Entstehungskontext
Die Kuckucke von Velika Hoča ist eine Erzählung oder eine »Reportage«, die Peter Handke im Sommer 2008, nach seiner dritten Reise in die serbische Enklave im südlichen Kosovo verfasste. Wenige Monate zuvor, am 17. Februar 2008, war die Unabhängigkeit des Kosovo erklärt worden. Der vom Weinbau geprägte Ort mit seinen 13 Kirchen gehört zur Großgemeinde Rahovec, die mehrheitlich von Albanern bewohnt wird. Velika Hoča selbst zählt rund 700 Einwohner, fast ausschließlich Serben, von denen die Mehrheit arbeitslos und auf Sozialhilfe angewiesen ist. Die serbische Minderheit wurde während der Reisen Handkes in den Jahren 2006 bis 2008 von KFOR-Truppen bewacht, um sie vor kosovo-albanischen Übergriffen zu schützen.
Handkes Kosovo-Reisen in den Jahren 2006 und 2007
Handke war erstmals in den Jahren 1996 und 1999 in den Kosovo gereist (vgl. Deichmann 2006, S. 42). Der für die Erzählung ausschlaggebenden Reise im Jahr 2008 waren zwei Aufenthalte in Velika Hoča in den Jahren 2006 und 2007 vorangegangen, auf die sich Handke im Buch deutlich bezieht. Nur wenige Wochen nach seiner Teilnahme an der Beisetzung von Slobodan Milošević am 18. März 2006 in Požarevac/Serbien besuchte er von Belgrad kommend am 24. und 25. April Orahovac, Velika Hoča und zuletzt das Kloster Dečani zusammen mit Thomas Deichmann. Weiters begleiteten ihn »serbisch[e] Kosovoflüchtlinge, einig[e] Dichter, Künstler und Journalisten und sein[e] serbischen Freund[e] Zlatko Bocokić und Žarko Radaković« (Deichmann 2006, S. 42).
Die nächste Reise fand vom 7. bis 12. April 2007 statt. Neben Velika Hoča führte sie auch zu den Osterfeierlichkeiten in die benachbarte Stadt Orahovac und danach vom 9. bis 12. April in den Norden nach Dečani, Kosovska Mitrovica, Ćuprija und Porodin. Bei diesem medial stark rezipierten zweiten Besuch zu Ostern überreichte Handke dem Bürgermeister von Velika Hoča, Dejan Baljošević, das Preisgeld von 50.000 Euro, mit dem der von Mitgliedern des Berliner Ensembles initiierte, an ihn verliehene »alternative Heinrich-Heine-Preis« dotiert gewesen war. Der »Heinrich Heine-Preis« der Stadt Düsseldorf war Handke im Jahr 2006 nach einer Debatte über seine »Serbien«-Texte wieder aberkannt worden.
Sowohl der serbisch-kosovarische Schriftsteller Petar Šarić als auch Handke hielten jeweils eine kurze Rede. An den bei diesem Anlass geäußerten Vorschlag, einen Teil des Geldes als Stipendium für Schriftsteller auszuschreiben, erinnert Handke in der Erzählung: »kein einziger Schriftsteller, selbst kein "angehender", so oder so bedürftiger« habe »sich gemeldet« (DKV 50). Neben seiner Tochter Léocadie wurde er begleitet von Claus Peymann, der Dramaturgin Jutta Ferbers, den Berliner Ensemble-Schauspielern Rolf Becker und Käthe Reichel sowie dem Journalisten Eckart Spoo, die sich für die Aufbringung des Preisgeldes eingesetzt hatten. Ebenfalls vor Ort waren die Journalisten Susanne Zobl (News) und Wolfgang Büscher (Die Zeit). Die Spiegel-Redakteurin Renate Flottau hatte sich unter falschem Namen unter die Reisegruppe gemischt und in der Folge einen polemischen Artikel gegen Handke veröffentlicht. Dieser Begebenheit, die »wenn vielleicht kein Verbrechen, einen Friedensbruch bedeutete« ist in den Kuckucken ein längerer Einschub gewidmet (DKV 91-93).
