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Sichtungen. Archiv - Bibliothek - Literaturwissenschaft ISSN: 1680-8975
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Forschung im Literaturarchiv

Zur Untersuchung der Textgenese von Friedrich Dürrenmatts »Stoffen«

Rudolf Probst

Literaturarchiv und germanistische Forschung
Forschungsprojekt zur Textgenese von Friedrich Dürrenmatts »Stoffen«
Die »Stoffe« - Friedrich Dürrenmatts zentrales Spätwerk
Die »Stoffe« als moderne Form der Autobiographie
Anmerkungen

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[2/ S. 155:] Zur nächsten Seite

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Literaturarchive und Handschriftenabteilungen von Bibliotheken horten mit den Nachlässen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern einzigartige Dokumente, die der literaturwissenschaftlichen Erforschung harren. Es läßt sich ein ganzes Spektrum von möglichen Fragestellungen anführen, unter denen Nachlässe untersucht werden können: Unerläßlich sind solche Materialien mit Sicherheit für die biographische Forschung. Insbesondere die überlieferten Korrespondenzen und Lebenszeugnisse erlauben Aufschlüsse über das Leben eines Schriftstellers, die ohne diese Dokumente nicht möglich wären. Auch psychologische und soziologische Forschungen sind denkbar, linguistische, kultur- und allgemeine historische Fragestellungen ergiebig. Als Forschungsgegenstand von besonderem Interesse gelten schon seit längerer Zeit die text- und werkgenetischen Untersuchungen, unabdingbare Voraussetzung für historisch-kritische Editionen. Daß textgenetische Forschungen nicht nur im Hinblick auf Editionsprojekte notwendig und sinnvoll sind, sondern auch produktiv für die Literaturwissenschaft im allgemeinen, zeigen die Untersuchungen der französischen »critique génétique«. Dieser Untersuchungsgegenstand, die Rekonstruktion der Entstehung literarischer Werke aufgrund von Manuskripten und Dokumenten aus dem Nachlaß einer Schriftstellerin oder eines Schriftstellers, beginnt sich auch im deutschsprachigen Raum zu etablieren, und die Erkenntnis dringt durch, daß Aufschlüsse, die die Werkentstehung liefert, zu einem vertieften Verständnis literarischer Texte beitragen, ja, daß zahlreiche Werke der deutschsprachigen Literatur ohne Kenntnis der Textgenese gar nicht adäquat verstanden werden können.

Wer kann aber eine solche textologische Erforschung[1] literarischer Werke leisten? Welche Voraussetzungen werden benötigt, um textgenetische Prozesse verstehen zu können? Die Arbeit mit den Manuskripten setzt eine intime Kenntnis der biographischen Lebensumstände des Autors und seiner Arbeitsweise voraus, die sich im Lauf der Zeit auch ändern kann. Es ist daher nicht nur von Vorteil, die Materia-Zur vorigen Seite [2/ S. 156:] Zur nächsten Seitelien zu einem bestimmten Werk zu kennen, sondern darüber hinaus empfehlenswert, sich einen Überblick über den gesamten betreffenden Nachlaß zu verschaffen. Die Untersuchung der Originalmanu-skripte und -typoskripte ist äußerst zeitintensiv, denn vielfach ist ein eingehender Vergleich verschiedener Fassungen notwendig, um etwa einzelne Versionen präzise zeitlich situieren zu können.

All diese Voraussetzungen scheint der Archivar oder die Archivarin zu vereinigen, denn die den Nachlaß betreuende Person eignet sich im Umgang mit den Dokumenten Kenntnisse an, die sich Forschende erst mühsam erarbeiten müßten. Aber nur in seltenen Fällen kommen Archivare dazu, selbst zu forschen, denn entweder fehlt die literaturwissenschaftliche Ausbildung oder die erforderliche Zeit. Besonders in kleineren Literaturarchiven mit wenig Personalbestand, wie es im Schweizerischen Literaturarchiv der Fall ist, erfüllen Archivare und Archivarinnen die unterschiedlichsten Aufgaben: von den Erwerbs- und Vertragsverhandlungen über die Sichtung und Inventarisierung des Nachlaßes, der konservatorischen Begutachtung und Erstbehandlung der Dokumente sowie den Auskunfts- und Beratungstätigkeiten gegenüber Benutzerinnen und Benutzern, Forscherinnen und Forschern bis zu Ausstellungs- und Publikationsvorbereitungen.

