[2/ S. 237:] Es gibt wohl kaum ein Thema, mit dem Quarto, das Magazin des Schweizerischen Literaturarchivs (Bern), mit seiner Spezialnummer
für die Frankfurter Buchmesse 1998 einen vertiefteren Einblick in die Verschiedenheit der Erfahrungen und damit der literarischen
Ansätze in den vier Sprachlandschaften der Schweiz hätte geben können.
In vier intelligent angelegten Dossiers kommen die Schriftstellerinnen und Schriftsteller Hugo Loetscher, Nicolas Bouvier,
Anna Felder und Oscar Peer mit ihrer Sicht des Motivs selbst zu Wort, bzw. man nähert sich ihnen und ihrer Welt des Reisens
über Essays, Illustrationen und Dokumente aus dem histori- [2/ S. 238:] schen und gegenwärtigen Erleben des sprachlichen Kollektivs (deutsch, französisch, italienisch, rätoromanisch), dem sie zugehörig
sind.
Anregend, verwirrend in seiner Vielfalt und seinen Details und doch wieder mit einem Grundfarbton und einer Grundbewegung
zusammengehalten ist das enzyklopädische Mosaik, das Hugo Loetscher gleichsam als Boden für den Raum gestaltet, in dem die
vier individuellen Dossiers ausgestellt werden. Unter dem Titel »Reisender unter Reisenden« holt Loetscher zu Berichten, Anmerkungen,
Reflexionen aus, bricht sie unvermittelt ab, ordnet sie neu, vertieft sie, weitet sie ins Übertragene, holt sie in den Alltag
zurück, reiht Erfahrungen aus anderen Zeiten und Räumen an. Die gekonnt eingestreuten Abbildungen von Fabelwesen stimmen einen
bereits beim ersten Blättern auf das Faszinosum dieses Textes ein.
Das Dossier Hugo Loetscher ist relativ breit angelegt (deutsche Schweiz; S. 27-58). Im Text »Die gotische Reise« (aus dem
Romanmanuskript mit dem Arbeitstitel »Der Perplexe«) entdeckt der Autor den 18jährigen Peter, der Neuem, Unbekanntem entgegengeht:
die Beschreibungen sind farbig, satt, exakt. Wenige Details genügen, um eine kleine Szene oder ein kleines menschliches Panorama
zu beleben. Loetscher beherrscht sein Metier. Die begleitenden und erläuternden Texte situieren einige Haltungen in Loetschers
Perzeptions- und Gestaltungsart (Roman Bucheli), versuchen ihn als Schweizer Kosmopoliten zu erfassen (Christoph Siegrist),
ergründen das Wechselspiel zwischen journalistisch notizhaft festgehaltener Recherche und Literatur, stellen Regionalismus
der Fremderfahrung gegenüber (Corinna Jäger-Trees).
Das Dossier Nicolas Bouvier (französische Schweiz; S. 59-102) atmet die Offenheit der Genfer Metropole gegenüber Frankreich
und der französischen Geistesgeschichte und erfaßt in seiner Weite und seinem gleichzeitig sehr intimen Charme die scheinbar
simple Aufforderung des Vaters »Va voir et écris-moi«! Es scheint einem, die Verfasserinnen und Verfasser der Essays (Stéphanie
Cudré-Mauroux, Claude Reichler, Jacques Réda, Jean Starobinski, Frédéric Wandelère, Patrick Amstutz, Olivier Bauermeister,
Manfred Gsteiger) hätten sich für die Sichtweise ihrer Beiträge von der raffinierten Leichtfüßigkeit der Arbeiten Bouviers
inspirieren lassen. Das ganze Dossier - das Bildmaterial inbegriffen - präsentiert sich als eine ebenso vergnügliche wie geistreich-informative
Reise durch die schweizerische Reisetradition und ihre Reisebücher, die dank der unverkrampften Beziehung der französischen
Schweiz zu Frankreich zu einem Teil der europäischen Geistesgeschichte wird. Das vertrackt akademische, verklausulierte Argumentieren,
Behaupten und Zurücknehmen, das die deutschschweizerische literarische Produktion der Nachkriegszeit so oft begleitet, kommt
auch dank der grundsätzlichen Bejahung des eigenen Wesens überhaupt nicht zum Tragen.
