Entstehungskontext

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Erste Reise, 30.3.-2.4.1999

Der sogenannte Kosovokrieg zwischen der Bundesrepublik Jugoslawien und der NATO (Handke bezeichnet ihn als »Jugoslawienkrieg«, UT 9) begann am 24. März 1999 als direkte Folge gescheiterter Verhandlungen zwischen Serben und Kosovaren im französischen Rambouillet. Zweimal begab sich Handke kurz darauf, zuerst in Begleitung von Zlatko Bocokić und bei der zweiten Fahrt auch von Thomas Deichmann, in das Kriegsgebiet.

Die »Karwochenreise«, die als Grundlage für das erste Buchkapitel von Unter Tränen fragend diente, fand, Handkes Datierungsangabe im Buch zufolge, vom »Dienstag, 31. März bis zum Freitag, 3. April 1999« (UT 7) statt. Dem Kalender entsprechend war der 31. März aber ein Mittwoch, der 3. April ein Samstag. Der Reiseverlauf müsste daher korrekt mit Dienstag, 30. März bis (Kar-)Freitag, 2. April datiert werden. Es liegt nahe, dass sich Handke schlichtweg bei der nachträglichen Datierung geirrt hat, während die Richtigkeit der Wochentage durch mehrere Hinweise belegbar ist: Der Besuch des russischen Außenministers Primakov in Bonn fand am Dienstag, 30. März 1999 statt. Bei Handke berichten die »CNN-Kanäle« (UT 26) darüber am 1. April, was sehr unwahrscheinlich ist, es musste also Mittwoch, der 31. März gewesen sein. Das »Vorosterhuhn« (UT 63) bei den Eltern Zlatko Bocokićs aßen sie – schon aus Rücksicht auf den Karfreitag als strengem orthodoxen Fastentag – mit großer Sicherheit am Gründonnerstag, den 1. April, und nicht wie angegeben am 2. April (UT 53 bzw. 63). Zahlreiche Fotos, die Bocokić während der Reise anfertigte, weisen ebenfalls die korrekten Datumsangaben auf. Und zuletzt belegt eine Reportage im Magazin News (8.4.1999) den Reiseverlauf vom 30. März bis zum 2. April. Als Stationen sind im Text genannt: der Flug von Paris nach Budapest (UT 10-14), Palić (UT 24), Belgrad (UT 34-58), Porodin (UT 60-64), die Fruška Gora mit der Passhöhe Iriški Venac (UT 67-70) und Novi Sad (UT 70) sowie der Rückflug von Budapest nach Paris, der schließlich am Samstag, 3. April erfolgte (UT 73).

Handke begab sich am 30. März mit dem Flugzeug aus Paris zuerst nach Budapest, wo er mit Zlatko Bocokić zusammentraf, der mit dem Auto aus Salzburg gekommen war. Am Grenzübergang Horgoš überquerten sie die Grenze zwischen Ungarn und Serbien und blieben bis zum 31. März in Palić über Nacht. Am Morgen brachen sie, aufgrund von Straßensperren und Umleitungen über Subotica, Inđija und Ruma, nach Belgrad auf, das »noch gut 200 Kilometer« (UT 28) südwärts liegt. Nach einer Rast in »einem niemandslandartigen Zwickel zwischen Autobahn, Zu- und Abfahrtsstraßen« (UT 34) nahmen sie einen weiteren Umweg über den Belgrader Vorort Zemun. Erst in der »Abenddämmerung« beschreibt Handke die Ankunft im Zentrum der Stadt und im Hotel Moskwa (UT 37), wo sie von Boris Iljenko, dem jugoslawischen Kulturattaché in Paris, erwartet wurden (UT 41), mit dem sie durch das nächtliche Belgrad spazierten und in Novi Beograd mit dem Theaterregisseur Ljubiša Ristić zusammentrafen.