In diesem archivarischen Aufgabenkatalog kommt der literaturwissenschaftlichen Forschung nur ein geringer Stellenwert zu: Forschung wird nicht als primäre Pflicht des Archivars angesehen, seine Aufgabe besteht traditionellerweise in erster Linie darin, die ihm anvertrauten Dokumente für die Nachwelt sicher aufzubewahren und sie so aufzubereiten, daß der Zugang zu den einzelnen Dokumenten gewährleistet ist. Die Nachlaßerschließung, ob in einer modernen Datenbank oder in älteren Findmitteln wie Zettelkatalogen oder Inventarlisten, kann in der Regel nicht in einer angestrebten Vollständigkeit und Perfektion den Umgang mit den Originaldokumenten ersetzen, sondern den Zugang zu den Materialien für die Forschung erleichtern. Zwar können der Forschung zur Schonung der Originale elektronische oder Papier-Kopien zur Verfügung gestellt werden, es gibt aber literaturwissenschaftliche Fragestellungen wie die textgenetischen Untersuchungen und die Vorbereitung historisch-kritischer Editionen, bei denen in jedem Fall auf die Originaldokumente zurückgegriffen werden muß.

Trotz dieser vielfältigen Aufgaben ist es wünschenswert, daß Archivare und Archivarinnen ihr Wissen der Forschung zur Verfügung stellen und sich dazu auch einen Teil ihrer Arbeitszeit reservieren können. Die Wissensvermittlung geschieht meist in der persönlichen Beratung im Lesesaal des Literaturarchivs, besser wäre es allerdings, wenn dieZur vorigen Seite [2/ S. 157:] Zur nächsten Seite spezifischen Kenntnisse der Nachlaßbetreuenden in Publikationen festgehalten und damit einem breiteren Publikum zugänglich gemacht würden. In vielen Fällen überschreitet dieser Wunsch aber die zeitlichen und personellen Ressourcen kleiner Literaturarchive, Forschung im Literaturarchiv und durch Angehörige des Archivs ist oft nur mit finanzieller Unterstützung von Dritten durchführbar.

Im Schweizerischen Literaturarchiv gab und gibt es verschiedene, durch Drittmittel finanzierte Forschungsprojekte: Ein Projekt des Schweizerischen Nationalfonds mit dem Ziel, die unpublizierten Werke aus dem Nachlaß des französischsprachigen Schriftstellers Blaise Cendrars herauszugeben, ist mittlerweile abgeschlossen. Ein momentan laufendes Forschungsprojekt, finanziert durch die private Silva-Casa-Stiftung, untersucht die zeitgeschichtlich bedeutsamen Nachlässe Arnold Künzlis, Golo Manns, Niklaus Meienbergs und Jean Rudolf von Salis! unter historischer Perspektive.

Einen Forschungsschwerpunkt bildet der Nachlaß Friedrich Dürrenmatts, einer der gewichtigsten und meistkonsultierten Nachlässe des Schweizerischen Literaturarchivs. Von 1995 bis 1997 wurde die Entstehung des Theaterstücks »Der Mitmacher« untersucht und in der Rolle als Auslöser für Dürrenmatts Abkehr von der Dramatik und Hinwendung zu seiner späten Prosa interpretiert.[2] Im unmittelbaren Anschluß an dieses erste Forschungsprojekt erfolgte ein zweites, dessen Gegenstand Dürrenmatts späte Autobiographie »Stoffe« bildet. Über 20 Jahre hat Dürrenmatt an seiner Autobiographie gearbeitet, mehr als 22.000 Manuskriptseiten zu diesem Werk liegen im Schweizerischen Literaturarchiv. Die Untersuchung der Genese zeigt, daß sein gesamtes spätes Schaffen mittelbar mit diesem Werk zusammenhängt.

