Entstehungskontext

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Lucie im Wald mit den Dingsda ist Peter Handkes erstes Kinderbuch. Er schrieb die Geschichte für seine damals siebenjährige Tochter Léocadie in der Zeit zwischen Dezember 1998 und Jänner 1999 in seinem Haus im Pariser Vorort Chaville. Das Buch erschien am 27. Juli 1999 im Suhrkamp Verlag, illustriert mit elf farbigen, von Handke selbst angefertigten Skizzen und Fotos.

Konzeption

Über die Idee zur Geschichte und die Entwicklung des Schreibprojekts lässt sich nur wenig sagen. Die dafür notwendigen Quellen sind entweder (wie Handkes Notizbücher aus dem betreffenden Zeitraum) der Öffentlichkeit noch nicht zugänglich oder sie enthalten (wie die öffentlich zugänglichen Korrespondenzen mit dem Verlag oder mit Freunden) dazu keine relevanten Informationen – mag sein, weil zu der Zeit das meiste nicht mehr in Briefen mitgeteilt, sondern telefonisch besprochen wurde (Handke / Unseld 2012; Handke / Kolleritsch 2008). Die Geschichte selbst lässt an mögliche Entstehungshintergründe denken. Die darin angedeutete Differenz zwischen den Eltern von Lucie, der Heldin der Geschichte, könnte auf die sich Ende der 1990er-Jahre abzeichnende Trennung Handkes von seiner Frau Sophie Semin Bezug nehmen.

Zentrales Motiv in der Geschichte des Mädchens Lucie sind die Pilze, die ab Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) in Handkes Werken immer wieder vorkommen, etwa in der zwei Jahre vor Lucie erschienenen Erzählung In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus, in welcher der Apotheker über einen besonderen Geruchssinn für Pilze verfügt. Der Plot der Pilz-Geschichte könnte auch, wie Handkes langjähriger Freund, der manuskripte-Herausgeber Alfred Kolleritsch, in einem Gespräch erzählte, von dessen Erlebnis als Jugendlicher angeregt worden sein. 1944 sammelte Kolleritsch zusammen mit seinem neunjährigen Bruder für den amtierenden Arzt der Stellungskommission einen Korb Pilze (dessen Leibspeise), um seinen Vater damit (erfolgreich) vor der Einberufung zu bewahren. In Handkes Geschichte sammelt Lucie Pilze (die Leibspeise des Königs), um ihren Vater erfolgreich aus der Todeszelle zu befreien.

Erste Textfassung (Dezember 1998)

Am 15. Dezember 1998 begann Handke mit der Arbeit an der ersten Textfassung. Am 25. Dezember, zehn Tage später, hatte er ein Bleistiftmanuskript mit einem Umfang von 30 Blatt fertiggeschrieben. Der Untertitel von Lucie im Wald mit den Dingsda lautete »Geschichte für ein Kind«.

Das Stück zum Film vom Krieg

Zuvor hatte er das ganze Jahr 1998 an seinem Jugoslawienkriegsstück Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg gearbeitet. Ende Dezember, mit dem Schreibbeginn an Lucie, war das Stück bereits in den Druckfahnen, an denen Handke aber noch bis Anfang Jänner 1999 Änderungen vornahm. Die Herstellung des Buches, das am 3. Mai 1999 erschien, und die Proben am Stück, das unter der Regie von Claus Peymann am 9. Juni 1999 im Burgtheater Wien uraufgeführt wurde und in dem auch Sophie Semin mitspielte, liefen somit parallel zur Herstellung von Lucie.

Das ist insofern interessant, als der Krieg im ehemaligen Jugoslawien in der Geschichte des Mädchens Lucie zwar vordergründig keine Rolle spielt, aber im Hintergrund oder in kleinen Anspielungen doch; wenn zum Beispiel am Schluss gesagt wird, dass Pilze »die Gegenstücke zu Granaten oder sonst etwas« (LWD 85) seien. Im Märchen ist in gewisser Weise »das Thema des Krieges und des Zusammenbruches der Ordnungen« (Kastberger 1999) präsent. Handkes Beschäftigung mit dem Krieg und sein von der Presse heftig kritisiertes Schreiben gegen die Kriegsberichterstattung der Medien beeinflussten auch die Entstehung und vor allem Rezeption von Lucie.

