|  [2/ S. 224:]  Als Ausgangspunkt seiner Studie benennt der Verfasser ein schwerwiegendes Desiderat der jüngeren wissenschaftlichen Auseinandersetzungen
                           mit Fragen der Editionsphilologie. »Versuche, den Vorgang Textkritik zu erforschen«, so Graber, »bleiben meistens im Feld
                           der konkret zu lösenden editorischen Aufgaben. Eigentliche Theorien der Textkritik gibt es ungeachtet der langen Tradition
                           noch nicht.« (S. 8, vgl. auch S. 23) Richtig an dieser Feststellung ist, daß sich die größere Zahl neuerer editionsphilologischer
                           Publikationen, sei es in themenbezogenen Sammelbänden, sei es in den einschlägigen Zeitschriften (»editio«, »Text - Kritische
                           Beiträge«) und Buchreihen (»Beihefte zu editio«), kaum über die Vorstellung und Diskussion einzelner projektierter Ausgaben
                           und deren textkritischer Prinzipien wie auch Probleme erhebt. Verschwiegen wird dabei vom Verf. freilich, daß gerade während
                           der letzten Jahre mehrere Versuche unternommen worden sind, auf der Grundlage der beinahe unüberschaubar gewordenen diesbezüglichen
                           Veröffentlichungen ein - auch theoretisch fundiertes - Resümee zu ziehen, auf Klaus Kanzogs »Einführung in die Editionsphilologie
                           der neueren deutschen Literatur« (Berlin: Schmidt 1991) und insbesondere Herbert Krafts Band »Editionsphilologie« (Darmstadt:
                           Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990), eine überarbeitete Fassung seiner grundlegenden früheren Abhandlung »Die Geschichtlichkeit
                           literarischer Texte - eine Theorie der Edition« (Bebenhausen: Rotsch 1973) sei verwiesen. An diesen Beiträgen - auch und gerade
                           weil Graber sie als defizitär bewertet - werden die Bedeutung der vorliegenden Studie und der hohe Anspruch ihres Verf. zu
                           messen sein. Die ersten vier Abschnitte des Bandes sind auf abstrakter Ebene den »Ansätze[n] zu einer Theorie der Textkritik« gewidmet,
                           während ein abschließender fünfter die allgemeinen Einsichten anhand dreier Bände aus der »Kriti- [2/ S. 225:]  sche[n] Ausgabe der Werke und Briefe« Johann Heinrich Pestalozzis, an denen Graber als Mitherausgeber beteiligt gewesen ist,
                           praktisch veranschaulichen soll. Bereits hier wird eine darstellungstechnische Schwäche der Studie augenfällig. Während Kraft
                           in seiner »Editionsphilologie« differenziert argumentierte und pointiert formulierte theoretische Positionen hinsichtlich
                           textkritischer Fragestellungen stets mit ausführlichen Sammlungen von Beispielen aus den unterschiedlichsten Ausgaben der
                           jüngeren Fachgeschichte (übrigens in der Minderzahl aus den von ihm selbst verantworteten Editionen) verbindet, kann Graber
                           die von ihm vertretenen Positionen aufgrund der schmalen Materialbasis doch nur zu geringen Teilen und punktuell illustrieren.