Am Morgen des 1. April besuchte Handke den »Zeleni Venac«, den Grünmarkt (wo er – in Anspielung auf den Essay Eine winterliche Reise – erneut »andersgelbe Nudelnester« kaufte, UT 50) und wanderte durch die Stadt, zuerst alleine, später auch mit Zlatko Bocokić. Am »frühen Nachmittag« gingen sie zum Trg Republike, auf dem während der Kriegstage Konzerte und Kundgebungen stattfanden und wo Handke aufgrund seiner Stellungnahme zum NATO-Bombardement um Autogramme gebeten wurde. Am Nachmittag des 1. April verließen Bocokić und Handke Belgrad und fuhren weiter in das Dorf Porodin, mit einem kurzen Halt in einer »Kurvengaststätte« (UT 61), kurz vor dem Ziel. In Porodin waren sie zu Gast bei den Eltern Zlatko Bocokićs, bei »Vorosterhuhn und erztrübem Eigenbauwein« (UT 63). Am folgenden Karfreitag, den 2. April brachen sie früh wieder auf, wieder auf der Strecke an Belgrad vorbei und durch Umleitungen bedingt »in den langgezogenen Lehmrücken der Fruška Gora« hinein, über die Passhöhe Iriški Venac (UT 67) und vorbei an Novi Sad zurück nach Ungarn.

Reaktionen auf die »Karwochenreise«

Das Wiener Nachrichtenmagazin News berichtete in seiner Ausgabe vom 8. April 1999 mit einer ausführlichen Reportage von Heinz Sichrovsky und Andrea Pascher über den gesamten Reiseverlauf. Dazu war ein am 6. April handschriftlich verfasster Leserbrief von Peter Handke abgedruckt, in dem dieser seinen Austritt aus der katholischen Kirche und die Rückgabe des Büchner-Preises ankündigte, aus Protest gegen die Haltung katholischer Bischöfe zum Krieg gegen Jugoslawien, wobei er sich unter anderem auf eine Ausgabe von Le Monde am Ostersonntag, den 4. April bezog. Der Brief war auch in der Frankfurter Rundschau am 9. April veröffentlicht. Ein weiterer Leserbrief Handkes war am 16. April in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel »Slawes Bruder« zu lesen, in der dieser auf die »herrlich verdrehte Berichterstattung« zu seiner Karwochenreise reagierte.

Zweite Reise, 23.-30.4.1999

Am Tag der Fertigstellung des ersten »Reiseberichts« fuhr Handke am 22. April 1999 von Wien nach Salzburg, von wo er am 23. April zusammen mit Zlatko Bocokić und Thomas Deichmann mit dem PKW zu seiner »zweiten Kriegsreise durch Jugoslawien« aufbrach. Über Kärnten (wo die Gruppe Gustav Januš besuchte), Slowenien, Kroatien gelangten sie am Grenzübergang Bosanska Gradiska in die Serbische Republik in Bosnien-Herzegowina, wo sie in Banja Luka übernachteten. Dort kam es, Deichmann zufolge, zu einem Treffen und einem Streit mit Valentin Inzko, der zu dieser Zeit österreichischer Botschafter in Sarajevo war. Am 24. April trafen sie sich dort zuerst mit dem katholischen Bischof »Franjo K., einem Angehörigen der kroatischen Minderheit« (UT 96) und anschließend mit der »alten Mutter eines in Wien ansässigen bosnischen Serben« (UT 96). 

Nach diesen Besuchen fuhren sie weiter über Prnjavor »an Derventa und Doboj vorbei« (UT 100) über Tuzla in der Föderation Bosnien-Herzegowina und wieder über die Grenze zur Republika Srpska nach Zvornik am Grenzfluss Drina. Die Brücke nach Mali Zvornik in Serbien war »friedlich besetzt« im Rahmen einer der Kundgebungen gegen die NATO-Bombardements. In Bratunac nächtigte die Gruppe zum zweiten Mal, im Hotel »Fontana« (UT 106). Am Vormittag des 25. April in Srebrenica besuchte Handke den Sonntagsgottesdienst in der orthodoxen Kirche, unterhielt sich mit Bewohnern auf der Straße und mit dem »fast schon befreundeten Ortsverwalter« (UT 107). Am frühen Nachmittag fuhren sie »endlich ins bekriegte Land, über die Drinabrücke zwischen Bratunac (Bosnien) und Ljubovija (Serbien/Jugoslawien)« (UT 112). Sie nahmen die Route nach Belgrad mit einem Zwischenaufenthalt in Šabac an der Sava. Zu der Einfahrt nach Belgrad konstatiert Handke »merkwürdige Erinnerungslosigkeit [...] [a]uch von Beograd selber dann, vom Hotel "Metropol", von dem "Panoramablick" aus dem 6. oder 7. Stockwerk dortselbst, kein Bild« (UT 114-115). Den Abend verbrachten sie nach Angaben Thomas Deichmanns in der Kneipe »Roter Stern Belgrad«.