Zweite Textfassung (Dezember 1998/Jänner 1999)

Das Bleistiftmanuskript der ersten Textfassung tippte Handke wohl unmittelbar nach der Fertigstellung mit der Schreibmaschine ab. Das Typoskript der zweiten Textfassung (der Abschrift) unterscheidet sich inhaltlich kaum von der ersten Fassung. Es ist undatiert, muss aber in der Zeit zwischen 25. Dezember 1998 (dem Abschluss des Bleistiftmanuskripts) und 15. Jänner 1999 entstanden sein. An diesem Tag schickte Handke eine Kopie des Typoskripts an Siegfried Unseld mit den Worten: »hier mein neuestes unbekanntes Meisterwerk. Ich bin nicht unfroh drüber. Das hat vielleicht in meiner Reihe noch gefehlt, als Erweiterung; und für ein Kind zu schreiben – samt Zumutungen an den Kindleser und das Leserkind – hat mir auch einiges beigebracht für meine nächsten Meisterwerke (unbekannte) oder Sachen.« (Handke / Unseld 2012, S. 685) Der Untertitel von Lucie im Wald mit den Dingsda lautete in dieser zweiten Textfassung »Zumutung für ein Kind«.

Das Typoskript hatte er, wie aus dem Brief weiter hervorgeht, zuvor seinem Freund, dem Autor und Literaturkritiker Peter Hamm, gezeigt, der ihn in Chaville besucht hatte. Hamm hatte wiederum Michael Krüger, dem Leiter des Hanser Verlags, davon erzählt, der, da Hanser Kinderbücher verlegte, Interesse an der Geschichte zeigte. Suhrkamp hatte keine eigentliche Kinderbuchreihe im Programm. Handke fragte Unseld deshalb, ob er seine Geschichte überhaupt haben wolle: »Auch da bei Suhrkamp für dergleichen kaum Raum ist. Mach mir bitte Vorschläge. "Wir haben sie angenommen". Haben wir?« (Handke / Unseld 2012, S. 685)

Ein Antwortbrief fehlt. Unseld und Handke dürften alles Weitere am Telefon besprochen haben. Sie verabredeten für 31. Jänner 1999 ein Treffen in Madrid, wo sie, wie man aus Unselds Reisebericht erfährt, auch über Lucie sprachen: »Die Geschichte (Handke: "Es ist eine Geschichte") "Lucie im Wald mit den Dingsda" bleibt bei Suhrkamp. Er ist mit einem Halbleinenband, dem schmaleren, und der mitgegebenen Kolumne einverstanden. Freilich möchte er nicht Blau, sondern einen schönen Grauton.« (Handke / Unseld 2012, S. 686ff.)

In Madrid sprachen sie zudem über Handkes Lektor, Raimund Fellinger, von dem sich Handke enttäuscht zeigte, ohne dass in dem Reisebericht Gründe angeführt wurden. Er kümmerte sich scheinbar nicht ausreichend um den dokumentarischen Band zu Serbien, der Handke wichtig war und der in nächster Zeit erscheinen sollte. Die Herausgabe wurde nach dem Gespräch in Madrid deshalb Thomas Deichmann, einem Journalisten, der Handke bereits 1996 auf seinen Reisen durch Jugoslawien begleitet hatte, übertragen (Handke / Unseld 2012, S. 687). Der Band Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke mit Rezensionen, Kommentaren und Interviews erschien ein Monat vor Lucie, am 23. Juni 1999. In der Einleitung erklärt Deichmann, es ginge in dem Band darum, Autoren zu Wort kommen zu lassen, die »sich auf Handkes Betrachtung zu Jugoslawien einließen und sie nicht, wie überwiegend geschehen, ungelesen oder nur auf Stichworte absuchend als Transportmittel für eigene Ansichten benutzten« (Deichmann 1999, S. 13).

Satzvorlage (Ende Jänner bis Anfang März 1999)

Im Verlag wurden Ende Jänner/Anfang Februar 1999 zwei weitere Kopien der zweiten Textfassung von Lucie angefertigt. Beide Exemplare enthalten Anmerkungen und Korrekturen von Thorsten Ahrend, der statt Fellinger mit dem Lektorat der Geschichte betraut wurde. Der Lektorenwechsel hat einige Zeit in Anspruch genommen, denn erst am 9. März berichtete Ahrend Handke in einem gefaxten Brief über seine Lektüre von Lucie. Eine der beiden Typoskriptkopien diente bereits als Satzvorlage.

