In langjährigen Projekten und mit zahlreichen Publikationen zum österreichischen Expressionismus hat Armin A. Wallas eine
vergessene Literatur wiederentdeckt und ein vernachlässigtes Forschungsfeld erschlossen.[1] Aus diesen Arbeiten entstand die Beschäftigung mit dem österreichisch-israelischen Autor Eugen Hoeflich / Moshe Ya'akov Ben-Gavriêl
(1891–1965), dessen Tagebücher bis zum Jahr 1927 Wallas vollständig und ausführlich kommentiert vorgelegt hat. Die Edition
von Hoeflichs Tagebüchern in mehreren Bänden ist ein langfristig angelegtes Unternehmen, das einem vergessenen Autor von hoher
historischer Signifikanz gewidmet ist. Neben der Etablierung Hoeflichs als zeitgeschichtlicher Figur hat Wallas mit der Edition
von literarischen Texten Hoeflichs die Wiederentdeckung auch des Autors Hoeflich eingeleitet.[2]
Repräsentativ ist Eugen Hoeflich in seinen Suchbewegungen nach einer jüdischen Identität, wenn auch nicht unbedingt in der
Radikalität seiner Konzeption und der Konsequenz seines Lebensentwurfs. Aus assimiliertem Wiener Elternhaus stammend, findet
er in den expressionistischen Literaturbetrieb; im Brotberuf Versicherungsbeamter, gerät Hoeflich im Ersten Weltkrieg an die
Ostfront und damit in die Welt des Ostjudentums, bis er nach einer Verwundung zur Unterstützung der türkischen Truppen nach
Palästina gesandt wird. Die Begegnung mit Jerusalem wird zu einem Schlüsselerlebnis Hoeflichs, das seine literarischen und
politischen Konzeptionen sowie seine persönlichen Identitätsentwürfe nachhaltig prägt. Er schließt sich Martin Bubers Kulturzionismus
an, in dessen Ideenspektrum er seine Idee des »Panasiatismus« entwickelt, der ein homogenisierendes »Asien«-Bild (Hoeflich
stellt Ku Hung-Ming, Rabindranath Tagore, Kakuso Okakura und Buber nebeneinander, S. 591) gegen die europäisch-kapitalistische
Zivilisation setzt. Ihr setzt er das Judentum als »Gemeinschaftslehre«, als jüdischen Sozialismus auf biblischer Basis, entgegen,
ein Konzept, das Wallas sowohl als Position innerzionistischer Dissidenz als auch als allgemeines Krisenphänomen der europäischen
Intelligenz der 1920er Jahre verortet. Von hoher Bedeutung sind bei Hoeflich, wie das Tagebuch nachvollziehen läßt, die für
seine Generation typischen Konversionserlebnisse, die in seinem Fall aber in die Emigration und zum Namenswechsel führen.
So ist auch die zeitliche Abgrenzung des vorliegenden ersten Bandes der Tagebücher plausibel mit dem Abschluß einer Lebensphase
Hoeflichs begründet, nämlich seiner Übersiedlung nach Jerusalem und seiner Namensänderung in Moshe Ya'akov Ben-Gavriêl im
März 1927 (S. 563). Das Tagebuch – und das macht vor allem seinen literatur- und kulturgeschichtlichen Quellenwert aus – führt
aber zunächst in die Welt kurzlebiger kulturzionistischer Zeitschriftenprojekte, heroischer Einzelinitiativen, kleinteiliger
Fraktionskämpfe dissidenter und mehrfach dominierter Intelligenz, in der persönliche Solidaritäten und politisch-literarische
Projekte in fragiler Konkurrenz stehen; es ist auch ein Zeugnis der Frustrationen einer aktivistischen Schriftstellerexistenz,
in der sich vor dem Hintergrund der Radikalisierung des Antisemitismus literarischer und politischer Mißerfolg überlagern.
Wallas' Edition gliedert sich in edierten Text, umfassenden Stellenkommentar, ausführlichen editorischen Bericht, Register
und ein Nachwort (»Eugen Hoeflichs Leben und Werk bis 1927«), das auf einer bereits publizierten monographischen Arbeit Wallas'
beruht.[3] Die in der Jewish National and University Library Jerusalem aufbewahrten handschriftlichen Tagebücher reichen bis zu Hoeflichs
Todesjahr 1965 und sollen in Folge publiziert werden. Von großem Interesse werden sicher die Aufschlüsse sein, die die angekündigten
Folgebände für die deutschsprachige Literatur und das literarische Leben in Palästina / Israel geben werden.
Vom editorischen Standpunkt kann das Werk nicht anders als mustergültig bezeichnet werden (zu den Editionskriterien vgl. S.
563f.). Die eigentliche Leistung des Herausgebers liegt jedoch fraglos im Kommentar. Die Dichte und Qualität des regelgeleiteten
Stellenkommentars (244 Seiten edierter Text werden durch 892 sich nicht selten auf mehrere Seiten erstreckende Anmerkungen
auf 303 in gerade noch lesbarer Schrifttype gesetzten Seiten erschlossen) dürfte in der germanistischen Editorik fast beispiellos
dastehen. Ein vergleichbarer Aufwand wird selten mit ›großen Namen‹ getrieben, umso höher ist es dem Herausgeber anzurechnen,
solche Energie auf einen ›kleinen Namen‹ gewendet zu haben. Der Kommentarteil, »der die in den Texten erwähnten Ereignisse,
Personen und zeithistorischen Kontexte erläutert« (S. 245), ist das Ergebnis mehrjähriger ausgedehnter Archivrecherchen; auch
eine »Aufarbeitung der zeitgenössischen Publizistik« (ebd.) mußte unternommen werden. Die Anmerkungen enthalten reichhaltiges
Quellenmaterial, insbesondere längere Zitate aus schwer zugänglichen Periodika, und Hinweise auf neuere und neueste Sekundärliteratur.
