Copyright (C) 2002 by Sichtungen online
Diese Schreibpraxis ist besonders bei einem Konvolut zu einem nicht fertiggestellten größeren Romanprojekt (Notation 1.1.6) erkennbar. Es finden sich zu diesem Projekt zahlreiche Unterlagen: unzählige Notizen, Entwürfe, Gliederungen und Fassungen einzelner Teile. Diese wohl mit krankheitsbedingten Unterbrechungen in den Jahren vor Anita Pichlers Tod entstandenen Dokumente sind über weite Teile des Nachlasses verstreut: in Tagebüchern und Notizheften, als Einlegeblätter und von der Autorin als Konvolute zusammengefaßt. Pläne über mögliche Verknüpfungen der Schreibstränge zeigen, wie nach und nach erst ein Text entstehen sollte. Der fragmentarische Charakter der Unterlagen dokumentiert dabei den Status quo zu einem Zeitpunkt der Textgenese, an dem das Werk bei weitem noch nicht abgeschlossen war.
Die Erzählweise Anita Pichlers, die Verweigerung klar strukturierter Handlungsstränge, die Aufhebung zeitlicher und kausaler Abfolgen, können mit dieser Schreibpraxis in einem produktiven Zusammenhang gesehen werden. Die zahlreich vorhandenen Unterlagen zum Entstehungsprozeß der beiden im Suhrkamp-Verlag veröffentlichten
Der Nachlaß von Anita Pichler enthält zahlreiche Texte, die verworfen, nie abgeschlossen oder nie publiziert wurden. Neben einigen literarischen Arbeiten aus den 60er und 70er Jahren – vornehmlich in Italienisch verfaßt – ist vor allem die literarische Produktion in den 80er und 90er Jahren gut dokumentiert. Der wahrscheinlich in Berlin entstandene Erzählzyklus »Alpträumerei« sowie Texte zu einem Kinderfilm dürften dabei die ersten umfangreicheren fiktionalen Werke Pichlers gewesen sein. Nach eigener Aussage mußte sich die Autorin zu dieser Zeit, in der sie über ein Stipendium der Ost-Berliner Humboldt-Universität verfügte, nach langem Aufenthalt im italienischen Sprachraum die deutsche Sprache wieder »erarbeiten«.
»Alpträumerei« vereinigt rund ein dutzend Texte, die, thematisch zusammengehörig, immer wieder neu variiert, zusammengefaßt und umgearbeitet wurden und teils auch auf Italienisch vorliegen. Abgelegt war dieser Erzählzyklus in unterschiedlichen Arbeitsmappen, die vor allem ungeordnetes Material enthielten, teils in einem losen inhaltlichen Zusammenhang, oft aber auch nur in einem zeitlichen Nahverhältnis. Im Zuge der Nachlaßbearbeitung mußten diese zahlreich vorhandenen Arbeitsmappen größtenteils aufgelöst werden, da sich inhaltliche Zusammenhänge kaum herstellen ließen. Erschien die Ablage als Konvolut allerdings sinnvoll – etwa bei der literarischen Produktion als Stadtschreiberin von Biel oder als Dorfschreiberin im Rahmen des »Villgrater Sommers« – wurden die Zusammenhänge erhalten.
Zur beruflichen wie literarischen Tätigkeit Pichlers in den 70er Jahren finden sich – sieht man von den Unterlagen zum Studium und besonders zur Dissertation einmal ab – weit weniger Dokumente. Daneben enthält der Nachlaß eine Sammlung von Zeitungsausschnitten, von Dokumenten zu öffentlichen Auftritten sowie zur beruflichen wie persönlichen Tätigkeit aus den folgenden zwei Jahrzehnten.
Neben der Autorin dokumentiert der Nachlaß auch die Übersetzerin Anita Pichler. Die Übertragung von »Die Steine von Pantalica« des sizilianischen Autors Vincenzo Consolo für den Suhrkamp-Verlag nimmt hierbei den größten Umfang ein. Zudem finden sich die Übersetzungen von Hans Kitzmüllers »Über das Innehalten auf einem Feldweg«, von Alejandra Pisarniks Lyrikband »Werke und Nächte« sowie einzelner verstreuter Gedichte.
Die Erschließung des in zehn Kartons von den Nachlaßverwalterinnen Sabine Gruber und Renate Mumelter dem ÖLA übergebenen Nachlasses erfolgte im Herbst und Winter 1998/99 im Rahmen einer Diplomarbeit. Als Orientierung dienten dabei besonders die »Regeln zur Erschließung von Nachlässen und Autographen« (RNA). Die Ordnungssystematik ist im folgenden in gekürzter Form wiedergegeben. Sämtliche Unterlagen sind geordnet, in ca. 250 Flügelmappen abgelegt und EDV-mäßig in der Datenbank allegro-HANS erfaßt.
Stephan Hilpold