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Edition der Jugendschriften Friedrich NietzschesDie frühen nachgelassenen Aufzeichnungen des PhilosophenJohann Figl• Allgemeine Bedeutung und Notwendigkeit einer Neuedition der Jugendschriften Nietsches
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Allgemeine Bedeutung und Notwendigkeit einer Neuedition der Jugendschriften Nietsches[6]Die Schriften aus der Jugendzeit wurden - abgesehen von einzelnen Mitteilungen Elisabeth Förster-Nietzsches in den Biographien über ihren Bruder und der Auswahl im Band 1 der Musarion-Ausgabe[7] - erstmals in der unvollendet gebliebenen Historisch-Kritischen Gesamtausgabe (BAW) ediert, und zwar als Bände 1 bis 5 der Werke.[8] Es ist zunächst festzuhalten, daß darin die Texte in hohem Ausmaß philologisch exakt entziffert sind; doch anläßlich der Beschäftigung mit dem Originalbestand im GSA wurde schon 1982 bemerkt, daß dem erwähnten positiven Tatbestand gravierende Mängel gegenüberstehen, die bei einer Neuedition der Jugendschriften auf jeden Fall vermieden werden müßten: Erstens ist die BAW unvollständig, zweitens ist sie chronologisch nicht einheitlich geordnet und drittens auch systematisch nicht befriedigend konzipiert. Als gravierendster Mangel muß die Unvollständigkeit der BAW erscheinen. Sie ist - streng genommen - keine Gesamtausgabe, da wichtige Gruppen von Nietzsches Aufzeichnungen fehlen, was übrigens nicht im einzelnen begründet wird. Es handelt sich vorwiegend um folgende Textgruppen:
Die widersprüchliche Chronologie zeigt sich u. a. darin, daß BAW die frühesten Notizen von Nietzsche als Kind im Anhang zum ersten Band einordnet, während der erste Band eben damit chronologisch zu beginnen hätte. Auch in den anderen Bänden finden sich Ungereimtheiten, z. B. in Band drei, insofern sich die »philosophischen Notizen« (BAW 3, S. 315-395) mit den unmittelbar vorhergehenden philologi- [3/ S. 171:] schen Notizen chronologisch überschneiden. Dies hängt mit einem mangelhaften systematischen Ansatz zusammen, der im folgenden zu behandeln ist. So ist es problematisch, wenn bestimmte Aufzeichnungen aus den Manuskripten als angeblich leicht »als eine Art rein philosophischer Fremdkörper« (BAW 3, Nachbericht S. 439) erkennbar herausgelöst werden. Über die erwähnte spezielle zieht sich ferner eine generelle Problematik durch die gesamte BAW-Edition: Es ist das Problem nicht im einzelnen erörtert, inwiefern Nachschriften einzubeziehen sind bzw. ausgeschlossen werden. Zudem hätte systematisch geklärt werden müssen, wie im einzelnen die Beziehung zu den Philologica, die in KGW in einer eigenen Abteilung (II) erscheinen, zu beurteilen ist. Aus diesen Gründen werden in der Abteilung I der Kritischen Gesamtausgabe der Werke erstmals die frühesten Aufzeichnungen aus der Kindheit und Jugend Nietzsches vollständig veröffentlicht. Ebenso wie bei der Kritischen Gesamtausgabe der Briefe (KGB I/1), die mit 1850, also mit den ersten Briefen des Kindes Nietzsche, einsetzt, wird auch der übrige schriftliche Nachlaß der Kindheit und Jugend - beginnend mit der Aufzeichnung eines Neujahrsgedichtes, das zur Jahreswende 1851/52 niedergeschrieben wurde, - von den frühesten Anfängen an publiziert. Durch die in der ersten Abteilung enthaltenen Aufzeichnungen und Schriften wird somit der Denk-, Bildungs- und Ausbildungsweg des jungen Nietzsche umfassend dokumentiert. Gerade bei einem Philosophen, für den Fragen