Über Quellen wird erschöpfend Auskunft gegeben. Ein Abbildungsteil und ein ausführliches Personen-, Zeitschriften- und Institutionenregister
komplettieren den Band.
Daß sich damit das Gewicht des Bandes insgesamt zum Kommentar verlagert, hat Gründe, die der Herausgeber an mehreren Stellen
offenlegt. Hoeflichs Tagebücher »stellen eine wichtige literatur-, sozial-, kultur- und mentalitätsgeschichtliche Quelle zum
jüdischen Leben im Wien der Zwischenkriegszeit dar, die reichhaltige Informationen vor allem zum literarischen Leben, zum
Theaterbetrieb und zur Geschichte des Zionismus enthalten« (S. 564). Der Kommentarteil könne »auch als ein Quellenbuch zur
der noch weitgehend ungeschriebenen Geschichte des Wiener Judentums der Zwischenkriegszeit verwendet werden« (ebd.). Die literarische
Substanz des Tagebuchs muß wohl als eher dünn bezeichnet werden, und das Interesse liegt weniger am Text, sondern vielmehr
an seinem Quellencharakter und an den zeitgenössischen Netzwerken, die hier sichtbar werden.
Hoeflichs Text ›spricht‹ tatsächlich erst durch den Kommentar, dessen Dichte und Ausführlichkeit jedoch manchmal die Benützbarkeit
erschwert. Zu Hoeflichs Novelle »Der Meister«, die im Tagebuch auf zweieinhalb Zeilen Text erwähnt wird, liefert der Kommentar
in Anmerkung 289 nicht weniger als fünf enggedruckte Seiten (S. 336–341) mit langen Zitaten, die immer wieder durch Auslassungen
unterbrochen werden; die Novelle ist 1923 in der »Neuen Rundschau« erschienen und daher – im Vergleich zu anderen Publikationsmedien
Hoeflichs – Interessenten relativ leicht zugänglich. Anmerkung 790 (S. 507, zur Textstelle »Die Polizei ist mit einem grossangelegten
Hakenkreuzlerüberfall auf sozialdemokratische Arbeiter vollauf beschäftigt«, S. 210) bringt Aussagen mehrerer Zeitungen über
das im Text nur nebenbei erwähnte Ereignis.
Es ließe sich fragen, ob eine derart ausufernde Kommentierung ihren Zweck noch erfüllen kann und ob sie den Gebrauchswert
des Bandes nicht eher herabsetzt. Aus der Substanz der vorliegenden Edition ließen sich ohne größere neuerliche Anstrengung
mehrere kleinere Monographien und Dokumentationsbände gewinnen, die das von Wallas zusammengetragene unschätzbare Material
auch besser perspektivieren könnten – Rang, Repräsentativität und Positionierung Hoeflichs bleiben für Nicht-Spezialisten
auch nach dieser Edition schwer einzuschätzen. Eine elektronische Edition wäre zu erwägen.
Die Bedeutung von Wallas' Unternehmen Hoeflich / Ben-Gavriêl (»ein Beispiel für Literatur-Archäologie«, S. 570) liegt also
in der Rekonstruktionsarbeit an der literaturgeschichtlichen wie historischen Aufarbeitung des jüdischen Lebens in der Zwischenkriegszeit.
Es wäre zu wünschen, daß dessen »weitgehend ungeschriebene« Geschichte einmal geschrieben wird.
ANMERKUNGEN
1]
Vgl. etwa Armin A. Wallas: Albert Ehrenstein. Mythenzerstörer und Mythenschöpfer. München: Boer 1994 (= Reihe Forschungen
5); Zeitschriften und Anthologien des Expressionismus in Österreich: Analytische Bibliographie und Register. München u. a.:
Saur 1995; Expressionismus in Österreich. Die Literatur und die Künste. Hg. von Klaus Amann und Armin A. Wallas. Wien, Köln,
Weimar: Böhlau 1994 (= Literatur in der Geschichte, Geschichte in der Literatur 30); Texte des Expressionismus. Der Beitrag
jüdischer Autoren zur österreichischen Avantgarde. Hg. von Armin A. Wallas. Linz, Wien: Edition Neue Texte 1988; Simon Kronberg:
Werke. Bde. 1, 2. Hg. von Armin A. Wallas. München: Boer 1993.
2]
Eugen Hoeflich: Feuer im Osten. Der rote Mond. Hg. von Armin A. Wallas. Linz Klagenfurt: Alekto 1999 (= Edition Mnemosyne
10).
3]
Armin A. Wallas: Der Pförtner des Ostens. Eugen Hoeflich – Panasiat und Expressionist. In: Von Franzos zu Canetti. Jüdische
Autoren aus Österreich. Neue Studien. Hg. von Mark H. Gelber, Hans Otto Horch und Sigurd Paul Scheichl. Tübingen: Niemeyer
1996 (= Conditio Judaica 14), S. 305–344.
Herlinde Aichner
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