Für die Herstellung des Buches schickte Handke Unseld am 25. Februar 1999 »die Zeichnungs- und Bilderfolge für die Kindgeschichte«. Eine Zeichnung mit Vögeln »für den Umschlag« und elf weitere Bilder: eine Verzierung des Buchtitelblatts (Frontispiz), eine »Baumrinde«, ein unscharfes Foto, auf dem ein weiß gekleidetes Kind auf einem Hügel oder Berg zu sehen ist, eine »Fragezeichenzeichnung«, ein »Gebirge m. Auto und Olivenbaum«, ein »Erlenzweig«, »Waldboden«, »Zedernast«, ein »Boot«, »Schnee m. Vogelspur«, ein »[l]esendes Kind«. Zwischen den Bildern sollten immer 6-8 Seiten Text sein (Handke / Unseld 2012, S. 688-689).

Eine Kopie der zwei für Lucie bestimmten Fotos (das Kind im Gebirge und die Vogelspur im Schnee) klebte Handke auf einem drei Tage später, am 28. Februar 1999 geschriebenen Brief an Claus Peymann mit Anweisungen oder Hilfestellungen für die Annäherung an sein Stück. Der Brief wurde im Programmheft der Uraufführung von Die Fahrt im Einbaum abgedruckt. Die Verwendung der Fotos macht die parallele Entstehung beider Texte deutlich (vgl. LWD 21, 83 und Kastberger / Pektor 2012, S. 204).

Serbienreise

Am 24. März 1999 begannen die bis 10. Juni 1999 andauernden NATO-Bombardements von Serbien. Handke reiste in der Karwoche von 31. März bis 3. April, begleitet von Thomas Deichmann und Zlatko Bocokić (ein mit Handke noch aus der Salzburger Zeit befreundeter serbischer Maler) nach Belgrad und in weitere zerbombte Gebiete Serbiens. Ein Teil seiner nachträglichen Notizen zur Reise wurde am 5./6. Juni 1999 unter dem Titel Der Krieg ist das Gebiet des Zufalls in der Süddeutschen Zeitung abgedruckt. Von 13. bis 22. April reiste Handke noch einmal nach Serbien. Die Notate zur zweiten Belgradfahrt schickte Handke Unseld am 26. Juli 1999 (einen Tag vor dem Erscheinen von Lucie) mit der Frage, ob man sie nicht zusammen mit dem ersten Teil als Buch veröffentlichen sollte. Die Notizen beider Reisen wurden später im März 2000 mit dem Titel Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im Krieg, März und April 1999 veröffentlicht. (Ein Faksimile des Reisenotizbuchs und Fotos von den Serbienreisen sind abgedruckt in Kastberger / Pektor 2012, S. 206.)

Druckfahnen 1. Lauf (April 1999)

Die Druckfahnen wurden laut Verlagsstempel am 30. März 1999 imprimiert, Handke erhielt sie somit erst nach seiner Serbienreise. Die korrigierten Fahnen des ersten Laufs sandte er am 9. April, fünf Tage nach seiner Rückkehr nach Chaville, an den Verlag. Er fügte darin zu seinen Korrekturen auch mehrere kleine Textergänzungen ein. Er änderte den Schluss, indem er den Nachbarjungen Wladimir auftreten ließ, oder setzte ein zweites Motto an den Beginn der Geschichte – ein Zitat aus Dschalâl du-Dîn Rûmîs Buch Anthologie du soufisme, aus dem auch zwei Seiten mit Skizzen von Handke in Lucie abgedruckt sind (LWD 53, 60). Auf den Druckfahnen vermerkte Handke für Ahrend: »von mir aus keine Korrekturen mehr!« (ÖLA 326/W16, S. 1)

Druckfahnen 2. Lauf (April 1999)

Die am 22. April 1999 an Handke geschickten Druckfahnen des zweiten Laufs enthalten keine Korrekturen. In einer Notiz von Ahrend an Handke geht es um das bald erscheinende Leseexemplar, für das die Erzählung Ende April in Druck gehen musste, um die noch zu überprüfende Ausführung der Korrekturen, vor allem aber auch um die richtige Einsetzung der Skizzen und die Buchcoverrückseite, die leer bleiben sollte.

Erstausgabe und Sonderausgabe

Am 22. Juli 1999 berichtete Unseld Handke aus dem Urlaub, er habe das erste Exemplar von Lucie erhalten und werde es ihm schicken (Handke / Unseld 2012, S. 693ff.). Das Buch wurde fünf Tage später an den Buchhandel ausgeliefert. Handke erhielt dafür 2000 den Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis für das beste Kinderbuch. Am 15. März 2004 erschien eine Sonderausgabe von Lucie mit der Lesung des Gesamttextes von Peter Handke auf CD. (kp)

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