[2/ S. 235:] Trotz einiger grundlegender neuerer Arbeiten zu Theodor Kramer (vgl. z. B. Daniela Strigls Dissertation von 1993 und die Kramer-Studien
in der Reihe »Zwischenwelt« der Theodor-Kramer-Gesellschaft) war es Kramer-Interessierten bislang nicht möglich, sich mit
raschem Zugriff einen zuverlässigen Überblick über die Kramersche Vita zu verschaffen. Die zu Beginn der 80er Jahre in der
vierten Sondernummer des »Zirkular« veröffentlichte »Zeittafel« war dazu zwar ein erstes erfreuliches Angebot, das aufgrund
der damals noch verhältnismäßig ›unterentwickelten‹ Kramer-Forschung jedoch zwangsläufig lücken- und fehlerhaft bleiben mußte
(vgl. Theodor Kramer 1897-1958. Dichter im Exil. Hg. von Konstantin Kaiser. Wien: Dokumentationsstelle für neuere österreichische
Literatur 1983, S. 133-135). Dieses Manko ist nun durch Erwin Chvojka und Konstantin Kaiser weitgehend behoben worden, und
zwar in einer reich bebilderten »Lebenschronik«, die über den Tod Kramers hinaus bis in das Jahr 1984 reicht.
Ansprechend ist die Lesbarkeit dieser Chronik. Daten und Fakten sind nicht trocken aneinandergereiht, sondern werden durch
regelmäßig eingestreute Textzeugnisse lebendig gehalten, seien dies Auszüge aus Briefen an und von Kramer, aus Erinnerungen
von Freunden und Bekannten oder aus zeitgenössischen Presse-Berichten und ähnlichem - leider nicht ohne einen kleinen Wermutstropfen
für den wissenschaftlichen Leser, dem ein genauer Quellennachweis des zitierten Dokuments vorenthalten wird. Die diesbezüglichen
Ausführungen in der Herausgeber-»Vorbemerkung« mit ihrem Hinweis auf die Abteilung »Benützte Literatur« (am Ende des Buchs)
sind wenig zufriedenstellend, vor allem in bezug auf Zitate aus bisher noch unveröffentlichten Korrespondenzen, deren Standortnachweis
über die kursorische Nennung von sechs deutschen und österreichischen Institutionen nicht hinausgeht. Auf völlig anderer Ebene,
nämlich mit Blick auf die herstellerische Qualität, wird die allgemeine Lesefreude durch die mangelhafte Klebebindung des
Büchleins gedämpft, aus dem sich schon nach kurzem Gebrauch einzelne Seiten zu lösen beginnen.
Nichtsdestotrotz: Wenn der schmale Band auch nicht beansprucht, »als Biographie Theodor Kramers zu gelten oder eine solche
zu ersetzen« (Vorbemerkung), so gelingt es ihm über weite Strecken, ein dichtes Bild der bewegten [2/ S. 236:] und bewegenden Lebensgeschichte Kramers mitsamt deren kulturellen, politischen und sozialen Komponenten zu entwerfen: Auf
dem Real- und Obergymnasium in Stockerau (Niederösterreich) leidet der zehnjährige, 1897 in Niederhollabrunn geborene Sohn
eines jüdischen Gemeindearztes unter dem »religiösen Antisemitismus« seiner Mitschüler. Mit dreizehn Jahren - nun Schüler
in Wien - beginnt Kramer, regelmäßig Gedichte zu schreiben, 1913 sympathisiert er mit einer Gruppe der österreichischen Jugendbewegung
um den späteren Psychoanalytiker Siegfried Bernfeld, der unter anderem Hanns Eisler und Fritz Gross angehören. 1916 wird der
Offiziersanwärter (Einjährig-Freiwillige) Kramer schwer verwundet; über die Kriegseindrücke geben die 1931 erschienenen ›Front-Gedichte‹
»Wir lagen in Wohlhynien im Morast« Auskunft.
Nach dem Abbruch seines Wiener Studiums (zunächst Philosophie, Germanistik, Geschichte, dann Staatswissenschaften) begibt
sich Kramer von 1921 bis 1931 auf zahlreiche Streifzüge durch Niederösterreich und das Burgenland, ist jedoch nicht der abgerissene,
dichtende ›Sandler‹, als den man ihn oft beschrieben hat. In dieser Zeit arbeitet er als Buchhändler und in einer Buchauslieferung
in Wien, seit der Mitte der 20er Jahre veröffentlicht er und tritt bei Lesungen und im (österreichischen und deutschen) Rundfunk
auf, Kontakte entstehen zu literarischen Persönlichkeiten wie z. B. Rudolf Brunngraber, Paul Elbogen, Fritz Hochwälder, Joseph
Kalmer, Leo Perutz und Georg von der Vring. Der Stadtsenat verleiht ihm 1928 den »Kulturpreis der Stadt Wien« für die Lyriksammlung
»Die Gaunerzinke« (gegen die der NS-Ideologe Alfred Rosenberg als »Einfühlung in die Ostjudenseele« polemisiert). Seit 1927
ist Kramer Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiter-Partei Deutsch-Österreichs; auch gehört er dem 1929 in den »Schutzverband
deutscher Schriftsteller« integrierten »Kartell Lyrischer Autoren« an. Zu Beginn der 30er Jahre verschlechtert sich sein Gesundheitszustand.
