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Sichtungen. Archiv - Bibliothek - Literaturwissenschaft ISSN: 1680-8975
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Home > Rezensionen > Aichner: Rez. v. Wallas (Hg.), Eugen Hoeflich
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Eugen Hoeflich (Moshe Ya'akov Ben-Gavriêl): Tagebücher 1915 bis 1927. Hg. und kommentiert von Armin A. Wallas. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1999, 641 S., ISBN 3-205-99137-0, € (A) 94,30 / € (D) 94,30

Rezension

Herlinde Aichner

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2002-05-25
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In langjährigen Projekten und mit zahlreichen Publikationen zum österreichischen Expressionismus hat Armin A. Wallas eine vergessene Literatur wiederentdeckt und ein vernachlässigtes Forschungsfeld erschlossen.[1] Aus diesen Arbeiten entstand die Beschäftigung mit dem österreichisch-israelischen Autor Eugen Hoeflich / Moshe Ya'akov Ben-Gavriêl (1891–1965), dessen Tagebücher bis zum Jahr 1927 Wallas vollständig und ausführlich kommentiert vorgelegt hat. Die Edition von Hoeflichs Tagebüchern in mehreren Bänden ist ein langfristig angelegtes Unternehmen, das einem vergessenen Autor von hoher historischer Signifikanz gewidmet ist. Neben der Etablierung Hoeflichs als zeitgeschichtlicher Figur hat Wallas mit der Edition von literarischen Texten Hoeflichs die Wiederentdeckung auch des Autors Hoeflich eingeleitet.[2]

Repräsentativ ist Eugen Hoeflich in seinen Suchbewegungen nach einer jüdischen Identität, wenn auch nicht unbedingt in der Radikalität seiner Konzeption und der Konsequenz seines Lebensentwurfs. Aus assimiliertem Wiener Elternhaus stammend, findet er in den expressionistischen Literaturbetrieb; im Brotberuf Versicherungsbeamter, gerät Hoeflich im Ersten Weltkrieg an die Ostfront und damit in die Welt des Ostjudentums, bis er nach einer Verwundung zur Unterstützung der türkischen Truppen nach Palästina gesandt wird. Die Begegnung mit Jerusalem wird zu einem Schlüsselerlebnis Hoeflichs, das seine literarischen und politischen Konzeptionen sowie seine persönlichen Identitätsentwürfe nachhaltig prägt. Er schließt sich Martin Bubers Kulturzionismus an, in dessen Ideenspektrum er seine Idee des »Panasiatismus« entwickelt, der ein homogenisierendes »Asien«-Bild (Hoeflich stellt Ku Hung-Ming, Rabindranath Tagore, Kakuso Okakura und Buber nebeneinander, S. 591) gegen die europäisch-kapitalistische Zivilisation setzt. Ihr setzt er das Judentum als »Gemeinschaftslehre«, als jüdischen Sozialismus auf biblischer Basis, entgegen, ein Konzept, das Wallas sowohl als Position innerzionistischer Dissidenz als auch als allgemeines Krisenphänomen der europäischen Intelligenz der 1920er Jahre verortet. Von hoher Bedeutung sind bei Hoeflich, wie das Tagebuch nachvollziehen läßt, die für seine Generation typischen Konversionserlebnisse, die in seinem Fall aber in die Emigration und zum Namenswechsel führen. So ist auch die zeitliche Abgrenzung des vorliegenden ersten Bandes der Tagebücher plausibel mit dem Abschluß einer Lebensphase Hoeflichs begründet, nämlich seiner Übersiedlung nach Jerusalem und seiner Namensänderung in Moshe Ya'akov Ben-Gavriêl im März 1927 (S. 563). Das Tagebuch – und das macht vor allem seinen literatur- und kulturgeschichtlichen Quellenwert aus – führt aber zunächst in die Welt kurzlebiger kulturzionistischer Zeitschriftenprojekte, heroischer Einzelinitiativen, kleinteiliger Fraktionskämpfe dissidenter und mehrfach dominierter Intelligenz, in der persönliche Solidaritäten und politisch-literarische Projekte in fragiler Konkurrenz stehen; es ist auch ein Zeugnis der Frustrationen einer aktivistischen Schriftstellerexistenz, in der sich vor dem Hintergrund der Radikalisierung des Antisemitismus literarischer und politischer Mißerfolg überlagern.

Wallas' Edition gliedert sich in edierten Text, umfassenden Stellenkommentar, ausführlichen editorischen Bericht, Register und ein Nachwort (»Eugen Hoeflichs Leben und Werk bis 1927«), das auf einer bereits publizierten monographischen Arbeit Wallas' beruht.[3] Die in der Jewish National and University Library Jerusalem aufbewahrten handschriftlichen Tagebücher reichen bis zu Hoeflichs Todesjahr 1965 und sollen in Folge publiziert werden. Von großem Interesse werden sicher die Aufschlüsse sein, die die angekündigten Folgebände für die deutschsprachige Literatur und das literarische Leben in Palästina / Israel geben werden.

