[1/ S. 153:] Im Unterschied zu den meisten anderen Literaturarchiven ist der Bestand des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar grundsätzlich
abgeschlossen und dem Prinzip der Anreicherung des Vorhandenen verpflichtet. Den Kern der Sammlungen des ältesten Literaturarchivs
Deutschlands bilden Nachlässe aus der Zeit der deutschen Klassik, vor allem die der beiden Namensgeber. Gegründet wurde das
Archiv im Jahr 1885 als Goethe-Archiv der Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar und Eisenach, in dessen Eigentum der Nachlaß
Goethes übergegangen war. 1889 konnte Friedrich Schillers Nachlaß übernommen werden. Am 28. Juni 1896 wurde schließlich das
Gebäude des nunmehrigen Goethe- und Schiller-Archivs feierlich eröffnet.
Der von dem Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs Jochen Golz ans Anlaß der Wiederkehr des Eröffnungsdatums herausgegebene
Band umfaßt 22 Einzelbeiträge, die in der Mehrzahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Archivs verfaßt wurden. Einleitend
stellt Golz in einem umfangreichen Aufsatz, der zahlreiche wichtige historische Text- und Bildquellen auswertet, die Geschichte
und die gegenwärtige Arbeit des Goethe- und Schiller-Archivs vor und leistet damit zudem einen anregenden Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte
der Germanistik. Für eine aktuelle Archivarbeit erscheinen am Beispiel Weimars besonders zwei Problemhorizonte relevant: Erstens
erweist sich, daß das Literaturarchiv als Institution, der im arbeitsteiligen Feld der Literaturwissenschaft bestimmte Aufgaben
zukommen, von der Konjunktur tendenziell positivistischer literaturtheoretischer Positionen abhängt, um mit dem wissenschaftlichen
Systemumfeld störungsfrei kommunizieren zu können. Und zweitens wird die wechselhafte Stellung des Literaturarchivs im Verlauf
seiner Ausdifferenzierung seit dem späten 19. Jahrhundert erkennbar; einerseits werden dem Archiv hauptsächlich Forschungsaufgaben
vor allem ans dem Bereich der Editorik zugewiesen, andererseits die archivarischen Pflichten im engeren Sinn betont, nämlich
Ordnung und Verzeichnung der Bestände. Das Goethe- und Schiller-Archiv, das weit über seine Gründung hinaus dem Versuch, Reichspatriotismus
und Klassikerverehrung harmonisch zu versöhnen, ausgesetzt war, hat all diese unterschiedlichen Phasen durchlaufen. Wie Golz
andeutet, steht es nun vielleicht erneut vor einem größeren Einschnitt, wenn es seine Erwerbungsprinzipien ändert und sich
auch dem Sammeln zeitgenössischer Literatur öffnet.
Auf den historischen Abschnitt zwischen 1949 und 1958 konzentriert sich der Beitrag von Volker Wahl. Dargestellt wird zentral
die Reorganisation des Archivs unter Willy Flach, der 1954 seine Leitung übernommen hat. Flach trat der bisherigen - zugunsten
der Goethe-Philologie erfolgten - Vernachlässigung der archivarischen Aufgaben entschieden entgegen und leitete eine vollständige
Verzeichnung und Inventarisierung der Bestände ein. Als Ziel seiner Bemühungen formulierte Flach die »Herstellung einer Ordnung,
die nicht für einen be-
[1/ S. 154:] stimmten Zweck gemacht wird, sondern die jeder wissenschaftlichen Fragestellung antwortet« (S. 101) - eine Vorgabe, die als
Arbeitsmaxime produktiv sein mag, systematisch allerdings nicht mehr konsistent erscheint. Ist doch nach der Diskussion sowohl
ideologiekritischer als auch konstruktivistischer Positionen klar geworden, daß strukturelle Voraussetzungen stets erkenntnisleitend
funktionieren und vermeintlich wissenschaftlich objektive Ordnungszusammenhänge selbst aus kontingenten Entscheidungen resultieren.
Die von Flach so eindringlich geforderte professionelle Archivarbeit behandelt Gerhard Schmid sowohl in historischer Perspektive
als auch mit Blick auf die Gegenwart und hebt dabei besonders auf die Konsequenzen der jeweils unterschiedlichen fachlichen
Kompetenzen der Mitarbeiterschaft ab. War das Archiv zuerst vor allem auf Goethe abgestellt und erarbeitete wichtige Editionen
(z. B. die Weimarer oder Sophienausgabe Goethes), so brachte die Konzentration auf das Museale während der Weimarer Republik
und der Zeit nationalsozialistischer Herrschaft eine konservatorische Bedrohung der Bestände mit sich. Nach einer kurzen Übergangsphase
nach dem Zweiten Weltkrieg, in der versucht wurde, das Goethe- und Schiller-Archiv zu einem Forschungs- und Ausbildungszentrum
für marxistische Nachwuchsgermanisten umzufunktionieren, wurde unter dem Direktorat von Flach erstmals der Erfahrungsbereich
des gesamten Archivwesens eingebracht. Plausibel ist Schmids auf die Gegenwart bezogenes Plädoyer, für die Arbeit am Literaturarchiv
literatur- und archivwissenschaftliche Kompetenzen zu verbinden und die Erschließung und Betreuung der Bestände als zentralen
Aufgabenbereich zu werten. Allerdings vermißt man spätestens hier den Einbezug von Fragestellungen, die sich auf die zunehmende
Computerisierung des literaturarchivarischen Aufgabenfeldes beziehen. Denn sowohl die Überführung der Nachlaß- und Autographenaufnahme
in Datenbanken, die zusehends traditionelle Karteisysteme ablösen, als auch die Aneignung der Möglichkeiten des World Wide
Welt zählen zu den derzeit größten Herausforderungen der Archive.