nach dem Zusammenhang von Leben und Denken und überhaupt nach der Genealogie und dem Werden eine zentrale Bedeutung gewinnen sollten, mag auch das Interesse an den Anfängen seines eigenen biographischen und intellektuellen Weges einen besonderen Stellenwert einnehmen. Aber auch unabhängig von diesen speziellen Fragestellungen sind Nietzsches frühe Aufzeichnungen wegen ihres allgemeinen kulturgeschichtlichen Wertes und ihrer philosophiegeschichtlichen Besonderheit von großer Bedeutung: Von keiner anderen bedeutenden Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts ist ein Nachlaß aus der Kindheit und Jugendzeit in einem annähernd vergleichbaren Umfang bekannt; jedenfalls aber ist er nicht publiziert. Aus den erwähnten Gründen ist bei der Veröffentlichung der frühen Aufzeichnungen in der Abteilung I grundsätzlich Vollständigkeit angestrebt. Die Archivstudien zeigten, wie umfassend der bisher unbekannte, weil nicht edierte Nachlaß aus der frühen und frühesten Zeit Nietzsches ist. Gerade im Interesse der Forschung ist eine vollständige Edition der Aufzeichnungen von der Kindheit an nötig, und zwar nicht allein aus philosophischem bzw. allgemein biographischem Interesse, sondern [3/ S. 172:] weil dieser Nachlaß - in seiner Fülle und Reichhaltigkeit einzigartig für einen der großen Denker der Neuzeit - für zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen ein ansonsten kaum auffindbares Quellenmaterial bietet: für Psychologen und Pädagogen, für Philologen, Germanisten und Historiker, für Kulturtheoretiker und für Geisteswissenschaftler generell, für Religionswissenschaftler und Theologen. Die in den Bänden der Abteilung I befolgten Editionskriterien stimmen im generellen mit jenen der Gesamtausgabe der KGW überein, und zwar mit den drei Prinzipien: Manuskripttreue, chronologische Anordnung und Vollständigkeit. Abteilungsspezifischen Erfordernissen aber - wie bei Abteilung I insbesondere das Faktum durchgehender nachgelassener Aufzeichnungen, die zudem der schulischen Sozialisationsphase entstammen und naturgemäß mit vielen rezeptiven Elementen verbunden sind, - war zusätzlich Rechnung zu tragen. |
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Früheste Aufzeichnungen aus der Kindheit und den ersten Schul- bzw. GymnasialjahrenBand I/1: Nachgelassene Aufzeichnungen: Anfang 1852 bis Sommer 1858[9] Zu den von Nietzsche ab etwa 1852 selbst verfaßten bzw. gestalteten Texten gehören Gedichte, Theaterstücke, Pläne usw., ebenso biographische Notizen. Sogenannte Gelegenheitsnotizen[10] - wie z. B. Aufzeichnungen über Preise, Registrierung eines Besuchs, also Notizen persönlicher Art - werden dann aufgenommen, wenn sie in einem inhaltlichen Zusammenhang mit den übrigen Texten dieses Bandes stehen; die restlichen Bemerkungen solcher Art werden im Nachbericht mitgeteilt. Viele der Niederschriften Nietzsches sind mit Zeichnungen und graphischen Skizzen versehen. Wenn diese unmittelbar zu dem entsprechenden Textzusammenhang gehören, gewissermaßen einen konstitutiven Bestandteil desselben bilden, werden sie auch (Sigle Z) gemeinsam mit den Texten wiedergegeben. Darüber hinaus finden sich im Nachlaß Nietzsches Zeichnungen, die in keinem größeren textuellen Zusammenhang stehen, und die darum nicht im Text-, sondern erst im Kommentarband (als Faksimiles) gebracht werden. Außer den genannten Texten sind im Nachlaß Nietzsches aus der Naumburger Schulzeit Aufzeichnungen erhalten, die - wie erwähnt - zwar keine persönlich konzipierten Niederschriften sind, die aber dennoch nicht als unwichtig für das Verständnis seiner frühen Entwicklung betrachtet werden können. Dem spezifischen Charakter dieser [3/ S. 173:] Materialien, der sich aus der Beschaffenheit eines Nachlasses der Kindheit bzw. Jugend ergibt, will die Edition dadurch gerecht werden, daß sie solche Texte in einem ergänzenden Teil (Anhang) aufnimmt. Es sind jene Texte - beginnend mit 1852 -, deren Niederschrift Nietzsche fast durchwegs vorgegeben war bzw. aufgetragen wurde, sei es in der Familie (wie insbesondere vorformulierte Festtagsgedichte), sei es durch die Schule (also Schulmaterialien, wie z. B. Mitschriften sowie besonders Übersetzungen). Aufgrund dieser spezifischen Entstehungssituation handelt es sich vielfach um Nachschriften, die daher auch mit einer eigenen Sigle (A) gekennzeichnet werden. Diese Texte zeigen anschaulich den frühesten Bildungsweg Nietzsches, der für seine spätere Entwicklung nicht ohne Bedeutung gewesen ist. Zudem dokumentieren diese Manuskripte eine sehr frühe Begegnung Nietzsches mit bestimmten Ideen und zahlreiche andere für die Genese seines Werkes und für seine Biographie wichtige Aspekte; ferner sind sie als solche Zeugnisse von besonderem kulturgeschichtlichen Wert, auch in interdisziplinärer Hinsicht (Pädagogik, Schulgeschichts- und Unterrichtsinhaltsforschung, Biographie- und Kindheitsforschung, Frömmigkeitsgeschichte usw.). |
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Nachlaß der Gymnasialzeit in SchulpfortaBand I/2: Nachgelassene Aufzeichnungen: Herbst 1858 bis Herbst 1862[11] Band I/3: Nachgelassene Aufzeichnungen: Herbst 1862 bis Sommer 1864 (erscheint 2002) In den beiden Schulpforta-Bänden sind die Aufzeichnungen der Jahre, die Nietzsche in der Eliteschule Schulpforta verbracht hat, enthalten. Neben mehr oder weniger aus eigenem Antrieb verfaßten Arbeiten, wie z. B. Gedichten oder Vorträgen für den Freundschaftsbund Germania, Gedichten oder persönlichen Aufzeichnungen wie Tagebüchern, besteht - wie schon in KGW I/1 - ein bedeutender Teil des in Band I/2 präsentierten Materials aus Arbeiten aus dem schulischen Kontext, was ebenfalls auf einen Teil der Gedichte zutrifft. Auch bei dem reichhaltigen und vielfältigen Bestand an Niederschriften von Nietzsches Hand im schulischen Kontext, der überliefert ist, ist die Vollständigkeit der Veröffentlichung angestrebt, doch wird ein Teil dieser Materialien (z. B. solche rein formal-technischer Natur wie Realiennotizen, Übungen usw.) nicht im Textband gedruckt, sondern im Nachbericht wiedergegeben werden. In den vorliegenden Band werden - analog zu [3/ S. 174:] Band I/1 - jeweils mit der Sigle A die erhaltenen Exzerpte Nietzsches (in der Regel aus geschichtlichen oder literaturgeschichtlichen Werken) aufgenommen. Diese, in kleinerer Schrift abgedruckten Texte enthalten jenes Material, das, obwohl es sich dabei um Exzerpte handelt, sehr deutlich auf Nietzsches eigenständige Beschäftigung zurückgeht. Ganz klar ist dies z. B. bei dem Exzerpt aus Wolfgang Menzels »Geschichte der letzten 40 Jahre (1816-1856)« oder bei dem Exzerpt aus Theodor Mundts »Geschichte der Gesellschaft in ihren neueren Entwickelungen und Problemen«, zu welchem Buch auch eine eigenständige Reflexion Nietzsches aus dem gleichen Zeitraum erhalten ist. Aber auch die anderen Exzerpte geben wieder, was Nietzsche in einer zum Teil sehr