Reise nach Velika Hoča im Mai 2008 und Entstehung des Bleistiftmanuskripts
In der Zeit vor und nach Handkes nächster Kosovo-Reise im Jahr 2008 äußerte er sich mehrmals öffentlich zu Serbien. Mitte Jänner 2008, noch vor der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo am 17. Februar, soll Handke – deutschen Medienberichten zufolge – in der Belgrader Zeitung Politika Partei für den serbischen Präsidentschaftskandidaten Tomislav Nikolić ergriffen und sich in der Folge auch gegen die Unabhängigkeit des Kosovo positioniert haben, unter anderem mit einer Stellungnahme bei einer proserbischen Demonstration in Wien Ende Februar 2008. Am 29. Mai, kurz nach der Reise, gab er im Rheinischen Merkur wiederum eine Stellungnahme zum Jahrestag des Nato-Bombardements des serbischen Dorfes Varvarin ab, dem er, vergleichbar mit Velika Hoča, im Jahr 2004 sein Honorar für den Untertagblues zukommen hatte lassen.
Im Mai 2008 hielt Handke sich für eine Woche im Kosovo auf, mit der ursprünglichen Absicht »den und jenen einzelnen im serbischen Kosovo ausführlich, sozusagen systematisch, in der Rolle eines Reporters oder meinetwegen Journalisten, zu befragen, und die Antworten entsprechend mitzuschreiben« (DKV 9). Es sind keine Notizbücher an öffentlichen Archiven zugänglich, die Aufschluss über Art und Inhalt der im Verlauf der Reise getätigten Aufzeichnungen geben.
Der Erzählung zufolge reiste er am 6. Mai mit dem Flugzeug nach Belgrad (DKV 8), um von dort mit dem Auto weiter in den serbischen Teil von Kosovska Mitrovica zu gelangen, wo er am 7. Mai zu Fuß den albanischen Südteil der Stadt erkundete (DKV 16). Als Begleiter nennt er seinen Freund »Zlatko B.[ocokić]« (der als Übersetzer fungierte) und »Ranko«, einen »junge[n] serbische[n] Dichter aus Djakovica/Gjakovë« (DKV 11), der schon an den beiden vorangehenden Reisen organisatorisch beteiligt gewesen war. Am Nachmittag erreichte die Gruppe nach einer weiteren Autofahrt über die Städte Priština und Mileševo die Enklave Velika Hoča (DKV 38), wo Handke für eine Woche blieb und nach ersten Gesprächsnotizen als »Befrager« »nur noch Nebensächliches, örtliche Sprichwörter, ortsspezifische Bezeichnungen« (DKV 44) aufschrieb. Die anfängliche »Kalenderchronologie« (DKV 38) der Erzählung hob Handke für die Erzählung seines Dorfbesuches auf, ein genaues Datum seiner Abreise ist nicht dokumentiert.
Etwa zwei Monate nach der Reise verfasste Handke unter Zuhilfenahme seiner Notizen und einer im albanischen Stadtteil von Mitrovica erstandenen Landkarte (»Harta e Kosovës – Map of Kosova«, DKV 28) zwischen 30. Juni und 5. August seine als »Nachschrift« bezeichnete Erzählung Die Kuckucke von Velika Hoča in Form eines Bleistiftmanuskripts mit zwei Schreibpausen zwischen 3. und 6. sowie 15. und 27. Juli 2008.
Abschrift durch Gudrun Weidner
Die Computerabschrift von Die Kuckucke von Velika Hoča wurde von Gudrun Weidner hergestellt. Eine Ansichtskarte von Peter Handke an Gudrun Weidner (mit dem historischen Motiv »Volksabstimmung in Kärnten«), datiert mit 10. September 2008 sowie zusätzlich mit einem Suhrkamp-Eingangsstempel vom 15. September, lag vermutlich der Manuskriptsendung an den Verlag bei. Mit der Bemerkung »Liebe Gudrun Weidner, jetzt kommt doch noch etwas auf Sie zu – 37 Seiten "Reportage" (samt Problemen). Geht es?« bat Handke um die Abschrift des von 30. Juni bis 5. August verfassten Bleistiftmanuskripts (Privatarchiv Gudrun Weidner). Um welche »Probleme« es sich dabei konkret handelte, ist nicht weiter erklärt. In einem Fax vom 25. September dankte Weidner für den neuen Arbeitsauftrag (»seit etwa zehn Tagen, sind Die Kuckucke von Velika Hoča bei mir«).