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Rudolf Probst
Schweizerische Landesbibliothek / Schweizerisches Literaturarchiv
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Forschungsprojekt zur Textgenese von Friedrich Dürrenmatts »Stoffen« Zum vorigen Abschnitt Zum nächsten Abschnitt

Das Projekt zu Dürrenmatts »Stoffen«[3] verfolgt zwei Ziele: Auf der Grundlage einer textologischen Analyse des Manuskriptmaterials soll die Textentstehung des Werks nachvollzogen und wissenschaftlich beschrieben werden. Die überlieferten Textzeugen werden dabei analysiert und stemmatologisch in die Gesamtentwicklung des Entstehungsprozesses eingeordnet. In dieser ersten Projektphase kommen die archivarischen Kenntnisse um Nachlaß und Arbeitsweise des Autors zum Tragen, die den Umgang mit den Manuskripten, ihre Verzeichnung, Datierung und Analyse erleichtern. Die Beschreibung der Arbeitsweise Dürrenmatts wurde im Verlauf des ersten Nationalfonds-Projekts vorgenommen.[4] Als Ergebnis der textologischen Untersu-Zur vorigen Seite [2/ S. 158:] Zur nächsten Seitechung des Manuskriptmaterials resultiert ein Stemma, mit dem versucht wird, die komplexen Relationen der einzelnen Textzeugen untereinander zu bestimmen und damit implizit die Textentwicklung nachzuvollziehen. Diese Arbeit ist insofern äußerst zeitaufwendig, als sie einen detaillierten Vergleich der einzelnen Fassungen und Versionen erfordert, und überschreitet bei weitem das, was Archivare bei der Verzeichnung eines Nachlasses leisten können: Meistens ist nicht viel mehr möglich als die Auflistung und stichwortartige Beschreibung der einzelnen Textzeugen, was Umfang, Format, Datierung (sofern vorhanden), Zustand des Textzeugen usw. betrifft.

Das zweite Ziel baut auf den Ergebnissen der textologischen Analyse auf: Es geht dabei um die werkgenetische Interpretation einerseits der Gesamtentwicklung der »Stoffe«, andererseits um die Analyse und Interpretation von exemplarischen Texten und Textabschnitten aus dem Gesamtkomplex des Textes.

Thematisch steht die werkgenetische Interpretation unter drei Fragestellungen: Inwiefern befinden sich Dürrenmatts »Stoffe« in der Tradition der europäischen autobiographischen Literatur? Wie manifestieren sich philosophische, vor allem erkenntnistheoretische Denkmuster, insbesondere von Kant, Kierkegaard und Vaihinger, in Text und Struktur des Werks? Und wie verhält sich das Spätwerk zum Frühwerk, das in den »Stoffen« eingehend thematisiert wird?

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Forschungsprojekt zur Textgenese von Friedrich Dürrenmatts »Stoffen«
Die »Stoffe« - Friedrich Dürrenmatts zentrales Spätwerk
Die »Stoffe« als moderne Form der Autobiographie
Anmerkungen
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Die »Stoffe« - Friedrich Dürrenmatts zentrales Spätwerk Zum vorigen Abschnitt Zum nächsten Abschnitt

Die »Stoffe«[5] sind Dürrenmatts großangelegtes literarisches Vorhaben, mit dem er sich 20 Jahre lang ab etwa 1970 bis zu seinem Tod 1990 in zunehmendem Maß beschäftigt hat. In autobiographischer Form versucht er, die »Geschichte [s]einer Schriftstellerei« zu erzählen. Dürrenmatt beschreibt dabei den Entstehungszusammenhang seiner »geschriebenen Stoffe« und rekonstruiert - teilweise skizzenhaft, teilweise in ausgeführten Erzählungen - die »ungeschriebenen Stoffe«, die alten Themen, die er bisher nie ausformuliert, nie literarisch gestaltet hatte. Essayistische Abschnitte verbinden autobiographische und fiktionale Textteile.

Mehrfache Krisen Ende der 60er Jahre markieren den Beginn des »Stoffe«-Projekts. Dabei spielen verschiedene biographische Ereignisse eine Rolle: Dürrenmatts Herzinfarkt von 1969, sein Weggang im Streit vom Basler Theater und die Mißerfolge mit »Urfaust« und »Porträt eines Planeten«. Im Dezember 1970 beginnt Dürrenmatt mit der ersten zusammenhängenden Niederschrift der »Stoffe«. WiederumZur vorigen Seite [2/ S. 159:] Zur nächsten Seite eine Krise, der Durchfall der Komödie »Der Mitmacher« in der Uraufführung im März 1973 in Zürich, führt zu einem großen Arbeitsschub an den »Stoffen«. Die beiden biographischen Krisen Dürrenmatts lassen sich als Krisen des Autorselbstverständnisses und -bewußtseins verstehen. Besonders das Scheitern des ambitionierten Vorhabens der »experimentellen Klassik« im Stück »Der Mitmacher« erschüttert Dürrenmatts schriftstellerisches Selbstverständnis als Dramatiker schwer.[6]

