Frauen in Bewegung

Müller-Cohen, Anitta (geb. Rosenzweig, auch: Cohen, Anita)
1890 - 1962

Anitta Müller
aus: Wiener Bilder, 1919, Nr. 6
  1. Biographie:

    • Gedenkdienst (Zu Besuch bei Frau Müller und Frau Cohen. Von Dieter J. Hecht)

    • "Die 1890 als Anitta Rosenzweig in Wien geborene vielseitige Aktivistin verbrachte ihre Kindheit in einem bürgerlich jüdischen Elternhaus. Durch die Freundschaft ihres Vaters Salomon Rosenzweig mit dem liberalen Politiker Josef Ofner (1845-1924) wurde in Müller-Cohen bereits früh das Interesse für soziale Anliegen geweckt. Ihrem anfänglichen Engagement im Rahmen des Allgemeinen Österreichischen Frauenvereins (AÖF) folgte im Zuge des Ersten Weltkrieges eine umfangreiche Tätigkeit in der Flüchtlingsfürsorge. Die Tatsache, dass Anitta Müller-Cohen zu diesem Zeitpunkt bereits mit Arnold Müller verheiratet war und im Jahre 1911 die gemeinsame Tochter Blanka zur Welt brachte, soll in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben.
      Kurz nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges gründete die damals 24jährige unter der Mitarbeit von Freunden, Verwandten und Bekannten eine eigene Hilfsorganisation, die sie am 1. September 1914 mit ihrer Tätigkeit in der Wöchnerinnenfürsorge begann. Dieser folgten bald darauf weitere Einrichtungen, wie ein Mütterheim, Einrichtungen zur Säuglingsfürsorge, ein Kinderhort, Tee- und Suppenanstalten, eine Arbeitsschule, ein Mädchen- und Knabenheim und eine Kinderheilstätte. Trotz der ursprünglich interkonfessionellen Ausrichtung der Hilfsgemeinschaft, die im Kontext des Krieges auch auf strategische Überlegungen zurückzuführen war, waren sowohl die Vorstandsmitglieder und MitarbeiterInnen als auch die überwiegende Mehrheit der betreuten Flüchtlinge jüdischer Herkunft. Nicht unwesentlich ist in diesem Zusammenhang die Bekanntschaft mit der aus Wien stammenden Bertha Pappenheim (1859-1936), Begründerin des Jüdischen Frauenbundes in Deutschland. Einer autobiographischen Notiz zufolge war es Pappenheim, die den Ausschlag für Anitta Müller-Cohens bewusste Zuwendung zur jüdischen Sozialarbeit gab.
      (aus: Raggam-Blesch, Michaela, s.u.)

    • Anitta Müller-Cohen wurde im Jahre 1890 in Wien geboren, studierte an der Universität Wien Lehramt und widmete sich der Sozialarbeit. Da sie wohlsituierte Eltern hatte, konnte sie es sich leisten, ihre Nächstenhilfe freiwillig und unentgeltlich zu leisten. Als Zwanzigjährige besuchte sie 1910 zum ersten Male Palästina und im Ersten Weltkrieg organisierte sie ein großes österreichisches Flüchtlingshilfswerk, indem sie - damals fünfundzwanzig Jahre alt - vor allem für unterernährte Kinder, die Umschulung und Berufsausbildung Jugendlicher und für die Beschaffung von Kleidung und Beschäftigung von Flüchtlingen Sorge trug.
      Im Jahre 1920 nahm sie an der Weltkonferenz der jüdischen Sozialverbände teil, auf der sie zur Vorsitzenden gewählt wurde. Sie leitete die Arbeit des Joint Distribution Commitee in Österreich, sorgte mütterlich für ukrainische Pogromwaisen und organisierte 1925 die jüdische Sozialarbeit in den USA. Als Neunundzwanzigjährige wurde sie in den Wiener Stadtrat gewählt, wo sie besonders für die Verbesserung der Sozialgesetzgebung und die Institutionalisierung der Wohlfahrtsarbeit eintrat. Um die Aufnahme einer noch nicht voll Dreißigjährigen in den Stadtrat zu ermöglichen, nahm man für Anitta Müller eine Gesetzesänderung vor. Für ihre Verdienste und Leistungen in der Wohlfahrtsarbeit wurde sie von Kaiser Karl mit einem Orden ausgezeichnet. In der Notzeit nach dem verlorenen Kriege organisierte sie Erholungsheime, Volks- und Mittelstandsküchen, Tee- und Wärmstuben für den kalten Winter, Heime und Lehrwerkstätten für mehr als tausend Waisenmädchen und dergleichen mehr. Für zwölftausend unterernährte und kränkliche Kinder schuf und leitete sie das "Kaiser-Karl-Hilfswerk", das bedürftige Kinder zur Erholung in der Schweiz, nach Dänemark, Schweden, Italien, Deutschland, in die Tschechoslowakei und nach Jugoslawien schickte.
      Nach einigen Besuchen in Erez Israel übersiedelte sie 1934 nach Tel Aviv, wurde Vorsitzende des Misrachi-Frauenverbandes im Lande, reorganisierte und leitete den österreichischen Einwandererverband Hitachdut Olej Austria, der 'illegalen' Einwanderern ohne Unterschied des Herkunftslandes, der Parteizugehörigkeit und der Ideologie umfangreiche erste Hilfe leistete. Hierzu gehörte eine breitgefächerte Sozial- und Kulturarbeit wie Hebräischunterricht, die Abhaltung von Informationsseminaren in Landeskunde und Judaica, die Verabreichung von Gratismahlzeiten in einer eigens hierfür geschaffenen Mittelstandsküche und ein Arbeitsvermittlungsdienst.
      Anitta Müller war auch Mitgründerin des Sozialen Frauendienstes und Mitorganisatorin des Hilfsamtes des Waad Le'umi (der Organisation der jüdischen Landesbevölkerung), half bei der Jugendalijah und einigen anderen Institutionen. Jede Not und jeder Mangel, unter dem ihre Mitmenschen litten, spornte ihre segensreiche Initiative an. Es war ihrer Tatkraft, ihrem Prestige und ihrem Organisationstalent zu verdanken, daß es ihr im Jahre 1950 gelang, die Gebeine des von ihr hochgeachteten Oberrabbiners Zwi Perez Chajes aus Wien nach Israel zu überführen und im Heiligen Land zur letzten Ruhe zu bestatten.
      Als der Verband der Einwanderer aus Mitteleuropa, Irgun Olej Merkas Europa, sein Elternheim für Einwanderer aus Österreich im Jahre 1966 einweihte, gab er ihm den Namen 'Bet Anitta Müller-Cohen'.
      (aus: Faerber, Meir Marcell: Österreichische Juden : historische Streiflichter. Klagenfurt, 1996, S. 95 f.)

