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Neuerwerbungen
Sammlung von Inkunabeln, alten und wertvollen Drucken
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Roman ohne R
Rittler, Franz: Die Zwillinge. Ein Versuch, aus sechzig aufgegebenen Worten einen Roman ohne R zu schreiben.
Zweyte rechtmäßige, verbesserte und vermehrte Auflage. - Wien : gedruckt bey Anton Strauß, 1815. - [1] Bl., XVI [i.e. XIV], 109 S. : 1 Ill.
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Objektbeschreibung:
Titelblatt
Wien, Österreichische Nationalbibliothek,
Sign.: 305.577-B.Alt-Mag
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Detailinformation
Franz Rittlers Roman erzählt die Geschichte eines Knaben, der von
seinem neidischen Onkel (dem Zwillingsbruder seines Vaters) entführt
und von den Eltern für tot gehalten wird. Am Ende aber findet sich
die "gute" Familie wieder, der Böse nimmt sich nach dem Tod seiner
Frau und seines Sohnes das Leben.
Rittlers "Zwillinge" wären also ein typischer Trivialroman seiner
Zeit, hätte der Autor nicht eine besondere Form gewählt: Er verzichtet
gänzlich auf den Buchstaben R - keine leichte Aufgabe, ist das R
doch der fünfthäufigste Buchstabe in deutschen Texten (nach e, n,
i, s). Als zusätzliche Erschwernis ließ Rittler sich von Bekannten
60 Wörter vorgeben, die im Text
vorkommen sollten.
So originell der "Roman ohne R" auch ist, die Idee dazu war keineswegs neu. Der erste namentlich bekannte Autor von Lipogrammen (Texten, in denen auf einen oder
mehrere Buchstaben verzichtet wird) war Lasus von Hermione (6. Jh. v. Chr.). Von seiner Ode auf Demeter, die ohne Sigma auskommt, sind nur wenige Zeilen erhalten.
Als verloren gelten auch zwei lipogrammatische Nachdichtungen der homerischen Epen: Septimius Nestors Ilias-Version, bei der im ersten Buch das Alpha, im zweiten das
Beta usw. fehlt (2./3. Jh. n. Chr.), und eine Odyssee-Nachempfindung des Ägypters Tryphiodor (5. Jh.). In der deutschen Barockliteratur gab es lipogrammatische Romane, und
auch im 20. Jahrhundert wurde diese Form wieder aufgegriffen. In einem spannenden Roman des französischen Autors Georges Perec verschwindet nicht nur eine der Hauptfiguren,
sondern auch alle E ("La Disparition", 1969).
Aber noch einmal zurück ins frühe 19. Jahrhundert: Bei vielen Gesellschaftsspielen
der Zeit, die ohne Karten und Würfel auskamen, stand sprachliches
Geschick im Mittelpunkt. Bei solchen Spielen kam es zum Beispiel
darauf an, eine Frage sinnvoll mit einem nur aus einsilbigen Wörtern
bestehenden Satz zu beantworten oder nur Wörter mit einer vorher
festgesetzten Zahl von Buchstaben zu verwenden. Beim Reimspiel mußte
jeder Mitspieler eine Frage so beantworten, daß das erste Wort der
Antwort sich auf das letzte der Frage reimte. Und auch die Vorgaben
von Rittlers Roman, die Lipogrammform und die Liste zu verwendender
Wörter, waren typische Aufgaben biedermeierlicher Sprachspiele.
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