Sichtungen. Archiv - Bibliothek - Literaturwissenschaft ISSN: 1680-8975
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Almuth Grésillon: Mitteilungen: Das »Institut des Textes et Manuscrits Modernes« in Paris [Grundeintrag 1998] (30. 11. 2001). In: Sichtungen online, PURL: http://purl.org/sichtungen/gresillon-a-1a.html ([aktuelles Datum]). - Auch in: Sichtungen 2 (1999), S. 212-215 [Grundeintrag 1998].

Almuth Grésillon
Institut des Textes et Manuscrits Modernes
45, rue d’Ulm, F-75005 Paris
URL: http://www.item.ens.fr/
Adressinformation zuletzt aktualisiert: 1999

Das »Institut des Textes et Manuscrits Modernes« in Paris

Almuth Grésillon


Grundeintrag 1998

[2/ S. 212:]

Geschichte und institutionelle Einbindung

Das »Institut des Textes et Manuscrits Modernes« (ITEM; vgl. http://www.item.fr/) ist eine ausschließlich vom französischen »Centre National de la recherche scientifique« (CNRS) getragene Forschungsgruppe. Sie ist nicht direkt in das französische Universitätswesen eingebunden, wenngleich zahlreiche Hochschullehrer an den Projekten mitarbeiten. Sie ging 1982 aus der 1969 gegründeten »Equipe Heine« hervor, die mit der Erschließung, Interpretation und Edition der 1966 vom französischen Staat erworbenen Heine-Handschriften beauftragt war. Die Arbeit an den Handschriften Heinrich Heines hatte den Kontakt mit anderen Handschriften-Nachlässen und -sammlungen (Louis Aragon, Gustave Flaubert, James Joyce, Marcel Proust, Jean-Paul Sartre, Paul Valéry, Emile Zola) gefördert, so daß sich aus den gemeinsamen theoretischen und praktischen Fragen schließlich ein gemeinsames Forschungsobjekt entwickelt hat, das in der Gründung des ITEM seinen konkreten Niederschlag fand. Geographisch [2/ S. 213:] angesiedelt ist das ITEM in zwei berühmten Pariser Institutionen: der Bibliothèque nationale de France (61, rue de Richelieu, F-75002 Paris) und der Ecole Normale Supérieure (45, rue d’Ulm, F-75005 Paris). Ein Kooperationsprogramm verbindet das ITEM mit beiden Institutionen.

Derzeitiger Leiter des ITEM ist Jean-Louis Lebrave, der sich als Germanist und Linguist über Heine-Handschriften habilitiert hat und an Hypertextprojekten arbeitet; seine Vertreterin ist Claire Bustarret, eine Spezialistin für moderne Kodikologie.

Struktur

Dem Institut gehören insgesamt 120 Personen an. Zwanzig davon haben feste, vom CNRS bezahlte Stellen. Dazu kommen zehn Doktoranden, sechzig französische und dreißig ausländische Hochschullehrer, deren Forschungsgebiet sich ganz oder teilweise mit dem Forschungsprogramm des ITEM deckt.

Die wissenschaftliche Struktur des Instituts besteht aus zehn permanenten Gruppen und drei weiteren, vertraglich gebundenen Projektgruppen. Die permanenten Gruppen wiederum setzen sich aus sechs auf Autoren spezialisierten (Flaubert, Joyce, Proust, Sartre, Valéry, Zola) und vier methodologisch orientierten Gruppen (Technik und Praxis des Schreibens, Linguistik, Autobiographie, Genetische Edition und Hypertext) zusammen. Die Mitarbeit des ITEM an drei vertraglich gebundenen Programmen betrifft das von der Staatsbibliothek zu Berlin koordinierte EU-Projekt MALVINE (Manuscripts and Letters via Integrated Networks in Europe), das CNRS-eigene Forschungsprojekt »Archives de la création« sowie das Kognitionsprojekt »Philectre« (Philologie électronique), das im Rahmen öffentlicher und privater französischer Forschungsinstitutionen durchgeführt wird.

Wissenschaftlicher Auftrag

Im Unterschied zu anderen Institutionen, die sich mit literarischen Handschriften befassen, besitzt das ITEM im Prinzip kein eigenes Archivmaterial.[1] Die Handschriften, die der Forschung zugrunde liegen, befinden sich in öffentlichen Bibliotheken und Archiven (wobei den Beständen der Bibliothèque nationale de France natürlich der Vorrang zusteht: Flaubert, Proust, Sartre, Valéry, Zola).