individuellen Weise rezipiert hat. Darüber hinaus ist die Arbeit des Exzerpierens oft am Übergang von Rezeption zu eigener Textgestaltung angesiedelt. Viele der in diesem Band als eigenständige Niederschriften wiedergegebenen Texte sind von der gleichen Art, so etwa eine Aufzeichnung, die sich als selbständige kurze Reflexion an eine Mitschrift aus dem Religionsunterricht zum Konzil von Nicäa anschließt und einen Ausspruch des Arius kommentiert, oder auch die lateinischen Aufsätze, die geschichtliche Themen behandeln. Einige in den bisherigen Ausgaben der Jugendschriften Nietzsches nicht berücksichtigte Texte konnten aufgrund der Schulnachrichten als Aufzeichnungen im Zusammenhang mit gestellten Aufgaben identifiziert werden. Zur Datierung mußte in einigen Fällen neben dem äußeren Kriterium der Entwicklung der Handschrift auf innere Kriterien (wie z. B. sprachliche Gewandtheit) zurückgegriffen werden. Die geschlossene Wiedergabe des Überlieferungsträgers war prinzipiell angestrebt, konnte aber nicht in allen Fällen erreicht werden, z. B. wenn ein Manuskript Nietzsches Aufzeichnungen unterschiedlichster Art ungeordnet enthält; die Texte eines solchen Manuskripts waren deshalb nach ihrer chronologischen Zugehörigkeit den entsprechenden Text- bzw. Fragmentgruppen zuzuordnen. |
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Nachlaß der StudentenzeitBand I/4: Nachgelassene Aufzeichnungen: Herbst 1864 bis Frühjahr 1868[12] Band I/5 (in Ausarbeitung) Die Aufzeichnungen ab Herbst 1864 bis zum Beginn der Basler Zeit umfassen eine große Fülle von Notizen, Entwürfen und Konzepten sowie auch von in sich abgeschlossenen Abhandlungen. Dieser mehrere [3/ S. 175:] tausend Seiten umfassende Manuskriptbestand gehört unterschiedlichen Themengebieten an: Nicht ganz die Hälfte der Aufzeichnungen sind biographischen, gemischt philologisch-philosophischen und philosophischen, der wohl überwiegende Teil des Gesamtbestandes ist philologischen Inhalts. Um diesem heterogenen und komplexen Charakter der Aufzeichnungen aus der Studentenzeit editorisch gerecht zu werden, wurde bei der Veröffentlichung der Nachlaßmaterialien aus der Zeit ab Herbst 1864 folgende Vorgangsweise befolgt: Jene Aufzeichnungen (Vorarbeiten usw.), die sich um die bereits in der zweiten Abteilung (Philologica) enthaltenen Schriften gruppieren, sowie zusätzliche rein textphilologische Arbeiten, werden ebenfalls dort aufgenommen, während der gesamte übrige Nachlaß der Studienzeit geschlossen in Abteilung I veröffentlicht wird. Der vorliegende vierte Band dokumentiert somit Nietzsches Werdegang in seiner Auseinandersetzung auch mit philologischen Fragestellungen. Im Unterschied zur Vorgängerausgabe dieser Schriften von Hans Joachim Mette und Karl Schlechta (BAW 3-5), die die philologischen und philosophischen Notizen teilweise trennte, wird hier von einer solchen strikten Differenzierung Abstand genommen. In der editorischen Vorbemerkung zur Neuauflage der BAW schreibt Rüdiger Schmidt zu Recht: »Nach dem heutigen Stand der Forschung läßt sich eine scharfe Trennung der philologischen von den philosophischen Texten nicht mehr rechtfertigen. Der Versuch Schlechtas, abweichend von den ursprünglichen Editionsprinzipien in BAW 3 eine solche Trennung vorzunehmen, scheint daher heute nicht mehr sinnvoll.