Die Abreise am 26. April (»1. Tag unserer sogenannten Kriegsschadenreise«, UT 115) verzögerte sich wegen der Beisetzung getöteter RTS-Journalisten. Handke traf Vertreter des serbischen Schriftstellerverbandes. Danach reisten sie im Kleinbus (»mit leider dunklen Seitenfenstern«, UT 115) in Begleitung eines Mitarbeiters des Militärpressezentrums bzw. Innenministeriums (»Dragan P.«) zuerst nach Kragujevac zur zerstörten Zastava Autofabrik und einem zerbombten Heizkraftwerk. »Weiter südwestwärts« kam die »Delegation« (UT 119) nach Kraljevo »und danach ins vielbesungene Tal des Ibar« (UT 120), über Bogutovac nach Studenica. Handkes Datumsangaben im Reisebericht sind im Buch widersprüchlich, so folgt auf die Abfahrt vom »26. April 1999« (UT 115) ein Sprung zur »Dämmerung des 27. April 1999« (UT 123), darauf der Morgen des »28. April 1999« (UT 126) und danach wieder die Angabe des »27. April 1999« (UT 142). Richtigerweise müssten sie vom 26. auf den 27. April beim Kloster Studenica geblieben sein. Am Morgen des 27. April nahm Handke am Gottesdienst im Kloster teil, bevor die Gruppe Richtung kosovarischer Grenze weiterfuhr. Diesen Tag nennt Handke den »längste[n] und ereignisreichste[n] unserer Jugoslawien-Kreuzfahrt« (UT 129). Die weiteren Stationen waren das Schigebiet am Kopaonik-Gebirgszug, Kruševac, wo sie nachmittags noch zur Familienfeier des von dort stammenden Reisebegleiters Dragan P. geladen waren, und zuletzt am »späten Nachmittag« (UT 142) Aleksinac und Cuprija. Im Bericht erwähnt ist noch der Halt an einer »in ganz Serbien berühmten Gaststätte« (UT 144), am Abend des 27. April kehrten sie nach Belgrad zurück (»Besichtigungsprogramm abgekürzt«, UT 144), es ist die »zweite Nacht, während dieser Kreuz- und Querfahrt, in der jugoslawischen Hauptstadt« (UT 145).

»Am nächsten Morgen«, also am 28. April, kam es zu einem Wiedersehen mit Boris Iljenko. Anschließend absolvierte Handke, nach Angaben Deichmanns, verschiedene Besuche und Treffen in Belgrad, unter anderem mit dem jugoslawischen Außenminister Živadin Jovanović. »Am Abend in der Wohnung der Malerin Oja I.« (UT 147) erwartete man bereits die Bombardierungen der kommenden Nacht zum 29. April, die Handke wieder im Hotel Metropol verbrachte. Am Morgen ging Handke noch zum nahe gelegenen, »vor etwa zwei Wochen zerbombten TV-Gebäude« (UT 150), ein Ereignis, das in seiner späteren Erzählung Die Geschichte des Dragoljub Milanović in den Mittelpunkt rückte. An dieser Stelle nennt Handke wiederum – im Widerspruch zur Erzählchronologie – den »28. April 1999« als Datum. Über die Donaubrücke Pančevo reisten sie am 29. April ab, vorbei an Novi Sad, wo sie bei der »Rast in einem vojvodischen Straßendorf« (UT 153) jene Ärztin trafen, die zum Vorbild für die titelgebende Begegnung für Unter Tränen fragend wurde (UT 154). Durch die Vojvodina kehrten sie über Ungarn nach Wien zurück, wo sie Handkes Frau Sophie Semin und deren gemeinsame Tochter Léocadie trafen, ehe Handke mit der Familie nach Paris zurückkehrte.