Kramer gerät zunehmend in materielle Not, die sich 1933 verstärkt, als die Publikationsmöglichkeiten in Deutschland entfallen.
Nach dem durch die Dollfuß-Diktatur 1934 erfolgten Verbot der »Arbeiter-Zeitung«, in der zahlreiche Kramer-Gedichte erschienen
waren, und nach dem sogenannten Juli-Abkommen zwischen Hitler und Schuschnigg von 1936 schreibt Kramer, der 1936 noch den
Gedichtband »Mit der Ziehharmonika« veröffentlichen kann, an den Schweizer Schriftsteller Peter Kilian im Februar 1937 aus
Wien: »Hier werde ich immer mehr geschnitten und meine Gedichte werden nicht mehr angenommen«. Gerade weil diese Behauptung
stimmt, hätten sich die Herausgeber nichts vergeben, wenn sie anschließend dennoch auf Kramers Mitarbeit an dem von Otto Basil
herausgegebenen (und bald verbotenen) Kunstheft »Plan« hingewiesen hätten, jenem Vorläufer des gewichtigen Nachkriegs-»Plan«,
der ebenfalls Kramer-Texte aufnahm, aber auch im hinteren Teil der »Lebenschronik« unerwähnt bleibt (wohingegen auf zahlreiche
andere Literaturzeitschriften Bezug genommen wird; Kramers Kontakt zu Basils »Plan« war der Forschung nicht unbekannt; vgl.
z. B. die »Plan«-Studie von Ruth Gross von 1982).
[2/ S. 237:] 1938/39 scheitern - selbst mit der Fürsprache Thomas Manns - verschiedene Emigrationsversuche Kramers (in die Schweiz, die
USA, nach Shanghai und in die Dominikanische Republik), doch gelingt im Juli 1939 die Flucht nach England, wo sich bereits
seine Frau aufhält (weitere Fürsprecher waren in diesem Zusammenhang auch Franz Werfel sowie Arnold und Stefan Zweig). Im
rein quantitativen Vergleich mit der Schilderung der Jahre 1897 bis 1938, denen etwa 40 Seiten eingeräumt werden, fällt die
Dokumentation der ›Kernzeit‹ im englischen Exil weit ausführlicher aus. Jene sechs Jahre (1939-1945), in denen Kramer unter
anderem als »enemy alien« interniert (Mai 1940 bis Januar 1941) und später ein großes dichterisches Vorbild für die jüngsten
Schriftsteller (z. B. Erich Fried) im Kontext des organisierten österreichischen Exils in England wird, werden immerhin auf
30 Seiten abgehandelt, was nicht zuletzt aus den beharrlichen und von den Chronisten sorgfältig ausgewerteten Anstrengungen
der Exilforschung resultieren mag. ›Nur‹ knapp 30 Seiten stehen dagegen dem Zeitraum von 1946 bis zu Kramers Rückkehr nach
Wien 1957 und seinem baldigen Tod 1958 zur Verfügung. Diese Jahre, in denen er als (permanent kränkelnder und schlecht bezahlter)
Bibliothekar in Guildford ein höchst produktiver Brief- und Gedichtschreiber blieb, erscheinen unter dem Stichwort - wie man
es im Rückgriff auf Aussagen Kramers bilden könnte - der ›Semigration‹ kaum weniger interessant. Die »Lebenschronik« liefert
spannende Informationen zur langandauernden Rückkehrproblemtatik (aus Kramers und aus österreichischer Sicht), während Hinweise
auf den (fortbestehenden) Umgang mit anderen in Großbritannien gebliebenen Emigranten (wie z. B. Elias Canetti, Erich Fried
und Hilde Spiel) nur punktuell erfolgen und Kramers beruflicher und privater Alltag im Postwar-England insgesamt eine Spur
unterbelichtet erscheint. Für eine intensivere Erforschung der zuletzt genannten Periode hält das ÖLA zahlreiche Dokumente
bereit, insbesondere mit der ungemein dichten und bisher nur unzureichend ausgewerteten Korrespondenz an Hedwig Stadelmann,
die höchstwahrscheinlich im Frühjahr 1999 eine ideale Ergänzung durch den Erwerb der etwa zeitgleichen Briefe an Harry Zohn
erfahren wird.
Volker Kaukoreit
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