«[13] Die Abteilung I von KGW trägt dieser Kritik Rechnung, mit den eben erwähnten und begründeten Einschränkungen. Auch die philologische Exaktheit bei der Entzifferung sowie die Vollständigkeit lassen in der BAW (ab Band 3) für die Studentenzeit gegenüber den Bänden eins und zwei etwas nach. Eine Beschäftigung mit dem Originalbestand der Nietzsche-Handschriften im GSA zeigte ferner, daß sogar eine Reihe von Manuskripten ohne Begründung weggelassen wurde. In diesem Band wird nun erstmals der betreffende studentische Nachlaß, sofern er für Abteilung I vorgesehen ist, vollständig veröffentlicht. Im vorliegenden Band sind Aufzeichnungen verschiedenster Art enthalten, die hier zum Teil erstmals veröffentlicht wurden, wie z. B. autobiographische Notizen, lyrische Fragmente, Juxgedichte, philosophische, religionswissenschaftliche und theologische Notizen. Der vorliegende vierte Band der Abteilung I umfaßt somit - abgesehen von den erwähnten zu Abteilung II gehörenden Notizen - die Aufzeich- [3/ S. 176:] nungen Nietzsches von Herbst 1864 bis Frühjahr 1868, also die Zeit seines Bonner Studienjahrs, zweier weiterer Studienjahre in Leipzig und die Zeit seines Militärdienstes bis kurz nach seinem Reitunfall im März 1868. Grundlage aller abgedruckten Texte ist - wie bei allen Texten der Edition - der originale Manuskriptbestand im GSA. |
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Weitere Planung hinsichtlich des Nachberichtes zu Abteilung IIn Kürze werden alle Textbände der Jugendschriften Nietzsches vorliegen. Eine weitere Aufgabe bildet der Nachbericht zu Abteilung I, der voraussichtlich in zwei Teilbänden - einer zur Schulzeit und einer zur Studentenzeit - erscheinen wird. Diese Teilbände werden außer einem biographischen Überblick die Textkritik, den Kommentar und die Manuskriptbeschreibung sowie einen detaillierten Index enthalten. Zudem werden im Zusammenhang mit dem Nachbericht Materialien aus der Schulzeit, die primär formal-technischer Art sind (Rechtschreib- und Schönschreibübungen sowie andere Übungsmaterialien, Vokabellisten usw.), veröffentlicht werden. Eine besondere Aufgabe im Hinblick auf die Studentenzeit bilden die Kollegnachschriften, zum größten Teil Mitschriften aus philologischen Vorlesungen (ca. 1.100 beschriebene Manuskriptseiten), die Nietzsche besucht hat, in weitaus geringerem Umfang (ca. 150 Manuskriptseiten) aus theologischen, philosophie-[14] und kunstgeschichtlichen Vorlesungen (Bonner Zeit), aus Vorlesungen zur deutschen Literaturgeschichte, zu Archäologie[15] und einer politisch-rechtswissenschaftlichen Einführung (Universität Leipzig). Aufgrund des großen Umfangs der philologischen Kollegnachschriften ergeben sich im Hinblick auf Art und Umfang ihrer Publikation zusätzliche Probleme. |
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Nietzsches frühe Aufzeichnungen - Ein österreichisches EditionsprojektDie beschriebenen Bände resultieren aus einem Forschungsprojekt, das vom FWF gefördert und unter Leitung bzw. Mitarbeit von österreichischen Wissenschaftlern durchgeführt wird. Auf diese Weise wird ein besonderer Bezug zwischen dem Werk Nietzsches und Österreich hergestellt, nachdem schon zu Lebzeiten des Philosophen ein erster enger Konnex gegeben war: Hier hatte er seinen ersten Verehrerkreis unter Studierenden der Universität Wien, dem Leseverein der deutschen Studenten, dem auch Sigmund Freud angehörte.