Ein entscheidendes Gewicht legt Dürrenmatt beim Nachspüren der autobiographischen Einflüsse auf Entstehung und Ausformung seiner Stoffe. In einer die beiden »Stoffe«-Bände umspannenden Rahmenhandlung von der Kindheit in Konolfingen bis zur Entscheidung des 25jährigen Philosophiestudenten, Schriftsteller zu werden, geht der Autor den Eindrücken und »Urbildern« nach, die seine dichterische Phantasie prägten, von den mythologischen Erzählungen des Vaters und dem Schlachten der Tiere im Dorf Konolfingen über die als labyrinthisch empfundene Architektur Berns, die Faszination durch Physik und Astronomie oder die Auseinandersetzung mit der Religiosität seines Vaters bis zum nur gespenstisch und mittelbar erlebten Zweiten Weltkrieg.

Die Form seines Denkens und Schreibens leitet der »Gedankenschlosser« Dürrenmatt weniger aus literarischen Vorbildern ab als aus der Prägung durch philosophische Einflüsse, die auf die Zeit seines Studiums zurückgehen. Die Rekonstruktion der eigenen philosophischen Wurzeln wird für Dürrenmatt in den 70er Jahren zum Anlaß erneuter philosophisch-reflektierender und ironisch-erzählerischer Auseinandersetzung mit Platon, Kant, Kierkegaard und neueren Denkern. Dabei läßt sich generell feststellen, daß die theologische Reflexion zugunsten philosophischer und naturwissenschaftlicher Denkformen zurücktritt - eine Behauptung, die sich durch die genetische Analyse des Archivmaterials sowie die Kenntnis von Dürrenmatts Bibliothek präziser und konkreter belegen läßt, als dies bisherigen Studien zum Spätwerk möglich war.

Die autobiographischen Abschnitte, die philosophisch und wissenschaftstheoretisch argumentierenden Passagen sowie die Fiktionen werden von Dürrenmatt zu einem beziehungsreichen Nebeneinander verwoben, das die Bedeutung der »Stoffe« in ihrer Gesamtheit entscheidend mitkonstituiert. Die detaillierte Rekonstruktion der Genese der Gesamtkomposition der »Stoffe« hat auch in diesem Bereich bereits Klärungen ergeben, die sich in interpretatorischer Hinsicht als fruchtbar erweisen. Insbesondere läßt sich durch eine solche gesamtheitliche Sicht auch dem Einwand begegnen, die »Stoffe« liefertenZur vorigen Seite [2/ S. 160:] Zur nächsten Seite »nichts Neues«, wie dies Dürrenmatt in der Forschungsliteratur gelegentlich vorgeworfen wird:[7] Unsere Untersuchungen weisen nach, daß das Neue einerseits in der Verbindung von verschiedenen Textsorten liegt, andererseits in der ironischen Variation des eigenen Schaffens aus der frühen und mittleren Phase. Mit seinen »Stoffen« gelangt Friedrich Dürrenmatt zu einer neuen Form autobiographischen Schreibens, die er in Auseinandersetzung mit Kierkegaard und aufgrund autobiographischer Erfahrungen entwickelt. In dieser neuen Form spiegeln sich inhaltlich auch die veränderten philosophischen und erkenntnistheoretischen Ansichten.

Den subjektiven Prozeß der Re-Konstruktion als Erinnerung und Neuschöpfung macht Dürrenmatt im Verlauf seiner Arbeit an den »Stoffen« zunehmend selbst zum Gegenstand der literarischen Darstellung, indem er die Funktionsweise der Phantasie reflektiert. So konnte in der bisherigen Projektarbeit nachgewiesen werden, daß Dürrenmatt die »Stoffe« im Lauf ihrer Entstehung von einem zuerst äußerst traditionellen autobiographischen Werk zu einer Art Fundamentalpoetik seines eigenen literarischen Schaffens entwickelt. Als »Dramaturgie der Vorstellungskraft«[8] stellen die »Stoffe« ein gleichsam kantisches Unterfangen dar: Die Untersuchung verfolgt letztlich, verbunden mit erkenntnistheoretischen Ansprüchen, die transzendentale Fragestellung nach den Bedingungen der Möglichkeit der Fiktion als vorgestellter Realität.