                           Eine Beschränkung auf die theoretischen Teile wäre demnach vermutlich überzeugender gewesen. Den Gegenstand des ersten Kapitels der Untersuchung bildet - nach einem knappen, für die frühe Neuzeit lückenhaften Abriß
                           der Geschichte der Textkritik - ein von Graber entworfenes Modell für »den komplexen Vorgang des Edierens« (S. 34) mit der
                           Bezeichnung »editorisches Quadrat«. An jeder von dessen vier Ecken legt Graber jeweils eine von vier zentralen Arbeitstechniken
                           für die Erstellung einer Ausgabe ab. Die beiden ersten von ihnen gehören dem Bereich der Textkonstitution an, zum einen der
                           »Befund«, »das Feststellen einer editorischen Gegebenheit, welches dem Anspruch auf intersubjektive Nachprüfbarkeit genügen
                           kann« (S. 35), zum anderen die »Deutung«, »das Auslegen der editorischen Gegebenheit«, welches das genannte Kriterium nicht
                           zu erfüllen vermag (S. 36). Die beiden anderen Ecken des Quadrats beziehen sich auf die Gestaltung der Paratexte von Ausgaben
                           (Apparate, Kommentare, Register); hier unterscheidet der Verfasser die »Dokumentation«, »die sich exklusiv an der editorischen
                           Gegebenheit orientiert«, und die »Lesbarkeit«, welche die Gestaltung einer Edition nach den jeweiligen Rezipienteninteressen
                           ausrichtet (S. 36). Die vier Ecken des Quadrats bilden prinzipielle, im Fall einer jeden Ausgabe unterschiedlich genutzte
                           Möglichkeiten des textkritischen Zugriffs. »Jeder Editor nimmt im beschriebenen Spannungsfeld des editorischen Quadrats eine
                           Position ein, d. h. er versteht den einen Faktor anders als ein anderer Editor, er behandelt den einen Faktor gar nicht oder
                           er nimmt eine andere Gewichtung vor.« (S. 37) Darüber hinaus ordnet der Verfasser den beiden vertikalen Achsen der von ihm
                           entworfenen geometrischen Figur zwei neuere Richtungen der Textkritik zu. Befund und Dokumentation stünden tendenziell bei
                           der Textologie (vertreten etwa durch Siegfried Scheibe), Deutung und Lesbarkeit bei der hermeneutischen Editionsphilologie
                           (beispielsweise durch Kraft oder Gunter Martens repräsentiert) im Vordergrund.
                         Der Verfasser entscheidet sich explizit für eine Präferenz der ersteren Richtung der Textkritik und verlagert in den Kapiteln
                           zwei bis vier sein Interesse von der Rekonstruktion diverser grundlegender editorischer Verfahrensweisen hin zur Darlegung
                           eines abstrakten Regelsystems für die textologische Arbeit. Er befaßt sich mit der Definition der zu edierenden Texte und
                           ihrer einzelnen Teile und Versionen, mit der Anordnung der Texte in einer Werkausgabe, mit der Gestaltung von Apparaten, Kommentaren
                           und Registern und schließlich mit [2/ S. 226:]  Fragen der Publikation, Distribution und Konsumtion von kritischen oder historisch-kritischen Ausgaben. Grabers besonderes
                           Bemühen gilt dabei der Ausdifferenzierung einer einheitlichen, präzise definierten und teilweise neologischen Terminologie
                           (die sich auch in einem Glossar am Schluß des Bandes zusammengefaßt findet). Ob die Notwendigkeit der Ersetzung eingespielter
                           Begriffe wie »edierter Text«, »Fassung« oder »Variante« durch »Texteinheit«, »Textfassung« oder »Textschicht« besteht, kann
                           freilich bezweifelt werden, nicht zuletzt deswegen, weil erstere durch Kanzog, Kraft, Scheibe, Winfried Woesler und andere
                           wichtige Vertreter der Editionsphilologie in den letzten Jahrzehnten durchaus klar und eindeutig, wenn auch nicht mit Grabers
                           beinahe mathematisch-formelhafter Akkuratesse, bestimmt worden sind. Die Frage der Berechtigung der terminologischen Neuerungen
                           stellt sich darüber hinaus um so dringlicher, als die von Graber inhaltlich vertretenen editionsphilologischen Positionen
                           über weite Strecken den common sense der gegenwärtigen Diskussion in der Forschung wiedergeben, so wenn er zum Beispiel fordert, daß alle vorliegenden Fassungen