[16] In editorischer Hinsicht war in einem anderen Kontext das Wirken eines aus Österreich stammenden Wissenschaftlers bedeutsam geworden: Bekanntlich hat Karl Schlechta, ein gebürtiger Wiener, die Manipulationen von Elisabeth Förster-Nietzsche im Hinblick auf ein ›Werk‹ mit dem Titel »Wille zur Macht« aufgedeckt und die späten nachgelassenen Notizen erstmals authentisch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.[17] Im vorliegenden Projekt geht es um den frühen, ja frühesten Nachlaß Nietzsches, der nun erstmals vollständig mit Erscheinen der ausständigen Bände der Abteilung I veröffentlicht sein wird. Während die ›Dekonstruktion‹ des »Willen zur Macht« wesentlich die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Nietzsches betroffen hat, geht es bei den Jugendschriften um seine eigene Rezeption vorgegebener Texte, Motive usw., um die frühe Ausbildung seines eigenen Philosophierens in Begegnung mit einer Fülle von Inhalten, die ihn beeinflußt haben mögen bzw. von denen er sich absetzte. Es geht gewissermaßen um die Genese seines Denkens, die von frühen Ausdrucksformen an dokumentarisch nachgezeichnet und analysiert werden kann. Es ist eine philosophische und anthropologische Vorentscheidung, welcher Status dieser genetischen Phase des Lebens zugewiesen wird - nicht bloß im Hinblick auf das späte Werk, sondern auch für sich -, wenngleich auch die Frage nach dem Bezug dieser frühen Notizen zum Werk des reifen Nietzsche einen besonderen Stellenwert hat. Als Herausgeber der Jugendschriften Nietzsches ist der Berichterstatter von der hohen Relevanz dieser Aufzeichnungen für das Verständnis des gesamten Denkens Nietzsches - im besonderen auch für seine religiöse Entwicklung - überzeugt. Doch dies ist eine außerhalb der Arbeit an der Ausgabe liegende Wertung. Im Hinblick auf die Edition ist es notwendig, diese Texte als solche in sachgemäßer Weise der Forschung zur Verfügung zu stellen.[18] Erst auf dieser Basis können weiterreichende Aussagen über die Bedeutung von Nietzsches frühem geistigen Werdegang für sein späteres Werk in fundierter Weise getroffen werden. Johann Figl |
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Anmerkungen1] Friedrich Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, weitergeführt von Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi. Berlin, New York: de Gruyter 1967ff., ca. 40 Bände in 9 Abteilungen (im folgenden zitiert als KGW mit Angabe von Abteilung und Band). 2] Friedrich Nietzsche: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, weitergeführt von Norbert Miller und Annemarie Pieper. Berlin, New York: de Gruyter 1975ff., ca. 22 Bände in 3 Abteilungen (im folgenden zitiert als KGB mit Angabe von Abteilung und Band). 3] Vgl. den Nachbericht zu den Abteilungen IV und VII. In der Kritischen Studienausgabe (KSA) hatte Montinari vorwegnehmend alle Schriften (ausgenommen Juvenilia und Philologica) kommentiert: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe Bde. 1-15. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 14: Kommentar zu den Bänden 1-13. 2. Aufl. Berlin, New York: de Gruyter 1988. 4] Vgl. Johann Figl: Dialektik der Gewalt. Nietzsches hermeneutische Religionsphilosophie. Mit Berücksichtigung unveröffentlichter Manuskripte. Düsseldorf: Patmos-Verlag 1984 (= Beiträge zur Theologie und Religionswissenschaft; zugl. Wien: Habil.-Schr. 1983). 5] Vgl. Criteri dell’Edizione. In: Opere di Friedrich Nietzsche. Editione italiana condotta sul testo critico originale stabilito da Giorgio Colli e Mazzino Montinari. Bd. 1/1: Scritti giovanili 1856-1864. Versione di Mario Carpitella, notizie e note di Giuliano Campioni e Mario Carpitella. Mailand: Adelphi 1998. 