinaus dem Versuch, Reichspatriotismus und Klassikerverehrung harmonisch zu versöhnen, ausgesetzt war, hat all diese unterschiedlichen Phasen durchlaufen. Wie Golz andeutet, steht es nun vielleicht erneut vor einem größeren Einschnitt, wenn es seine Erwerbungsprinzipien ändert und sich auch dem Sammeln zeitgenössischer Literatur öffnet.

Auf den historischen Abschnitt zwischen 1949 und 1958 konzentriert sich der Beitrag von Volker Wahl. Dargestellt wird zentral die Reorganisation des Archivs unter Willy Flach, der 1954 seine Leitung übernommen hat. Flach trat der bisherigen - zugunsten der Goethe-Philologie erfolgten - Vernachlässigung der archivarischen Aufgaben entschieden entgegen und leitete eine vollständige Verzeichnung und Inventarisierung der Bestände ein. Als Ziel seiner Bemühungen formulierte Flach die »Herstellung einer Ordnung, die nicht für einen be- [1/ S. 154:] stimmten Zweck gemacht wird, sondern die jeder wissenschaftlichen Fragestellung antwortet« (S. 101) - eine Vorgabe, die als Arbeitsmaxime produktiv sein mag, systematisch allerdings nicht mehr konsistent erscheint. Ist doch nach der Diskussion sowohl ideologiekritischer als auch konstruktivistischer Positionen klar geworden, daß strukturelle Voraussetzungen stets erkenntnisleitend funktionieren und vermeintlich wissenschaftlich objektive Ordnungszusammenhänge selbst aus kontingenten Entscheidungen resultieren.

Die von Flach so eindringlich geforderte professionelle Archivarbeit behandelt Gerhard Schmid sowohl in historischer Perspektive als auch mit Blick auf die Gegenwart und hebt dabei besonders auf die Konsequenzen der jeweils unterschiedlichen fachlichen Kompetenzen der Mitarbeiterschaft ab. War das Archiv zuerst vor allem auf Goethe abgestellt und erarbeitete wichtige Editionen (z. B. die Weimarer oder Sophienausgabe Goethes), so brachte die Konzentration auf das Museale während der Weimarer Republik und der Zeit nationalsozialistischer Herrschaft eine konservatorische Bedrohung der Bestände mit sich. Nach einer kurzen Übergangsphase nach dem Zweiten Weltkrieg, in der versucht wurde, das Goethe- und Schiller-Archiv zu einem Forschungs- und Ausbildungszentrum für marxistische Nachwuchsgermanisten umzufunktionieren, wurde unter dem Direktorat von Flach erstmals der Erfahrungsbereich des gesamten Archivwesens eingebracht. Plausibel ist Schmids auf die Gegenwart bezogenes Plädoyer, für die Arbeit am Literaturarchiv literatur- und archivwissenschaftliche Kompetenzen zu verbinden und die Erschließung und Betreuung der Bestände als zentralen Aufgabenbereich zu werten. Allerdings vermißt man spätestens hier den Einbezug von Fragestellungen, die sich auf die zunehmende Computerisierung des literaturarchivarischen Aufgabenfeldes beziehen. Denn sowohl die Überführung der Nachlaß- und Autographenaufnahme in Datenbanken, die zusehends traditionelle Karteisysteme ablösen, als auch die Aneignung der Möglichkeiten des World Wide Welt zählen zu den derzeit größten Herausforderungen der Archive.

Ergänzt werden die historischen Ausführungen noch um Dorothea Kuhns vor allem persönliche Erinnerungen, die die Archivatmosphäre seit den 40er Jahren schildern und Einblick in ihre Mitarbeit an der Leopoldina-Ausgabe von Goethes Schriften zur Naturwissenschaft geben. Wohl unvermeidlich sind einige Überschneidungen in den geschichtlichen Darstellung, die vor allem die zentralen Ereignisse betreffen.