Bereits mit 30. September lag eine Liste mit insgesamt 28 Anmerkungen zum Text vor, sowie Weidners Rechnung an den Suhrkamp Verlag. Die Abschrift war mit diesem Tag abgeschlossen, und vereinbarungsgemäß schickte sie je ein Exemplar an den Verlag und – zusammen mit den Anmerkungen – an Peter Handke. Drei Wochen später, am 21. Oktober 2008, bedankte sich Peter Handke mit einem Fax: »immer, wenn ich einen Klartext, dank Ihnen, von mir verantwortet, auch nur von weitem sehe, habe ich eine Art Schuldgefühl, und umkreise die Sache lange, wie ein Verbrecher – und eben jetzt erst werde ich mich ans Lesen, Korrigieren machen [...]« (Privatarchiv Gudrun Weidner). Als Korrekturdatum trug er auf dem ersten Blatt seines Exemplars der Abschrift den Vermerk »korrigiert 4.-7. Nov. 2008 PH« ein.
»Nachschrift« und »Nachschrift der Nachschrift«
Zusammen mit seiner Korrektur der Abschrift im November 2008, ergänzte Handke handschriftlich auf dem letzten Blatt (S. 62) seines Exemplars einen Absatz in der Länge von einer halben Seite. In dieser Ergänzung, die in der Buchausgabe als letzter regulärer Absatz gedruckt wurde (DKV 95-96), blickt er ein weiteres Mal auf die Maiwoche in Velika Hoča zurück und ruft sich das Bild von »Klappstühle[n] des ehemaligen Dorfkinos« in Erinnerung, die in einem »Container namens "Rambouillet"« aufgestellt waren. Das Originalblatt mit der Ergänzung liegt nun dem Bleistiftmanuskript bei, eine Kopie davon befindet sich in Handkes Exemplar der Abschrift.
Eine letzte Ergänzung ist der Buchausgabe unter dem Titel »Nachschrift der Nachschrift« beigefügt (DKV 97-100). Von diesem der Datierung nach im Dezember verfassten Text, mit dem Handke sich weiterer Ereignisse seiner Reise erinnert, liegt kein Bleistiftmanuskript im Original vor. Die Erzählung in der Buchausgabe schließt mit der Datumsangabe »Juni – Dezember 2008«. Eine Druckfahnenkorrektur kann mangels erhaltener Fahnen noch im Dezember, möglicherweise im Jänner 2009 angenommen werden.
Veröffentlichung und Rezeption
Im März 2009 wurde das Buch in der Erstauflage ausgeliefert, eine Skandalisierung des Texts in der medialen Öffentlichkeit blieb im Unterschied zu den vorangehenden »Jugoslawien-Texten« Die Tablas von Daimiel, Rund um das Große Tribunal oder Unter Tränen fragend, weitgehend aus. (ck)
Mit Dank an Thomas Deichmann für seine Unterstützung und die zur Verfügung gestellten Fotografien
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Die Kuckucke von Velika Hoča (Textfassung 1)
Bleistiftmanuskript, 39 Blatt, 30.06.2008 bis [07].11.2008 -
Die Kuckucke von Velika Hoča
Typoskript 2-zeilig, Abschrift fremder Hand, Exemplar von Raimund Fellinger, 62 Blatt, ohne Datum -
Die Kuckucke von Velika Hoča. Eine Nachschrift
Typoskript 2-zeilig, Abschrift fremder Hand, Original und Kopie, Exemplar von Peter Handke, 63 Blatt, 04.11.2008 bis 07.11.2008 -
Die Kuckucke von Velika Hoča. Eine Nachschrift
Druckfahnen, Exemplar von Raimund Fellinger, mit Bleistiftkorrekturen, 47 Blatt, ohne Datum