Der erste Satz durchstößt immer eine Grenze, er steht an
der Schnittstelle von Wirklichkeit und Fiktion. Bei Albert Drach und Heimito
von Doderer hängt am ersten Satz die gesamte Romankonstruktion, das
Thema und die formale Durchführung werden in den Anfangspassagen vorgestellt.
In Drachs Roman "Untersuchung an Mädeln" geht es um zwei Autostopperinnen,
die beschuldigt werden, den Stechviehhändler Joseph Thugut umgebracht
zu haben. Die Bearbeitung der frühen Fassung zeigt, wie aus der noch
konventionellen Passage der pseudoobjektive und tendenziöse Protokollstil
wird. Die anonymen Protokollführer in den Texten des Autors und Rechtsanwaltes
Drach reihen Vermutungen, Verleumdungen und Denunziationen so aneinander,
als ob es Tatsachen wären.
In Doderers Roman "Ein Mord den jeder begeht" muß der Ermittler
am Ende erkennen, daß er selber der Täter ist. Das Bild des
über den Kopf gestülpten Eimers im ersten Satz für diese
dann lebenslange Schuld hat den Autor nicht mehr losgelassen, wie diverse
Tagebucheintragungen zeigen.
Friederike Mayröckers Prosaarbeit "Reise durch die Nacht"
liegt ein Produktionsprozeß zugrunde, innerhalb dessen sich unbändiges
sprachliches Wachstum zu kristalliner Form umsetzt. Der Satz, mit dem das
Buch beginnt, wurde in einer späten Phase der Schreibarbeit während
einer Schlafwagenfahrt von Paris nach Wien notiert. Wie eine nachträglich
eingefügte Kante legt sich der erste Satz über das Konvolut der
bereits vorhandenen Sprachmaterialien und bildet damit ein anschauliches
Beispiel jener Brüche und Umwertungen, die im Mayröckerschen
Schreiben in vielfältiger Weise zu Tage treten.
Albert Drach: Spätere Fassung des Romans "Untersuchung an Mädeln". Arbeitsheft. |
Immer wieder entzündet sich ein literarischer Einfall an bildnerischen
Vorlagen. Im Stück "Karrikaturen-Charivari mit Heurathszweck"
setzt Johann Nestroy eine Abbildung aus der "Wiener Theaterzeitung"
um. Die von Nestroy eindrucksvoll geschilderte Nesthausner Bürgerwehr
erleidet das vorgezeichnete Schicksal, bald stecken die Stiefel der Herren
im frischen Asphalt fest.
Für Heimito von Doderers Roman "Die Wasserfälle von Slunj"
läßt sich eine wirkliche Keimzelle präparieren: Wie der
Autor in seinem Tagebuch festhält, war er von einer großformatigen
Graphik des im Titel genannten Ortes fasziniert. Von den tatsächlichen
und wahrlich bescheidenen Ausmaßen des Naturspektakels zeigte sich
Doderer, als man ihm später davon Fotografien zeigte, eher enttäuscht.
Fritz von Herzmanovsky-Orlando, skurril anarchistischer Schilderer des
alten Österreichs, führt in den Entwürfen zum Drama "Kaiser
Joseph II. und die Bahnwärterstochter" zeichnerische und textuelle
Entwürfe parallel bzw. gehen diese ineinander über. Im Stück
reist der Kaiser inkognito in die Provinz, was zu den unglaublichsten Verwicklungen
führt. Quelle der Inspiration war unter anderem die Eisenbahngeschichte
der österreichisch-ungarischen Monarchie.
Satyrisches Bild Nr. 67, Stich aus der "Wiener Theaterzeitung" 1846. |
Ur-Szenen: Arbeiten für das Theater
An zwei unterschiedlichen Theaterkonzepten zeigt sich die Entstehung
szenischer Ideen: Ödön von Horváth entwickelt Szenen,
Figuren und Handlungsabläufe aus Vorstellungen von einer bestimmten
Umgebung und bestimmten Milieus. Dies geht aus seinen Arbeitsskizzen und
Notizbüchern hervor. Die Entstehungsgeschichte eines seiner berühmtesten
Volksstücke, "Glaube Liebe Hoffnung", hat Horváth selbst
dargestellt: Ausgangspunkt für die Geschichte des gefallenen Mädchens
Elisabeth war ein Zeitungsbericht über eine "Handlungsreisende
in Korsetten", die mit dem Gesetz in Konflikt geraten war. Die Uraufführung
des Stückes, die für 1933 in Berlin geplant war, konnte unter
dem Druck der Nationalsozialisten nicht mehr stattfinden.
In Fritz von Herzmanovsky-Orlandos Drama "Die Fürstin von Cythera"
dreht die weibliche Hauptfigur Zerbinetta inmitten einer vertrottelten
Männerwelt ihre Pirouetten, um schließlich zur Kriegsministerin
befördert zu werden. Der Autor bedient sich der Typen aus der Commedia
dell’Arte; er überzeichnet diese, gibt ihnen andere Namen und entwickelt
solchermaßen sein eigenes Stück.