Zu einer Jubiläumsschrift paßt durchaus ein genauer Blick auf das Archivgebäude, das Bernd Mende vor allem in architekturhistorischer Perspektive darstellt. Schließlich gibt Roswitha Wollkopf einen Einblick in die Erwerbspolitik des Goethe- und Schiller-Archivs, dem es seit der Wiedervereinigung Deutschlands erneut möglich ist, regelmäßig an internationalen Handschriftenauktionen vertreten zu sein und direkt aus Privatbesitz zu erwerben. Die Sammelschwerpunkte liegen dabei nicht nur im Bereich der klassischen deutschen Literatur, sondern auch bei Dokumenten, die den Nachlaß Friedrich Nietzsches ergänzen sollen.

[1/ S. 155:] Die literaturhistorischen Beiträge des Bandes stehen allesamt in engem Zusammenhang mit den speziellen Tätigkeiten am Literaturarchiv. Besonders interessant erscheint hier der Zusammenhang von einerseits archivarischer Praxis sowie Forschung und andererseits Literaturgeschichtsschreibung. So führt etwa Sabine Henkes Aufsatz zur Überlieferung der Bühnenbearbeitungen von Goethes »Götz von Berlichingen« vor, welche Erkenntnisse, auf der Grundlage der Inventarisierung von Handschriften, über den Entstehungszusammenhang eines bestimmten Textes gewonnen werden können. Ihre Kollegin Sabine Schäfer verdeutlicht anhand einer Briefsammlung aus dem Nachlaß Goethes die Wichtigkeit der Erhaltung historischer Überlieferungsformen, die aufschlußreiche Informationen über den Sammelgegenstand transponieren können.

Einige weitere Beiträge analysieren einzelne Bestände des Archivs und machen auf neuere Funde aufmerksam, die wissenschaftlich noch nicht ausgewertet sind. Auf einen im Rahmen der Erarbeitung der Gesamtausgabe der Briefe an Goethe in Regestform erschlossenen Bestand greifen Ulrike Bischof in ihrem Aufsatz zu Briefen von Frauen an Goethe und Manfred Koltes mit Ausführungen zu Goethes Korrespondenz mit Sulpiz Boisserée zurück. Als bislang nicht bekannte oder zu wenig wahrgenommene Archivdokumente werden das aus Goethes Besitz kommende Stammbuch des Antonius von Burkana, Johann Gottfried Herders Handschrift der Gedichtübertragung »Aufschriften auf den Königsgräbern bei Persepolis« und Briefe Ferdinand von Saars und Thomas Manns detailliert vorgestellt. Unter dem Blickwinkel bevorstehender Editionen werden Christian Friedrich Michaelis Niederschrift von Schillers ästhetischen Vorlesungen und frühe Entwürfe und Notizen Ludwig Achim von Arnims aufgegriffen.

Zudem macht der Band auf Gesamtbestände aufmerksam, die das verstärkte Interesse der Forschung finden sollen: die Nachlässe von Karl Ludwig von Knebel, Franz Liszt (mit zusätzlichen Beiträgen zu seiner Korrespondenz mit Heinrich Heine und zur Werkgeschichte der Psalmen 23 und 137 Liszts), die Teilnachlässe Malwida von Meysenbugs, Julius Grosses und Joseph Kürschners sowie Bestände aus dem Umkreis des sogenannten Konservativen Weimar (z. B. Adolf Bartels, Werner Deetjen, Friedrich Lienhard, Heinrich Lilienfein, Börries von Münchhausen und Ernst von Wildenbruch).

Im Kontext des Bandes isoliert, weil nicht auf der Basis handschriftlicher Befunde argumentierend, stellt die essayistische Interpretation zu »Gottes Tod in Nietzsches ›Also sprach Zarathustra.‹« von Marie-Luise Haase.

Die äußerst instruktive und solide Jubiläumsschrift, die das Goethe- und Schiller-Archiv als wichtige Forschungs- und Bildungseinrichtung und insbesondere als Zentrum germanistischer Edition akzentuiert, beschließt ein Bestandsverzeichnis, das die 111 persönlichen Archivbestände, die acht Bestände institutioneller Herkunft und die Autographensammlung, in der etwa 3000 Autorinnen und Autoren vertreten sind, ausweist. Es ist schade, daß bei solch großer Anstrengung auf die Einrichtung eines Personenregisters verzichtet wurde.

Andreas Brandtner




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