    • Anitta Müller-Cohen war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine der bekanntesten juedischen Frauen in Wien. Sie wurde am 6.6.1890 als Tochter der wohlhabenden, assimilierten juedischen Kaufmannsfamilie Rosenzweig in Wien geboren. Bereits frueh interessierte sie sich fuer Sozialarbeit und die buergerliche Frauenbewegung. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs gruendete sie die "Soziale Hilfsgemeinschaft Anitta Mueller". Im Rahmen dieser Organisation half sie in den folgenden Jahren tausenden, vor allem juedischen Fluechtlingen durch die Errichtung von Tee- und Suppenanstalten, Fuersorgeeinrichtungen fuer Muetter und Kinder, etc. Bald avancierte die "Soziale Hilfsgemeinschaft" zu einer der groessten privaten juedischen Hilfsorganisationen Wiens. Gleichzeitig wandte sich Anitta Mueller-Cohen auch dem Zionismus, der Politik und dem Journalismus zu. Sie war in der Juedischnationalen Partei aktiv und schrieb zahlreiche Artikel in juedischen und nichtjuedischen Zeitungen. Die Verbindung der Wohlfahrt mit politischen Zielen stellt sie an den Beginn moderner (juedischer) Sozial- und Frauenpolitik. In den 20er Jahren widmete sie sich vor allem der Kinderfuersorge und der juedischen Frauenbewegung. In diesen Jahren wurde sie auch religioes und erzog vier Kinder aus zwei Ehen, d.h. sie war mit der Doppelbelastung von Arbeit und Familie konfrontiert. Als Zionstin wanderte sie 1934 mit ihrer Familie in Palaestina/Erez Israel ein, wo sie ihre Arbeit fortsetzte. Sie starb am 29.6.1962 in Tel Aviv...
      (aus: Zusammenfassung der Dissertation von Hecht, Dieter Josef: Anitta Müller-Cohen 1890 - 1962. - Wien, 2002.)

  2. Werke in der ÖNB:

    • Ein Jahr Flüchtlingsfürsorge der Anitta Müller. - Wien : Rollinger, 1915
      Signatur: 514389-B.
    • Tätigkeits- und Rechenschafts-Bericht der Wohlfahrtsinstitutionen der Frau Anitta Müller. - Wien, Selbstverl. 1917-
      Bestand: Jg 2.1915/16, 3.1916/17
      Signatur: 226419-B

  3. Quellen und Sekundärliteratur:

    • Adunka, Evelyn: Exil in der Heima : über die Österreicher in Israel. - Innsbruck ; Wien [u.a.] : Studien-Verl., 2002 . - (Österreich-Israel-Studien ; 2 )
      Signatur: 1539659-B.Per.2
    • Faerber, Meir Marcell: Anitta Müller-Cohen (1890-1962). - In: Faerber, Meir Marcell: Österreichische Juden. - Klagenfurt, 1996, S.95 - 96
      Signatur: 1406975-B.Per.3
    • Hecht, Dieter Josef: Anitta Müller-Cohen (1890 - 1962) : Sozialarbeiterin, Feministin, Politikerin, Zionistin und Journalistin ; ein Beitrag zur jüdischen Frauengeschichte in Österreich 1914 - 1929. - Wien, Univ., Diss., 2002
      Signatur: 1692132-C
    • Hecht, Dieter J.: Bürgerlich-jüdische Frauen in Wien während des Ersten Weltkrieges. - In: Zions Töchter. - Wien, 2006, S. 315 - 329
      Signatur: 1406975-B.Neu-Per.14
    • Hecht, Dieter J.: Nischen und Chancen - jüdische Journalistinnen in der österreichischen Tagespresse vor 1938. - In: Medien & Zeit : Kommunikation in Geschichte und Gegenwart 18 (2003) 2, S.31 - 39
      Signatur: 1254224-C.Neu-Per
    • Hecht, Dieter: Zwischen Feminismus und Zionismus : die Biografie einer Wiener Jüdin ; Anitta Müller-Cohen (1890 - 1962). - Wien [u.a.] : Böhlau , 2008. - (L' homme : Schriften ; 15 )
      Signatur: 1448358-C.15-Neu.Sond
    • Mayr, Barbara: Verfemt, verfolgt, vergessen. - In: [sic!]: Forum für feministische GangArten (2006) 57, S. 28 - 29
      Signatur: 1445791-C.Neu-Per
    • Raggam-Blesch, Michaela: Rezension über "Dieter Hecht: Zwischen Feminismus und Zionismus. Die Biografie einer Wiener Jüdin. Anitta Müller-Cohen (1890-1962)".

Letztes Update: 14. Jänner 2009