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Neuerwerbungen

Sammlung von Inkunabeln, alten und wertvollen Drucken



"Sie hielt das Mägdlein wie ein Hund, kein Essen hats ihr nicht vergunnt ..."
Sensationsjournalismus im Jahr 1720

Vier entsetzliche doch sehr traurige Neüe Zeitungen, von vielen erschröcklichen Wunder-Zeichen und Begebenheiten wie auch dem Sterbend in der Stadt Marseille, so sich in disem Jahr 1720. zugetragen, deren außführlicher Bericht in diesen Liederen zu vernemmen ist. - Erstlich gedruckt zu Franckfurt : bey Frantz Steidner [1720].

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Objektbeschreibung:

Wien, Österreichische Nationalbibliothek,
Sign.: 308.001-A.Alt-Rara

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Der Sammlung von Inkunabeln, alten und wertvollen Drucken gelang die Erwerbung einer nicht nur inhaltlich, sondern vor allem medienhistorisch interessanten Neuen Zeitung. Der kleine vierblättrige Oktavdruck aus dem Jahr 1720 ist stark abgegriffen und angeschmutzt und stand seinerzeit offenbar im langjährigen Gebrauch eines Bänkelsängers. Die Titelformulierung des Druckes beweist, dass auch noch im 18. Jahrhundert der Begriffsinhalt des Wortes "Zeitung" mit "Nachricht" gleichbedeutend war: Vier entsetzliche doch sehr traurige Neüe Zeitungen, von vielen erschröcklichen Wunder-Zeichen und Begebenheiten, wie auch dem Sterbend in der Stadt Marseille, so sich in disem Jahr 1720. zugetragen, deren außführlicher Bericht in diesen Liedern zu vernemmen ist. Das Impressum Erstlich gedruckt zu Franckfurt, bey Frantz Steidner ist fingiert.

Neben den seit 1605 erscheinenden, von der Zensur streng überwachten periodischen Zeitungen war es durchaus üblich, Nachrichtentexte nicht nur in Prosa, sondern auch in gebundener Sprache - als Lied oder Spruch - zu publizieren. Die Singbarkeit eines Zeitungsliedes wird durch den Hinweis auf die Melodie eines damals allgemein bekannten Referenzliedes ermöglicht, in unserem Fall beispielsweise Im Thon: Wo ist JEsus mein Verlangen, &c. Bänkelsänger erwarben von Druckern viele Exemplare derselben Liedzeitung, stellten sich auf den Marktplatz oder nach dem Gottesdienst vor die Kirche und begannen, meist mit Unterstützung der ganzen Familie, zu singen. Um besondere Aufmerksamkeit und Neugierde zu erregen, wurden auf plakatgroßen Tafeln die eindruckvollsten Szenen der jeweiligen Liedhandlung - Morde, Hinrichtungen, Missgeburten, Unglücke, Wundererscheinungen und Kriegsgräuel - gezeigt. Ziel der Darbietung war keineswegs das Erbetteln einiger Pfennige, sondern der Verkauf von Lieddrucken und Heiligenbildern an die Zuhörerschaft.

Auch unsere Neue Zeitung war für das öffentliche Vorsingen bestens geeignet. Die vier Lieder handeln von seltsamen Himmelserscheinungen in Schottland, Irland und Pommern, wo Totenbahren und kreuzweise stehende Regenbögen von kommendem Unheil kündeten. Ein über Nacht blutig gewordener Brotteig, blutrotes Teichwasser in Torgau, so roth dass man darmit kann schreiben, Unwetter in Mecklenburg und der Blitzeinschlag in den Pulverturm in Berlin mit hunderten Toten, welche vom Pulffer wüst verbrennt, erschreckten die Zuhörer: Kein Feder kans nit gnug beschreiben, was es für grossen schaden gethan. Die wundersame Errettung einer von der grausamen Mutter verwunschenen Tochter (vgl. die Überschrift dieser Seite) durch einen Engel in Gestalt eines schönen Jünglings und schließlich die eindrucksvolle Schilderung einer 50.000 Opfer fordernden Epidemie in Marseille beschließen die Zeitung.

Von besonderer medienhistorischer Bedeutung ist diese Erwerbung deshalb, weil bisher kein einziger Druck aus dem 18. Jahrhundert bekannt war, der noch in jeder Weise dem Typ der Neuen Zeitung, dessen Auslaufen die Kommunikationswissenschaft in das letzte Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts datiert, entspricht.


© Österreichische Nationalbibliothek, 2007
last update: 23.02.2007

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