Fritz von Herzmanovsky-Orlando: Figurenstudien zu "Die Fürstin von Cythera". |
Von guten und schlechten Gedichten
Keine andere literarische Gattung besitzt so sehr den Nimbus der Unmittelbarkeit
wie die Lyrik. Als eine spontane Eingebung stellen wir uns oft vor, was
in Wahrheit das Resultat gezielter poetischer Anstrengung und vielfacher
Überarbeitung ist. Die Beispiele machen die Arbeitsweise so unterschiedlicher
Autoren wie Ingeborg Bachmann (vertreten mit ihrem berühmten Gedicht
"Böhmen liegt am Meer"), Ernst Jandl und Reinhard Priessnitz
sichtbar; deutlich wird daran die Bandbreite moderner Lyrik.
Ernst Jandls sogenannte "Oberflächenübersetzung"
aus den 50er Jahren will keine wörtliche Übertragung im konventionellen
Sinn sein; die fremde Sprache wird hier als klanglicher und inhaltlicher
Assoziationsraum verwendet. Die 1992 erschienenen "stanzen" sind meist
rasch niedergeschriebene Spontangedichte, sie gehen von der Erinnerung
an eine volkstümliche Strophenform und den Wiener Dialekt der Kindheit aus;
"der beschriftete sessel" und "die bearbeitung der mütze" sind
Beispiele für Gedichte in "heruntergekommener", verhunzter
Infinitivsprache, wie sie Jandl in einigen seiner Gedichtbände verwendet
hat. Den Übergang von einer Fassung in normaler Sprache zum Gedicht
in "heruntergekommener" Sprache demonstriert das in der Ausstellung
gezeigte Video.
An dem Gedichtbeispiel von Reinhard Priessnitz, der 1985 gerade erst
40jährig gestorben ist, wird die Unabschließbarkeit des schriftstellerischen
Prozesses deutlich; immer wieder (und auch noch nach seiner Erstveröffentlichung)
hat der Autor an dem gezeigten Gedicht "in stanzen" zu arbeiten begonnen;
Form und Inhalt haben hierbei je eigentümliche Realisationen erfahren.
Der Entstehungsprozeß "guter" Gedichte wird zudem mit
der Produktion von "schlechten" konfrontiert: Franz Josef Czernin und Ferdinand Schmatz
haben vor über zehn Jahren mit dem Kalkül,
schlechte Gedichte zu produzieren, den Residenz-Verlag düpiert. Im
Wechselspiel von Postkartensendungen sind Gedichte entstanden, die unter
dem Titel "Die Reisen. In achtzig Gedichten um die Welt" publiziert
wurden, wozu dann auch ein Gegenbuch "Die Reise. In achtzig flachen Hunden
in die ganze tiefe Grube" erschienen ist.
Ernst Jandl: "dieses gedicht". Korrekturfassung. |
Am Anfang der schriftstellerischen Arbeit stehen oft Planskizzen, manchmal
auch ganze Baupläne und regelrechte Partituren. Im Fall Heimito von
Doderers dienen die Pläne der Anordnung der Textmassen, die er in
seinen großen Romanen "Die Dämonen" und "Die Strudlhofstiege"
zu verarbeiten hatte. Doderer verglich diese Skizzen mit einem leeren Gefäß,
das man unter die Wasseroberfläche hält: Unverzüglich würden
die Inhalte einschießen und "integral die Form" erfüllen.
Der Autor benötigte die Pläne vor allem, um sich Übersicht
über die Unzahl der Figuren und die Fülle der Handlung zu bewahren.
Durch sie wird augenscheinlich, daß dem Chaotischen des Lebens durch
die Strenge der Form und durch den Ordnungswillen des Erzählers begegnet
werden kann.
Hermann Burgers Bauplan will Längsschnitt durch den Roman "Die
Künstliche Mutter" und Querschnitt durch das Gotthardmassiv sein:
In diesem befindet sich eine unterirdische Heilstollenklinik, die die Hauptfigur,
der Privatdozent Schöllkopf, aufsuchen muß, um sich von seinem
Mutterkomplex zu befreien. Die Themenkomplexe des Buches - Leiden an der
Mutter, Heilung im Stollen und schließlicher Tod im Tessin - finden
sich in der Planskizze zum Roman eingetragen.
Der Roman "Blösch" des Schweizer Gegenwartsautors Beat Sterchi
erzählt von der tragischen Begegnung des spanischen Gastarbeiters
Ambrosio mit einer Kuh namens Blösch, zuerst auf einem Bauernhof und
dann auf dem Schlachthof von Bern. Die Leidensgeschichten des Fremden und
der einstigen Prachtkuh, die im Schlachthof endet, überkreuzen sich.
Der Autor hat Motive und Notizen zum Roman in einen großformatigen
Plan eingearbeitet.