                           eines Textes von dessen Herausgeber als gleichwertig einzustufen seien, auch wenn der Autor eine von ihnen selbst verworfen
                           oder die Zensur in eine von ihnen eingegriffen habe (vgl. S. 60 und 64). Auf der anderen Seite verleiten die terminologischen Distinktionen den Verfasser an manchen Stellen zu fragwürdigen oder in
                           sich inkonsistenten editionsphilologischen Positionen. Hinsichtlich der Anordnung der Texte innerhalb einer Werkausgabe etwa
                           schlägt Graber eine Aufteilung in sechs separate Reihen vor. Die Klassifizierung erfolgt mittels der Kriterien der Textsortenzugehörigkeit
                           und der Form der Publikation (vgl. S. 110-114). Da, so wird argumentiert, die üblichen Kategorisierungen nach literarischen
                           Gattungen aus textlinguistischer Sicht nicht zu halten seien, müßten die einzelnen Werke eines Autors innerhalb einer Ausgabe
                           unterteilt werden in jene, die eine explizite Textsortenbezeichnung trügen, und jene, die einer solchen entbehrten, und in
                           zwei verschiedene Reihen, jeweils chronologisch geordnet, abgestellt werden. (Dies würde etwa zur Konsequenz haben, daß zwei
                           publizierte Sonettzyklen eines Autors, wenn nur einer von ihnen die explizite Textsortenbezeichnung »Sonett« trägt, in zwei
                           verschiedenen Reihen einer Ausgabe ediert werden müßten.) Hinsichtlich der Form der Publikation unterscheidet Graber »anonymische«
                           Texte (zu Lebzeiten gedruckt), »onymische« (ungedruckt, jedoch an einen konkreten Adressaten gerichtet, also offenbar vor
                           allem Briefe, vgl. S. 84) und »nachgelassene«. In den beiden Reihen mit onymischen Werken würden dann die Texte »mit vom Autor
                           explizit benutzten Textsorten« von denen »ohne Bezeichnung der Textsorten« (S. 113) getrennt ediert werden. Wie freilich eine
                           Korrespondenz anhand dieses Kriteriums sortiert werden soll, bleibt dunkel - und wird vom Verfasser auch nicht anläßlich seiner
                           Ausführungen über die praktische Arbeit an einem Briefband der Pestalozzi-Ausgabe erläutert.
                         Die zum Teil fragwürdigen, schiefen oder nicht nachvollziehbaren Konsequenzen aus den editionsphilologischen Konzepten des
                           Verfasser weisen auf ein [2/ S. 227:]  gravierendes Problem in dessen eigener Positionierung innerhalb des »editorischen Quadrats« zurück. Die Bemühungen um scharfe
                           Definitionen und abstrakte Klassifikationen mittels spezifischer, einzelner Kriterien ergeben sich aus Grabers strikter Ablehnung
                           jedweder hermeneutischen oder interpretatorischen Arbeitstechniken in der Textkritik. Vertretbar erscheint ihm allein der
                           »Befund«, die »editorische Gegebenheit«, unvertretbar hingegen die »Deutung«, der er nicht bloß »intersubjektive Nachprüfbarkeit«
                           (S. 36) abspricht, sondern die er auch polemisch mit Begriffen wie »Erraten« und »Enträtseln« (S. 27) gleichsetzt. Der Verfasser
                           übersieht dabei freilich, daß sich zum einen die heutige, von ihm als »hermeneutisch« bezeichnete Editionsphilologie (wenigstens
                           zum größten Teil) längst von der ingeniösen Konjekturalkritik des 19. Jahrhunderts verabschiedet hat, und daß zum anderen
                           »editorische Gegebenheiten« schlichtweg nicht existieren. Jede Transkription eines handschriftlichen Autographen, jede Unterscheidung
                           einzelner Textfassungen, jede Emendation und jede Worterklärung im Stellenkommentar basiert auf interpretatorischen Akten
                           - und stellt nicht einfach die Wiedergabe von ›gegebenen‹ Fakten dar. Dies sei am Beispiel von Grabers Einlassungen zu den
                           Sacherläuterungen einer Edition erläutert. Um dabei, so stellt er fest, »nicht bereits dem Argument [sc. Krafts, vgl. «Editionsphilologie»,
                           S. 185] ausgeliefert zu sein, bereits die Auswahl der zu erläuternden Lemmata sei subjektive interpretatorische Arbeit«, müsse
                           dem Prozeß der Kommentierung eine »Matrix« mit Form und Inhalt des zu erstellenden Kommentars zugrundegelegt werden (S. 140).