Ziel der Forschung ist es, die Handschriften nicht als symbolisches Erbe oder stummes Archivmaterial, sondern als wissenschaftliches [2/ S. 214:] Objekt zu betrachten und aus ihnen die Dynamik der Schreibprozesse zu rekonstruieren. Dies bedeutet konkret, daß das gesamte zu einem literarischen Werk überlieferte Material (Notizhefte, Exzerpte, Wort- und Namenslisten, Entwürfe, Szenarios, Brouillons, Reinschriften, Druckvorlagen, Druckfahnen, vom Autor handschriftlich korrigierte Ausgaben) erschlossen, datiert, transkribiert und zu einem »dossier génétique« gruppiert werden muß. Dieser ist sodann Ausgangspunkt von zwei möglichen Wegen der Forschung: einerseits dem Weg der Interpretation, der anhand aller Schreibspuren und Umarbeitungen (tilgen, erweitern, ersetzen, umstellen) die ›allmähliche Verfertigung von Texten beim Schreiben‹, also die Genese der Texte nachvollzieht und kommentiert, und andererseits dem Weg der Edition, über den alles genetische Material zugänglich gemacht wird (via Faksimile und Transkription) und auf dem die ersten elektronischen genetischen Editionen entstehen.

Publikationen

Ein Teil der Forschungsergebnisse des ITEM erscheint in der Reihe »Textes et Manuscrits« (bisher Bde. 1-11. Paris: CNRS Éditions) und in der 1992 gegründeten Zeitschrift »Genesis« (bisher Bde. 1-14. Paris: Place). Weiterhin informiert ein reich illustrierter Sammelband, »Les Manuscrits des écrivains« (Hg. von Louis Hay. Paris: Hachette, CNRS Éditions 1993), sowie eine von Almuth Grésillon veröffentlichte Einführung, »Eléments de critique génétique. Lire les manuscrits modernes« (Paris: Puf 1994),[2] über die inzwischen unter dem Namen der »critique génétique« bekannt gewordene Forschungsrichtung.

Perspektiven

Die textgenetische Forschung wird sich in den folgenden Jahren höchstwahrscheinlich in zwei Richtungen weiterentwickeln. Einerseits werden sich die Einsichten in Schreibprozesse generalisieren und womöglich als kognitive Produktionsprozesse interpretieren lassen; diese wiederum müssten sich auf anderen Gebieten künstlerischen und geistigen Schaffens in ähnlicher Weise beschreiben lassen. Es bestehen bereits derartige Ansätze in der Musikwissenschaft, Architekturtheorie, Kunstgeschichte sowie in den Naturwissenschaften. Zum anderen öffnen die neuen Medien Möglichkeiten, Schreibprozesse dynamisch darzustellen, die keine noch so perfekte historisch- [2/ S. 215:] kritische Ausgabe auf Papier je erreichen kann. Damit wird die überlieferte Hierarchie zwischen Text und Apparat endgültig ersetzt durch eine Darbietung aller genetischen Textzeugen, die der Leser in der von ihm bestimmten Folge und Vollständigkeit konsultieren, interpretieren oder edieren kann. Editionen dieser Art sind zur Zeit zu Roland Barthes, Edmond Jabès, James Joyce und Friedrich Nietzsche in Arbeit.

Wissenschaftliche Kooperationen

Zu den schon erwähnten Projekten treten immer mehr Verbindungen mit dem französischen Universitätswesen. Mitglieder des ITEM übernehmen reguläre Lehrveranstaltungen an der Universität und betreuen Dissertationen, über die der wissenschaftliche Nachwuchs herangezogen wird. Ausländische Kooperationsprogramme bestehen seit vielen Jahren mit Brasilien und Rußland, während der Austausch mit dem deutschsprachigen Ausland oder auch mit Italien sozusagen spontan gepflegt wird, d. h. über Vorträge, gemeinsame Kolloquien und Zeitschriftenaufsätze.

Almuth Grésillon

Anmerkungen

1] Louis Aragon hat im Jahr 1976 seine eigenen Handschriften und die von Elsa Triolet dem CNRS vermacht und unser Institut mit der wissenschaftlichen Erschließung dieser Nachlässe betraut, die zur Zeit noch im ITEM aufbewahrt sind; über deren weiteren Verbleib - eventuell als Depositum in einer Aragon-Triolet-Stiftung - wird noch beraten.

2] Deutsche Fassung: Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die ›critique génétique‹. Bern: Lang 1999 (= Arbeiten zur Editionswissenschaft 4).




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