Der Ritt über den Bodensee (1971)

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In der Fortsetzung von Kaspar und Das Mündel will Vormund sein lenkt dieses Stück die Aufmerksamkeit des Zuschauers nun auf alle Zeichenhandlungen. Im Ritt über den Bodensee geht es um ein Bewusstmachen von bisher für selbstverständlich und natürlich gehaltenen, meist automatisch wie im Schlaf ausgeführten Verhaltens­weisen (etwa zwischen Mann und Frau) und den damit zusammenhängenden Selbst- und Weltbildern. Handke vergleicht das Bewusstwerden mit dem Erwachen aus einem Traum und fragt im Motto zum Stück: »Träumt Ihr oder redet Ihr?« Die mit dem Schock des Erwachens gezündete Reflexion ist Voraussetzung für Verän­derung und Emanzipation. Gustav Schwabs Ballade Der Reiter und der Bodensee hat Handke dabei Titel und Grundidee seines Stücks gegeben. Darin erschrickt der Reiter im Nachhinein über seinen Ritt auf dem zugefrorenen See zu Tode. Bei Handke bewegen sich die Schauspieler im Stück im übertragenen Sinne auf dem dünnen Eis der Sprache.

Schauplatz des Stücks ist das Theater selbst. Das wird anschaulich gemacht, indem sich die Dinge als angekettete oder festgeschraubte Gegenstände der Büh­ne zeigen. Innerhalb der Kunst werden die Bedingungen der Kunst dargestellt und überprüft. Ort und Gegenstände bleiben im Verlauf gleich, sie werden nur von den Schauspielern und vom Zuschauer zunehmend neu wahrgenommen. Die Darstellung findet zwar auf der Bühne statt, soll aber in der Wirklichkeit wirken.

»Für die Aufführung des Stücks sollten die Personen des Stücks nur mit dem jeweiligen Namen der Schauspieler benannt wer­den: die Personen sind zugleich ihre Darsteller« (DRB), lautet Handkes Anweisung für die Figuren. Es sind Schauspieler, die sich selbst spielen. Im gedruckten Text gab er ihnen die Namen von Stumm­filmstars des frühen 20. Jahrhunderts. Kurz treten auch die Kessler-Zwillinge auf, die beiden Revuestars der 1950/60er Jahre. In der Uraufführung wurden diese Namen beibehalten.

Am Anfang des Stücks wird der Song The Garden Is Open von Tuli Kupferberg und The Fugs gespielt. Der geöffnete Garten ist Bild für die Fantasie oder Kunst; er kann nun begutachtet werden. Die Sehnsucht nach einer von allen Bedeutungen befreiten, unmittelbar erfahrenen Welt zeigt die Szene mit der klemmenden Lade, welche automatisch als Aufforderung zu einer Hand­lung interpretiert wird. Das von allen daraufhin gesungene Cou­plet Laß die Lade doch klemmen ist sozusagen ein Befreiungslied.

Der Ritt über den Bodensee wurde von Handke während eines einjährigen Auf­enthalts 1970 in Paris geschrieben. Die Entstehungszeit der ersten Textfassung lässt sich genau feststellen, denn im Typoskript hat Handke erstmals das Da­tum jedes Schreibtages eingetragen – sie wurde in nur zwölf Tagen zwischen dem 26. Juni und 8. Juli 1970 geschrieben und danach, wie man aus Briefen erfährt, noch einmal bis Ende Juli überarbeitet. Das Buch erschien im Suhrkamp Verlag, die Aufführungsrechte lagen jedoch beim Verlag der Autoren.

Die Uraufführung fand am 21. Jänner 1971 auf der Schaubühne am Halleschen Ufer Berlin statt. Regie führten Claus Peymann und Wolfgang Wiens. Das Bühnenbild gestaltete Karl-Ernst Herrmann. Zur Vorbereitung der Proben wurden die Ergeb­nisse der ersten Stückbesprechung in einer Debatte geordnet, bewertet und protokolliert, um eine gemeinsame »Arbeitshypothese zu finden«. In einer Zeit, wo man alles politisch interpretierte und versuchte, die traditionellen Theaterformen durch Miteinbeziehung des Zuschauers aufzulösen, wurde heftig darüber diskutiert, ob das Stück nicht zu bür­gerlich sei, ob es eine neue Aufführungsweise oder doch eine traditio­nelle Guckkastenbühne verlange. (kp)

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