Heimito von Doderer: Dynamikskizze zu "Die Dämonen". |
Die experimentellen Autoren Konrad Bayer und Gerhard Rühm, die
der legendären "Wiener Gruppe" angehörten, nutzen in
den gezeigten Beispielen mathematische Verfahren zur Textproduktion: Die
1957/58 entstandene Arbeit "der vogel singt" wurde von Bayer im Untertitel
als eine "dichtungsmaschine in 571 bestandteilen" bezeichnet. Über
das Zustandekommen dieser Zahl und die Abfolge der gereihten Einzelelemente
geben die Werkmaterialien Auskunft. An der sogenannten "Zeittrompete",
dem Ablaufplan des Textes, wirkte Oswald Wiener mit.
Gerhard Rühm geht von einem kurzen populärwissenschaftlichen
Vortrag über das Weltall aus. An diesem Text werden Manipulationen
vorgenommen: "nach einer aufstellung der statistischen häufigkeit
der verschiedenen phoneme, die der grundtext enthält, saugen die häufigeren
sukzessiv die selteneren auf, bis in dem übrigbleibenden 'e' (dem
häufigsten phonem der deutschen sprache) die maximale entropie erreicht
ist." (Gerhard Rühm) Die Schreibung stützt sich dabei auf
die "Technische Lautschrift der Deutschen Sprache": oö =
eu, ai = ei, q = ng, x = ch, c = sch.
Konrad Bayer (unter Mitarbeit von Oswald Wiener): "Die Zeittrompete". |
Erich Fried war ein engagierter Dichter: Literatur sollte unmittelbar
auf Veränderungen im politischen Raum reagieren. Die Gedichtfassungen
dokumentieren die Auseinandersetzung Frieds mit dem Terror der "Roten
Armee Fraktion" (RAF) in Deutschland und der 'Gegengewalt' durch die
staatlichen Organe. Diese Prozeßhaftigkeit des Schreibvorgangs fand
eine Fortsetzung in den heftigen Attacken auf den Autor und sein Gedicht,
nachdem eine Lehrerin den Text im Unterricht eingesetzt hatte.
Dem Kontext des Gedichts von Fried korrespondiert ein Beispiel aus den 30er Jahren:
Theodor Kramer hat in Reaktion auf die
Hinrichtung des sozialistischen Strommastattentäters Josef Gerl -
ein Fall, der damals durch sämtliche Medien gegangen ist, - das Gedicht
"Der Wurf am Kai" verfaßt.
Das Projekt "Der Europäische Niemand" von Michael Köhlmeier
stellt die Auseinandersetzung des Autors mit dem griechischen Mythos in
einen europäischen Kontext. Ausgangspunkt für Köhlmeier
waren die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen nach 1989.
Durch eine Transponierung der antiken Welt in die Gegenwart sollte die
Jetztzeit faßbarer werden. Das Projekt ist eine negative literarische
Heldengalerie, deren Kristallisationspunkt die Figur des Odysseus ist,
der sich in der Erzählung von Polyphem als "Niemand" ("Outhis")
einführt.
Broschüre über Josef Gerl. |
Späte Bearbeitungen früher Konzepte
Jahrzehntelang haben sich sowohl Friedrich Dürrenmatt als auch
Franz Grillparzer mit bestimmten Ideen beschäftigt; gewisse Konzepte
wurden bearbeitet, vergessen, liegen gelassen und nach Jahren wieder aufgenommen:
Ein Erzählfragment mit dem Titel "Mondfinsternis" von 1955 enthält
bereits den Kern von Friedrich Dürrenmatts Stück "Der Besuch
der alten Dame" und führt unmittelbar zur Bühnenidee. Am Anfang
der Arbeit an den "Stoffen" - Prosatexte, die die Geschichte des
Schriftstellers Dürrenmatt dokumentieren, - entwirft der Autor wenige
Jahre später eine "Geographie der Kindheit": Er zeichnet
Pläne seines Geburtsortes Konolfingen und trägt darin literarische
Stoffe und Motive ein. Die Rekonstruktion der frühen Erzählung
von 1955 im Jahr 1978 ist dann eine ironische Replik auf den inzwischen
kanonisierten "Alte Dame"-Stoff.
Grillparzers Auseinandersetzung mit dem "Libussa"-Stoff, der
Geschichte der böhmischen Seherin und legendären Gründerin
der Stadt Prag, die sich als Königstochter einen einfachen Bauern
zum Gatten nahm, reichte über mehr als 20 Jahre; die Reaktionen
auf das noch unfertige Stück und die politischen Veränderungen
um 1848 ließen den Autor eine Fertigstellung immer wieder hinauszögern.
Neben zwei Fassungen, deren Entstehung mehr als 20 Jahre auseinanderliegt,
werden Bücher gezeigt, die Grillparzer für seine "Libussa" als
Quelle dienten.
Friedrich Dürrenmatt: Plan des Geburtsortes Konolfingen. |