6] Die folgenden Ausführungen sind teilweise entnommen aus: Johann Figl: Edition des Frühen Nachlasses Friedrich Nietzsches - grundsätzliche Perspektiven. In: Nietzscheforschung 1 [1994], S. 161-168; ebenso werden zum Teil Vorworte der betroffenen Bände einbezogen. 7] Friedrich Nietzsche: Gesammelte Werke. Bd. 1: Jugendschriften. Dichtungen, Aufsätze, Vorträge, Aufzeichnungen und philologische Arbeiten 1858-1868. München: Musarion-Verlag 1922, S. 213-312. 8] Friedrich Nietzsche: Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bearbeitet vom Wissenschaftlichen Ausschuß der Stiftung Nietzsche-Archiv unter dem Vorsitz von C[arl] A[ugust] Emge. Bde. 1-4. Hg. von Hans Joachim Mette und Karl Schlechta. Bd. 5. Hg. von Carl Coch und Karl Schlechta. München: Beck 1933-1942 (mehr nicht erschienen; im folgenden zitiert als BAW). 9] KGW I/1: Nachgelassene Aufzeichnungen: Anfang 1852 - Sommer 1858. Bearb. von Johann Figl unter Mitarbeit von Hans Gerald Hödl. Berlin, New York: de Gruyter 1995. 10] Vgl. Mazzino Montinari: Nachbericht. In: KGW IV/4, S. 492 und VII 4/2, S. 562. 11] KGW I/2: Nachgelassene Aufzeichnungen: Herbst 1858 - Herbst 1862. Hg. von Johann Figl. Bearb. von Hans Gerald Hödl. Unter Mitarbeit von Ingo W. Rath. Berlin, New York: de Gruyter 2000. 12] KGW I/4: Nachgelassene Aufzeichnungen: Herbst 1864 - Frühjahr 1868. Hg. von Johann Figl. Bearb. von Ingo W. Rath. Berlin, New York: de Gruyter 1999. 13] Rüdiger Schmidt: Editorische Vorbemerkung. In: Friedrich Nietzsche: Frühe Schriften. Bde. 1-5. Hg. von Hans Joachim Mette. Bd. 1: Jugendschriften 1854-1861. München: Beck 1994 (= Fotomechanischer Nachdruck von Nietzsche, Anm. 8), S. [i-vii], hier S. [vii]. 14] Vgl. Figl (Anm. 4); ders.: Nietzsches frühe Begegnung mit dem Denken Indiens. Auf der Grundlage seiner unveröffentlichten Kollegnachschrift aus Philosophiegeschichte (1865). In: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 455-471. 15] Zu dieser Kollegnachschrift vgl. Hubert Cancik: Otto Jahns Vorlesung ›Grundzüge der Archäologie‹ (Bonn, Sommer 1865) in den Mitschriften von Eduard Hiller und Friedrich Nietzsche. In: Otto Jahn (1813-1868). Ein Geisteswissenschaftler zwischen Klassizismus und Historismus. Hg. von William M. Calder III, Hubert Cancik und Bernhard Kytzler. Stuttgart: Steiner 1991, S. 29-56. 16] Vgl. Johann Figl: Nietzsche und Wien. In: Von Nietzsche zu Freud. Übereinstimmungen und Differenzen von Denkmotiven. Hg. von Johann Figl. Wien: Wiener Universitätsverlag 1996, S. 11-17; Hans Gerald Hödl: Nietzsche in Österreich. Prometheische Religion: Siegfried Lipiners poetische Nietzsche-Rezeption. In: Verdrängter Humanismus - Verzögerte Aufklärung. Hg. von Michael Benedikt u. a. Bd. 4: Anspruch und Echo. Sezession und Aufbrüche in den Kronländern zum Fin-de-Siècle. Philosophie in Österreich (1880-1920). Klausen-Leopoldsdorf: Editura Triade 1998, S. 379-396. 17] Friedrich Nietzsche: Werke. Bde. 1-3, Index-Bd. Hg. von Karl Schlechta. München: Hanser; Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft [1954ff.]. 18] Vgl. z. B. Thomas H. Brobjer: Nietzsche’s Education at the Naumburger Domgymnasium 1855-1858. In: Nietzsche-Studien 28 (1999), S. 302-322, der die erstmals in KGW I/1 veröffentlichten Schulmaterialien der Naumburger Zeit wissenschaftlich auswertet. |
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