Vom editorischen Standpunkt kann das Werk nicht anders als mustergültig bezeichnet werden (zu den Editionskriterien vgl. S. 563f.). Die eigentliche Leistung des Herausgebers liegt jedoch fraglos im Kommentar. Die Dichte und Qualität des regelgeleiteten Stellenkommentars (244 Seiten edierter Text werden durch 892 sich nicht selten auf mehrere Seiten erstreckende Anmerkungen auf 303 in gerade noch lesbarer Schrifttype gesetzten Seiten erschlossen) dürfte in der germanistischen Editorik fast beispiellos dastehen. Ein vergleichbarer Aufwand wird selten mit ›großen Namen‹ getrieben, umso höher ist es dem Herausgeber anzurechnen, solche Energie auf einen ›kleinen Namen‹ gewendet zu haben. Der Kommentarteil, »der die in den Texten erwähnten Ereignisse, Personen und zeithistorischen Kontexte erläutert« (S. 245), ist das Ergebnis mehrjähriger ausgedehnter Archivrecherchen; auch eine »Aufarbeitung der zeitgenössischen Publizistik« (ebd.) mußte unternommen werden. Die Anmerkungen enthalten reichhaltiges Quellenmaterial, insbesondere längere Zitate aus schwer zugänglichen Periodika, und Hinweise auf neuere und neueste Sekundärliteratur. Über Quellen wird erschöpfend Auskunft gegeben. Ein Abbildungsteil und ein ausführliches Personen-, Zeitschriften- und Institutionenregister komplettieren den Band.

Daß sich damit das Gewicht des Bandes insgesamt zum Kommentar verlagert, hat Gründe, die der Herausgeber an mehreren Stellen offenlegt. Hoeflichs Tagebücher »stellen eine wichtige literatur-, sozial-, kultur- und mentalitätsgeschichtliche Quelle zum jüdischen Leben im Wien der Zwischenkriegszeit dar, die reichhaltige Informationen vor allem zum literarischen Leben, zum Theaterbetrieb und zur Geschichte des Zionismus enthalten« (S. 564). Der Kommentarteil könne »auch als ein Quellenbuch zur der noch weitgehend ungeschriebenen Geschichte des Wiener Judentums der Zwischenkriegszeit verwendet werden« (ebd.). Die literarische Substanz des Tagebuchs muß wohl als eher dünn bezeichnet werden, und das Interesse liegt weniger am Text, sondern vielmehr an seinem Quellencharakter und an den zeitgenössischen Netzwerken, die hier sichtbar werden.

Hoeflichs Text ›spricht‹ tatsächlich erst durch den Kommentar, dessen Dichte und Ausführlichkeit jedoch manchmal die Benützbarkeit erschwert. Zu Hoeflichs Novelle »Der Meister«, die im Tagebuch auf zweieinhalb Zeilen Text erwähnt wird, liefert der Kommentar in Anmerkung 289 nicht weniger als fünf enggedruckte Seiten (S. 336–341) mit langen Zitaten, die immer wieder durch Auslassungen unterbrochen werden; die Novelle ist 1923 in der »Neuen Rundschau« erschienen und daher – im Vergleich zu anderen Publikationsmedien Hoeflichs – Interessenten relativ leicht zugänglich. Anmerkung 790 (S. 507, zur Textstelle »Die Polizei ist mit einem grossangelegten Hakenkreuzlerüberfall auf sozialdemokratische Arbeiter vollauf beschäftigt«, S. 210) bringt Aussagen mehrerer Zeitungen über das im Text nur nebenbei erwähnte Ereignis.

Es ließe sich fragen, ob eine derart ausufernde Kommentierung ihren Zweck noch erfüllen kann und ob sie den Gebrauchswert des Bandes nicht eher herabsetzt. Aus der Substanz der vorliegenden Edition ließen sich ohne größere neuerliche Anstrengung mehrere kleinere Monographien und Dokumentationsbände gewinnen, die das von Wallas zusammengetragene unschätzbare Material auch besser perspektivieren könnten – Rang, Repräsentativität und Positionierung Hoeflichs bleiben für Nicht-Spezialisten auch nach dieser Edition schwer einzuschätzen. Eine elektronische Edition wäre zu erwägen.

Die Bedeutung von Wallas' Unternehmen Hoeflich / Ben-Gavriêl (»ein Beispiel für Literatur-Archäologie«, S. 570) liegt also in der Rekonstruktionsarbeit an der literaturgeschichtlichen wie historischen Aufarbeitung des jüdischen Lebens in der Zwischenkriegszeit. Es wäre zu wünschen, daß dessen »weitgehend ungeschriebene« Geschichte einmal geschrieben wird.

ANMERKUNGEN

1] Vgl. etwa Armin A. Wallas: Albert Ehrenstein. Mythenzerstörer und Mythenschöpfer. München: Boer 1994 (= Reihe Forschungen 5); Zeitschriften und Anthologien des Expressionismus in Österreich: Analytische Bibliographie und Register. München u. a.: Saur 1995; Expressionismus in Österreich. Die Literatur und die Künste. Hg. von Klaus Amann und Armin A. Wallas. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1994 (= Literatur in der Geschichte, Geschichte in der Literatur 30); Texte des Expressionismus. Der Beitrag jüdischer Autoren zur österreichischen Avantgarde. Hg. von Armin A. Wallas. Linz, Wien: Edition Neue Texte 1988; Simon Kronberg: Werke. Bde. 1, 2. Hg. von Armin A. Wallas. München: Boer 1993.

2] Eugen Hoeflich: Feuer im Osten. Der rote Mond. Hg. von Armin A. Wallas. Linz Klagenfurt: Alekto 1999 (= Edition Mnemosyne 10).

3] Armin A. Wallas: Der Pförtner des Ostens. Eugen Hoeflich – Panasiat und Expressionist. In: Von Franzos zu Canetti. Jüdische Autoren aus Österreich. Neue Studien. Hg. von Mark H. Gelber, Hans Otto Horch und Sigurd Paul Scheichl. Tübingen: Niemeyer 1996 (= Conditio Judaica 14), S. 305–344.

Herlinde Aichner

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