Entstehungskontext

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Der kurze Brief zum langen Abschied entstand unter dem Eindruck einer Lesereise durch die USA, die Handke zusammen mit seinem Freund Alfred Kolleritsch und seiner Frau Libgart Schwarz vom 24. April bis zum 18. Mai 1971 unternahm. Die erste Hälfte der Reiseroute deckt sich mit dem Verlauf der Erzählung. Nach den ihm bekannten Orten habe Handke »den Helden in mir unbekannte Gegenden geschickt, nach Donora bei Pittsburgh, dann nach Indianapolis [...]«, wie er am 2. September 1971 an Kolleritsch berichtet. Die Erstausgabe des Buches enthielt in der Klappbroschur eine Landkarte der USA mit der eingezeichneten Route.

Entscheidend für die Struktur der Erzählhandlung ist auch Handkes Lektüre von Entwicklungs- oder Bildungsromanen, vor allem Der grüne Heinrich Gottfried Kellers. In einem Gespräch mit Manfred Durzak erwähnt Handke, dass er den Gedanken, einen Bildungsroman zu schreiben, schon 1964 gehabt habe (vgl. Durzak 1976, S. 319). Über seine Lektüre schreibt er am 18. Juli 1971 in einem Brief aus Griffen an Alfred Kolleritsch: »[...] abends lese ich "Der grüne Heinrich". Im Urlaub habe ich den Wilhelm Meister gelesen, aber irgendwo in den Wanderjahren bin ich steckengeblieben.« Handke nennt die Erzählung im Interview mit Hellmuth Karasek auch die »Fiktion eines Entwicklungsromans« (vgl. Karasek 1972). Daneben begründet Handke seine Schreibmotivation auch persönlich: »Für mich war [...] der Frühling 1971 wichtig. Da war so ein Wohlgefühl. Das war einfach ein rein biographisches Element: eben diese Phase 1971, als über eine längere Zeit zum erstenmal ein Existenzgefühl geherrscht hat [...]« (vgl. Durzak 1976, S. 332).

An seinen Verleger Siegfried Unseld berichtet er in einem Brief am 21. Juli 1971: »Ich bin noch ein paar Wochen hier [in Griffen, Anm.] und bereite eine lange Geschichte vor, einen kurzen Roman, den ich ab Mitte August in Köln schreiben möchte.« Und in einem weiteren Brief vom 11. August 1971 legte er sich bereits auf einen geplanten Arbeitsbeginn fest: »am 15. [August, Anm.] möchte ich anfangen.« Die Griffener Heimat spielt für die Bezüge auf die Herkunft des Protagonisten in Der kurze Brief zum langen Abschied eine Rolle. Die Einbeziehung traumatischer Erfahrungen des Erzähler-Ichs, die seit Die Angst des Tormanns beim Elfmeter ein wesentliches Kennzeichen für eine Erzählwende bei Handke darstellt, tritt mit Rückgriffen auf Szenen aus der Kindheit hervor. Damit lässt sich ein Erzählbogen spannen, der erst viel später mit Mein Jahr in der Niemandsbucht tatsächlich abgeschlossen sein wird.

Handke schrieb die erste Textfassung dann im August und September 1971 in der Wohnung von Ute und Bernd Bohmeier in Köln, wo er bereits zuvor für die Arbeit an der Chronik der laufenden Ereignisse gewohnt hatte. Zur gleichen Zeit, ab etwa 13. August, hielt sich Libgart Schwarz im burgenländischen Jennersdorf auf, wo die Dreharbeiten zu Die Angst des Tormanns beim Elfmeter stattfanden. Im August 1971 sah Handke auch seine Mutter zum letzten Mal. In dem Brief an Unseld vom 11. August 1971 (Handke / Unseld 2012, S. 205) berichtete er diesem weiters von seinem Vorhaben, ein »ganz dickes Buch« zu schreiben, wobei es sich um das spätere Schreibprojekt "Ins tiefe Österreich" handelte, zu dem Der kurze Brief eine Art Vorgeschichte darstellt. "Ins tiefe Österreich" sollte eine Art Fortführung des kurzen Briefs werden, in dem die »Gegenbewegung« beschrieben wird: »Ich wollte meinen Helden vom Westen in einem großen Bogen auch durch den osteuropäischen Bereich heimkommen lassen. Aber das ist alles fragmentarisch geblieben«, erklärt Handke später in einem Interview mit Sigrid Löffler (vgl. Löffler 1981).