Ergänzt werden die historischen Ausführungen noch um Dorothea Kuhns vor allem persönliche Erinnerungen, die die Archivatmosphäre
seit den 40er Jahren schildern und Einblick in ihre Mitarbeit an der Leopoldina-Ausgabe von Goethes Schriften zur Naturwissenschaft
geben. Wohl unvermeidlich sind einige Überschneidungen in den geschichtlichen Darstellung, die vor allem die zentralen Ereignisse
betreffen.
Zu einer Jubiläumsschrift paßt durchaus ein genauer Blick auf das Archivgebäude, das Bernd Mende vor allem in architekturhistorischer
Perspektive darstellt. Schließlich gibt Roswitha Wollkopf einen Einblick in die Erwerbspolitik des Goethe- und Schiller-Archivs,
dem es seit der Wiedervereinigung Deutschlands erneut möglich ist, regelmäßig an internationalen Handschriftenauktionen vertreten
zu sein und direkt aus Privatbesitz zu erwerben. Die Sammelschwerpunkte liegen dabei nicht nur im Bereich der klassischen
deutschen Literatur, sondern auch bei Dokumenten, die den Nachlaß Friedrich Nietzsches ergänzen sollen.
[1/ S. 155:] Die literaturhistorischen Beiträge des Bandes stehen allesamt in engem Zusammenhang mit den speziellen Tätigkeiten am Literaturarchiv.
Besonders interessant erscheint hier der Zusammenhang von einerseits archivarischer Praxis sowie Forschung und andererseits
Literaturgeschichtsschreibung. So führt etwa Sabine Henkes Aufsatz zur Überlieferung der Bühnenbearbeitungen von Goethes »Götz
von Berlichingen« vor, welche Erkenntnisse, auf der Grundlage der Inventarisierung von Handschriften, über den Entstehungszusammenhang
eines bestimmten Textes gewonnen werden können. Ihre Kollegin Sabine Schäfer verdeutlicht anhand einer Briefsammlung aus dem
Nachlaß Goethes die Wichtigkeit der Erhaltung historischer Überlieferungsformen, die aufschlußreiche Informationen über den
Sammelgegenstand transponieren können.
Einige weitere Beiträge analysieren einzelne Bestände des Archivs und machen auf neuere Funde aufmerksam, die wissenschaftlich
noch nicht ausgewertet sind. Auf einen im Rahmen der Erarbeitung der Gesamtausgabe der Briefe an Goethe in Regestform erschlossenen
Bestand greifen Ulrike Bischof in ihrem Aufsatz zu Briefen von Frauen an Goethe und Manfred Koltes mit Ausführungen zu Goethes
Korrespondenz mit Sulpiz Boisserée zurück. Als bislang nicht bekannte oder zu wenig wahrgenommene Archivdokumente werden das
aus Goethes Besitz kommende Stammbuch des Antonius von Burkana, Johann Gottfried Herders Handschrift der Gedichtübertragung
»Aufschriften auf den Königsgräbern bei Persepolis« und Briefe Ferdinand von Saars und Thomas Manns detailliert vorgestellt.
Unter dem Blickwinkel bevorstehender Editionen werden Christian Friedrich Michaelis Niederschrift von Schillers ästhetischen
Vorlesungen und frühe Entwürfe und Notizen Ludwig Achim von Arnims aufgegriffen.
Zudem macht der Band auf Gesamtbestände aufmerksam, die das verstärkte Interesse der Forschung finden sollen: die Nachlässe
von Karl Ludwig von Knebel, Franz Liszt (mit zusätzlichen Beiträgen zu seiner Korrespondenz mit Heinrich Heine und zur Werkgeschichte
der Psalmen 23 und 137 Liszts), die Teilnachlässe Malwida von Meysenbugs, Julius Grosses und Joseph Kürschners sowie Bestände
aus dem Umkreis des sogenannten Konservativen Weimar (z. B. Adolf Bartels, Werner Deetjen, Friedrich Lienhard, Heinrich Lilienfein,
Börries von Münchhausen und Ernst von Wildenbruch).
Im Kontext des Bandes isoliert, weil nicht auf der Basis handschriftlicher Befunde argumentierend, stellt die essayistische
Interpretation zu »Gottes Tod in Nietzsches ›Also sprach Zarathustra.‹« von Marie-Luise Haase.
Die äußerst instruktive und solide Jubiläumsschrift, die das Goethe- und Schiller-Archiv als wichtige Forschungs- und Bildungseinrichtung
und insbesondere als Zentrum germanistischer Edition akzentuiert, beschließt ein Bestandsverzeichnis, das die 111 persönlichen
Archivbestände, die acht Bestände institutioneller Herkunft und die Autographensammlung, in der etwa 3000 Autorinnen und Autoren
vertreten sind, ausweist. Es ist schade, daß bei solch großer Anstrengung auf die Einrichtung eines Personenregisters verzichtet
wurde.
Andreas Brandtner
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