Erste Textfassungen

»Am Karsamstag, dem 4. April 1999« (richtig wäre der 3. April, Anm.) beschreibt Handke den Rückflug von Budapest nach Paris und seinen dabei getroffenen Entschluss »diese Augenblicke der Reise festzuhalten« (UT 70). Die erste Textfassung schrieb er als Bleistiftmanuskript in ein spiralgebundenes Notizbuch in der Zeit vom 13. bis zum 22. April nieder. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese »Notate im Nachhinein«, entgegen der Behauptung Handkes, auf während der Reise entstandenen Notizen beruhen. Teile aus diesem ersten Kapitel erschienen am 5./6. Juni in der Süddeutschen Zeitung. Die Aufzeichnungen zur zweiten Kriegsreise notierte er erneut mit großem zeitlichem Abstand zur Reise selbst, erst »vom 20. Mai bis zum 2. Juni 1999« (UT 158). Beide Teile seiner »Notate im nachhinein« führte Handke zu einer zweiten Textfassung zusammen, wie er an seinen Verleger Siegfried Unseld am 20. Juli schreibt: »Ich habe in den letzten Wochen die Im-nachhinein-Notate von den zwei (2) Kriegsfahrten durch Jugoslawien abgetippt (mich dauernd vertippt, wie noch nie). Es sind etwa 100 Seiten, Titel "Unter Tränen fragend". Für die Zeitung(en) ist es eher nichts – weil nicht aktuell, im Aktuell-Sinn, schon seinerzeit nicht.« (Handke / Unseld 2012, S. 694) Diese zweite Fassung dürfte auch als Vorlage für die Druckfahnen gedient haben.

Druckfahnen

Die Herstellungsabteilung des Suhrkamp Verlags datierte den ersten Lauf der Fahnen mit dem 7. Dezember 1999. Handke erhielt sein Exemplar bereits sowohl mit Einträgen der Hauskorrektur als auch seines Lektors Thorsten Ahrend, das Datum hierzu ist nicht ermittelt. Eine Vorbemerkung zum Buch notierte Handke auf den Druckfahnen am 20. Dezember, in der er über seine Korrekturen schreibt: »[...] Beim Korrekturlesen (im Dezember 1999) habe ich höchstens vereinzelte Wörter gestrichen oder hinzugesetzt oder geändert; nirgends einen ganzen Satz. [...]« (UT [5]). Da Ahrend eine kollationierte Fassung der Korrekturen am 23. Dezember an die Herstellung retournierte, ist anzunehmen, dass Handke seine Arbeit am 20. Dezember abgeschlossen hatte.

Veröffentlichung

Nach der Rückkehr von seiner Karwochenreise reagierte Handke auf die »herrlich verdrehte Berichterstattung« (Schlagzeile: »Aroma des Krieges«) in der Süddeutschen Zeitung mit einem Leserbrief, der unter dem Titel Slawes Bruder. Ein kurzer Brief zum langen Krieg am 16. April erschien. Den Originalbrief schickte er am 12. April an seinen Verleger Siegfried Unseld, als »was Kleines zum Lesen«, zugleich erkundigte er sich nach dem Erscheinen von Die Fahrt im Einbaum: »Bekomme ich das Stückbuch bald?« – es erschien, den Verlagsangaben zufolge, am 28. April oder am 3. Mai 1999. Die Uraufführung fand am 9. Juni im Burgtheater Wien statt (Handke / Unseld 2012, S. 690-695). Unter dem redaktionellen Titel Der Krieg ist das Gebiet des Zufalls erschienen Teile des ersten Kapitels von Unter Tränen fragend in der Süddeutschen Zeitung vom 5./6. Juni 1999. Wenige Wochen später, am 23. Juni, veröffentlichte der Suhrkamp Verlag den von Thomas Deichmann herausgegebenen Band Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke, der Rezensionen, Kommentare und Interviews zu den beiden Essays Eine Winterliche Reise und Sommerlicher Nachtrag versammelte. Hintergründig präsent ist der Krieg auch in Handkes Erzählung Lucie im Wald mit den Dingsda, die am 27. Juli erschien.

Am 20. Juli äußerte Handke gegenüber Unseld den Vorschlag, den Text nicht bei Suhrkamp zu publizieren, um den Verlag nicht »in eine neue schiefe Lage« zu bringen. Am 26. Juli wandte er sich erneut an Unseld mit der Frage, ob man »das Ganze vorderhand doch auf sich beruhen (?) lassen« solle: »Die Notate der 2. Fahrt sind völlig ungelesen« und »sie müssen keineswegs ein Buch werden.« (Handke / Unseld 2012, S. 696) Das Buch erschien dennoch, am 29. März 2000 mit dem Untertitel Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im Krieg, März und April 1999. Entgegen seinen ursprünglich vorgebrachten Zweifeln betonte Handke am 10. April 2000: »Es war doch recht, "Unter Tränen fragend" als Buch in die Welt oder sonstwohin zu bringen.« (Handke / Unseld 2012, S. 703) (ck)

Wir danken Thomas Deichmann für seine persönliche Auskunft.

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