Seinem Freund Alfred Kolleritsch schrieb er am 2. September 1971 über seine Fortschritte an der Erzählung: »Ja, ich schreibe ziemlich heftig, eine Zeitlang hat es in Providence gespielt, dann in New York und Philadelphia, dann ist mir das auf die Nerven gegangen, und habe den Helden in mir unbekannte Gegenden geschickt, nach Donora bei Pittsburgh, dann nach Indianapolis, und im Moment ist er in St. Louis. [...] Etwas über die Hälfte der Geschichte habe ich jetzt fertig, es geht ziemlich mühsam, seit 18 Tagen hocke ich jeden Tag fast acht Stunden dabei, am Abend bin ich ganz stumpfsinnig.« In einem Interview mit Christian Linder beschrieb er die Arbeit an der Erzählung als »Erschöpfung«: »Beim "Kurzen Brief" ist das schon vorgekommen, dann habe ich aber auch aus bloßer Manier immer wieder das Blatt aus der Maschine gezogen und rein mechanisch noch einmal das gleiche runtergeschrieben. Wie bei einem Hindernis, über das man mehrere Anläufe nimmt;« (Linder 1974, S. 41) Seinem Verleger Unseld hingegen, der ihn am 8. September in Köln besuchte, teilte er kurz und bündig mit: »Die Arbeit geht gut voran.« (Handke / Unseld 2012, S. 206) Unseld erinnerte ihn tags darauf am 9. September: »Du wolltest uns im Laufe des Monats Oktober das Manuskript "Der kurze Brief zum langen Abschied" zuschicken. Wir möchten dann doch gerne, wenn auch Dir dies recht ist, das Buch schon im Frühjahr 1972 herausgeben.« Handke versicherte am 14. September 1971: »Ich glaube schon, daß ich bis Anfang Oktober mit dem Roman fertig bin, das heißt, wenn von außen nichts dazwischen kommt. [...] inzwischen hab ich schon Lust, die Geschichte möglichst bald weiterzuschreiben.« Am 27. September 1971 konnte Handke schließlich die Fertigstellung der ersten Textfassung von Der kurze Brief zum langen Abschied bekannt geben, auch, dass er sofort danach die Abschrift zur zweiten Textfassung in Angriff nahm: »Gestern bin ich mit dem Roman fertig geworden. [...] In den nächsten zwei, drei Wochen werde ich es abschreiben, und Mitte, Ende Oktober spätestens werde ich es dann nach Frankfurt schicken.« Die erste Textfassung entstand also zwischen 15./16. August und 26. September 1971.

Am 2. Oktober 1971 teilte Handke den Abschluss seiner Arbeit auch Kolleritsch mit: »Zum Glück bin ich seit einer Woche mit der Geschichte fertig, sie wird ca. 200 Seiten haben, und ich bin schon sehr froh darüber. Du kommst auch ein bißchen vor, aber natürlich nicht lebensecht. Es heißt Der kurze Brief zum langen Abschied.« Siegfried Unseld erbat sich aus Termingründen den Text bis spätestens 22. Oktober 1971, Handke schickte ihm das Typoskript pünktlich am 21. Oktober 1971. Die zweite Textfassung, die im Archiv des Suhrkamp Verlags auch erhalten ist, entstand folglich im Zeitraum zwischen 26. September und 21. Oktober 1971. Unseld dankte brieflich für die Zusendung am 29. Oktober und urteilte über den Text: »ich bin schlechthin begeistert. [...] Irgendwie habe ich den Eindruck, daß dies das Buch der Generation noch von 1972 sein wird [...]« Am 1. November berichtete Handke Kolleritsch: »Unseld hat gerade mein Manuskript gelesen« und kündigte an, ab 6. November bei Unseld zu wohnen, was sich mit seiner am 21. Oktober an Unseld formulierten Bitte deckt, »doch vielleicht eine Woche« in dessen Haus leben zu dürfen, bis zur Fertigstellung des eigenen Hauses in Kronberg am 15. November.

Zugleich mit dem Erscheinen des Buches im März 1972 (Startauflage 50.000 Stück) wurde ein Teilabdruck der Seiten 90-91 sowie 166-172 unter dem Titel Amerika veröffentlicht (Neues Forum 219 (1972), S. 53-54). Vier Jahre später wurde die Erzählung von Herbert Vesely verfilmt. In Unterscheidung zu seinen vorangehenden Werken beschreibt Handke den Kurzen Brief zum langen Abschied als »Abschied von einem Fetischismus von Einzelheiten, wie er noch im "Hausierer" vorkam, auch als stilistisches Prinzip. Ich bin aber nicht sicher, ob man das jetzt gegeneinander abwägen kann. Der "Kurze Brief war ja auch nicht so konzipiert [...] Er war konzipiert als Beschreibung einer tiefen Ausbeutung des Individuellen, einer [...] "unerbittlichen" Ausbeutung.« (Linder 1974, S. 43) (ck)

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