Milošević: Ein Begräbnis (2006)

Druckversion

Einen letzten Höhepunkt fand die öffentliche Erregung um Peter Handke im Zusammenhang mit seinem Eintreten für Slobodan Milošević. Das amtierende Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Jugoslawien wurde vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien im Mai 1999 wegen Völkermord, Massen­vertreibung und zahlreicher anderer Kriegsverbrechen angeklagt und nach seiner Abdankung zwei Jahre später nach Den Haag aus­geliefert. Der Prozess gegen ihn begann im Februar 2002 und zog sich auch aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes in die Länge. Am 11. März 2006 wurde Milošević in seiner Zelle tot auf­gefunden und sieben Tage später in seinem serbischen Heimatort Požarevac begraben.

Peter Handke beobachtete in Den Haag vor Ort mehrere Pro­zesse. Im Oktober 2002 erschien im Magazin der Süddeutschen Zeitung sein Text Rund um das Große Tribunal, in dem es in teilwei­se recht weit ausholenden Reflexionen und anhand zahlreicher Details, die der Autor auch in Zeichnungen festhielt, um den Ab­lauf der Verhandlungen und die Legitimation des Gerichts geht. Im Juni 2004 wird Peter Handke von Miloševićs Strafverteidigern neben 1.630 anderen namentlich genannten Personen als Entlastungszeuge für ihren Mandanten nominiert. Handke besucht Milošević im Gefängnis, einen offiziellen Zeugenbericht für das Gericht lehnt er ab. Stattdessen erscheint 2005 in der Zeitschrift Literaturen der Text Die Tablas von Daimiel, der sich im Untertitel Ein Umwegzeugenbericht nennt und klarmacht, dass es für den Autor nur diese eine Art einer literarischen Zeugenschaft geben kann.

Der Auftritt Peter Handkes beim Begräbnis von Slobodan Milošević am 18. März 2006 wird zum Skandal. Er kostet den Au­tor zahlreiche Sympathien, Düsseldorfer Politiker entziehen ihm den Heine-Preis, den ihm eine unabhängige Fachjury zugespro­chen hatte. In einem Fax an das deutsche Magazin Focus erklärt der Autor seine Motivation, in Požarevac dabei gewesen zu sein. In späteren Texten erscheint das Thema Jugoslawien bei Handke dann zusehends distanzierter. So beispielsweise in Die Kuckucke von Velika Hoča (2009), in der der Autor einen Besuch in jener ser­bischen Enklave im Kosovo beschreibt, der er das Preisgeld des an ihn verliehenen alternativen Heine-Preises zukommen ließ. (kk)

Text der Rede in der Rückübersetzung Peter Handkes laut Abdruck in: Focus, Nr. 13 (2006):

Ich hätte gewünscht, hier als Schriftsteller in Požarevac nicht al­lein zu sein, sondern an der Seite eines anderen Schriftstellers, etwa Harold Pinter. Er hätte kräftige Worte gebraucht. Ich brau­che schwache Worte. Aber das Schwache soll heute, hier recht sein. Es ist ein Tag nicht nur für starke, sondern auch für schwache Worte. [Ab hier sprach ich serbokroatisch – allein verfasst! –, im Nachhinein rückübersetzt:] Die Welt, die sogenannte Welt, weiß alles über Jugoslawien, Serbien. Die Welt, die sogenannte Welt, weiß alles über Slobodan Milošević. Die sogenannte Welt weiß die Wahrheit. Deswegen ist die sogenannte Welt heute abwe­send, und nicht bloß heute, und nicht bloß hier. Die sogenann­te Welt ist nicht die Welt. Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ich weiß die Wahrheit nicht. Aber ich schaue. Ich höre. Ich fühle. Ich er­innere mich. Ich frage. Deswegen bin ich heute anwesend, nah an Jugoslawien, nah an Serbien, nah an Slobodan Milošević.

Siglenverzeichnis Editorische Zeichen