                           Dabei seien die Erläuterungen auf »allgemeine kulturhistorische Fakten« zu beschränken und Hinweise auf intertextuelle Bezüge
                           oder ästhetische Gestaltungsmittel auszusparen, weil diese persönliche Deutungen der Herausgeber darstellten (S. 142f.). Es
                           sei nur nebenbei bemerkt, daß damit Krafts Argument keineswegs widerlegt wird und es ohnehin zum Standard jeder niveauvollen
                           Edition gehört, die Anmerkungen anhand einer elaborierten Matrix auszuarbeiten. Wichtiger ist: Die vorgeblich interpretationslose
                           Kommentierung eines Textes mit »allgemeine[n] kulturhistorische[n] Fakten« läuft - ein polemisches Beispiel sei gestattet
                           - auf die hinlänglich bekannte, unsinnige Erläuterungspraxis einiger ärgerlicher Editionen hinaus, zu einer Stelle in einem
                           Text aus dem 18. Jahrhundert, an der eine Figur als »ein wahrer Sokrates« charakterisiert wird, die treffliche Auskunft mitzuteilen:
                           »Sokrates, griech. Philosoph, 470-399 v. Chr.«, statt den Lesern (natürlich interpretatorische) Informationen über den historischen
                           Wissenshorizont der Textstelle und die spezifische zeitgenössische Sokrates-Rezeption zu liefern. Der Verfasser erliegt, wie
                           sich zeigt, dem fatalen Mißverständnis, Interpretation und Subjektivität gleichzusetzen. Interpretationen sind aber nicht
                           per definitionem subjektiv (dies sind nur manche von ihnen im schlechtesten Fall), sondern theoriegeleitet - und somit intersubjektiv durchaus
                           nachvollziehbar und diskutierbar. Anders und allgemein gesprochen: Grabers »Theorieansätze« können nicht nur mit den vorliegenden neueren Gesamtdarstellungen
                           zur Textkritik keineswegs konkurrieren, sondern sie fallen stellenweise sogar weit hinter das in der Forschung bereits erarbeitete
                           Diskussions- und Argumentationsniveau zurück. [2/ S. 228:]  Mehr noch: Dort, wo sich der Verfasser bislang tatsächlich zu wenig in der Literaturwissenschaft thematisierten Fragen der
                           Editionsphilologie widmet, vor allem in seinen Ausführungen zu Distribution und Konsumtion von kritischen Ausgaben, bleibt
                           seine Darstellung weitgehend in nichtssagenden Allgemeinformulierungen stecken. Zu Gerhard Seidels Feststellung, daß mit der
                           Publikation einer Edition »›in jedem Falle literarhistorische und weltanschauliche Bewertungen verbunden‹« seien, bemerkt
                           der Verfasser spöttisch: »Nähere Erläuterungen hierzu fehlen [...] oder werden umschifft.« (S. 174) Das von Graber zu dieser
                           Fragestellung wenig später gezogene Fazit lautet, daß er »Möglichkeiten zur Begründung der These« sehe, »daß gesellschaftliche
                           und wirtschaftliche Momente die Herstellung einer HKA mitbestimmen und mitbedingen und somit in einer Theorie der Textkritik
                           Relevanz beanspruchen.« (S. 176) Der Gegenstand wird hier nicht weniger »umschifft«, wenn auch mit vielleicht eleganteren
                           Formulierungen. Die vorliegende Studie dürfte mithin, diese Prognose sei gewagt, kaum entscheidende neue Anregungen für die gegenwärtige und
                           künftige textkritische Diskussion liefern und kann, diese Empfehlung sei erlaubt, getrost in der Handbibliothek eines jeden
                           editionsphilologisch tätigen Literaturwissenschaftlers fehlen. Insofern ist es denn auch nicht als Mangel zu betrachten, daß
                           der Band weder über ein Personen- noch ein Sachregister verfügt.
                         Ralf Georg Bogner |  |