Im Dossier Anna Felder (italienische Schweiz; S. 133-160) wird das Reisen zum Pendeln zwischen zwei Kulturen. Thematisiert
wird weniger der Weg als das Doppelzuhause, bei dem, auch wenn das eine als näher und heimischer empfunden wird als das andere,
bei jedem Aufenthalt wieder ein Gebundensein und ein leises Sehnen nach den andern übrigbleibt. Doppelte Wurzeln oder [2/ S. 239:] Entwurzelung? Annetta Ganzoni stellt in ihrer Einleitung geschickt die Verbindung dieses Phänomens mit der Auswanderungstradition
der Tessiner her. Im Text von Anna Felder, »Il mare in erba«, wird das Thema mit warmherziger Einfühlung und kalter Präzision
in Leben umgesetzt. In seinen »Appunti per il tema viaggio in Anna Felder« stellt Giovanni Orelli fest, daß die Autorin »nella
sua discesa verso il cuore delle cose, in ihrem Ergründen des Herzens der Dinge« beschließe, »di guardare uomini e oggetti
che incontra con gli occhi più freddi, equanimi e acuti di un gatto, die Menschen und die Gegenstände, die ihr begegnen, mit
den kältesten und gleichmütigsten Augen einer Katze zu betrachten«. Walter Breitenmoser stellt abschließend die schweizerische
Alltagsrealität in Anna Felders Werk derjenigen der Gastarbeiter gegenüber.
Das Dossier Oscar Peer (rätoromanische Schweiz; S. 161-194) ist durch die äußere Besonderheit gekennzeichnet, daß der Autor
sowohl Romanisch als auch Deutsch schreibt (vgl. S. 164). Die Zweisprachigkeit entspricht seiner alltäglichen Erfahrung und
wird von Oscar Peer, wie Annetta Ganzoni schreibt, als Schicksal, aber auch als Chance verstanden. Die Annäherung an die Realität
des »Doppelzuhauses« ist bei Oscar Peer wie um eine Phase weiter gediehen als bei Anna Felder. Sie entspricht so der Einübung
der Bündnerromanen durch die Jahrhunderte alte Auswanderungstradition und durch den Kontakt der Angehörigen einer Kleinsprache
mit der faktischen Dominanz der großen Verkehrssprachen. Aus der Realität der Aus- und Abwanderung thematisiert Peer in seinem
Text »Il viadi« die Rückkehr und das Warten der Daheimgebliebenen auf die Rückkehr. Peider Andri Parli zeigt in seinem Essay,
wie vielschichtig Oscar Peer die Rückkehr in eine vorgeprägte und sich doch während der Abwesenheit und nachher weiterentwickelnde
Realität zu gestalten vermag. Mit der Metapher der Reise bei Oscar Peer, genauer mit dem Ausbrechen des Protagonisten Carl
Prevost aus der sozialen Norm in »Viadi sur cunfin« setzt sich Annetta Ganzoni auseinander. Das Motto von Fabrizio Ramondino,
das sie ihrer Analyse voranstellt, läßt vermuten, daß sich die Reise, hier der Ausbruch aus der Gesellschaft, angesichts des
Gewichts des eigenen Reisegepäcks als schwieriges, wenn nicht als hoffnungsloses Unterfangen entpuppen wird. Der Protagonist
verfängt sich denn auch im Netz des eigenen Gepäcks. Wie zum Ausklang, ähnlich einer etwas verblichenen Fotografie aus alter
Zeit, die man bei einer besonderen Gelegenheit noch hervorholt, ist dem Dossier ein Brief eines Engadiner Auswanderers nachgestellt
(Triest, 1864).
Im ganzen präsentiert sich Quarto 9/10 als sorgfältig zusammengestelltes, sehr informatives und lesenswertes Dokument.
Jachen Curdin Arquint
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