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Die »Stoffe« - Friedrich Dürrenmatts zentrales Spätwerk
Die »Stoffe« als moderne Form der Autobiographie
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Die »Stoffe« als moderne Form der Autobiographie Zum vorigen Abschnitt Zum nächsten Abschnitt

Unsere Analyse und Interpretation der Werkgenese hat aufgezeigt, daß sich in der 20jährigen Entwicklung des Textes eine Veränderung der autobiographischen Konzeption vollzieht. Die »Stoffe« waren ursprünglich, in den 70er Jahren, als literarische Autobiographie geplant, darauf ausgerichtet, den Zusammenhang von Leben und Werk zu untersuchen. Sie präsentieren sich zu Beginn der Textentwicklung als umfangreichen Versuch Dürrenmatts, seine Stoffe, geschriebene und vor allem ungeschriebene, auf Eindrücke und Erlebnisse seiner Jugend zurückzuführen. Die Fragestellung bestimmt in der ersten Arbeitsphase von 1970 bis 1974 die Struktur des autobiographischen Rahmens in der Wahl des dargestellten Lebensabschnitts von der Kindheit bis zum Entschluß, Schriftsteller zu werden, mit dem offenbar eine gefestigte Identität erreicht scheint. Die Konzeption kulminiert mit der unpublizierten Fassung von 1974 in einer fast traditionellen Autobiographie mit der ausgearbeiteten biographischen RahmenhandlungZur vorigen Seite [2/ S. 161:] Zur nächsten Seite und den skizzenhaft eingefügten Binnenerzählungen. In dieser Version sind so gut wie keine, die Chronologie der dargestellten Rahmenhandlung durchbrechenden Abschnitte enthalten. Die Konzeption dieser Fassung prägt den ersten publizierten »Stoffe«-Band über weite Strecken.

1978, nach dem gleichsam eruptiven Hervorbrechen des Textes »Mondfinsternis«, sieht sich Dürrenmatt gezwungen, die autobiographische Konzeption seiner »Stoffe« neu zu überdenken, wobei das Unbewußte der Erinnerung und die Assoziation in ihrer Bedeutung für den schriftstellerischen Schaffensprozeß erkannt werden. Die Erfahrung, daß mit der »Mondfinsternis« ein Stoff assoziativ und unwillkürlich dem Vergessen entspringt, löst nachhaltige Reflexionen Dürrenmatts über die Entstehung von Stoffen und die Funktionsweise von Phantasie und Erinnerung aus, die im neu hinzukommenden »Stoffe«-Teil »Rekonstruktionen« nun erstmals formuliert werden. Damit wird die bis dahin traditionelle Form der Autobiographie aufgebrochen. Der Verfasser bezieht die Reflexion des Schreibprozesses in den Text mit ein. Als Interpreten haben wir es unvermittelt mit verschiedenen Ich-Erzählern zu tun, mit einem eher zurückhaltend-auktorial berichtenden Ich, das in traditioneller Weise seine Jugenderinnerungen ausbreitet und die Beziehungen der Biographie zu den ungeschriebenen Stoffen untersucht, und einem anderen Erzähler-Ich, das den Schreibprozeß des auktorialen Ich-Erzählers reflektiert, indem unaufhörlich nach der Funktionsweise der Phantasie und der Glaubwürdigkeit von Erinnerung gefragt wird.

Von 1978 an beginnt sich die Veränderung der autobiographischen Fragestellung abzuzeichnen, die Anlage und Struktur des zweiten Bandes der »Stoffe« entscheidend bestimmen wird. Die ursprüngliche Konzeption der »Stoffe« als einer intellektuellen Autobiographie verwandelt sich in Richtung einer »Dramaturgie der Vorstellungskraft«. Der Autor macht den Prozeß der Erinnerung zum zentralen Gegenstand seiner Weiterarbeit. Die Bezeichnung der Erinnerungstätigkeit als einer ›Rekonstruktion‹ benennt zugleich auch die Rolle der Phantasie beim Erinnerungsprozeß. Dürrenmatt beginnt, Erinnerung als phantasievollen, kreativen Akt zu begreifen, bei dem verschiedene, in der Erinnerung vorfindliche Elemente zu etwas Neuem zusammengesetzt werden. Dem Autobiographen wird klar, daß Erinnerung nicht einer gelebten Wirklichkeit entspricht, sondern daß im und durch das Erinnern etwas Fiktionales entsteht, das nur mittelbar mit der erlebten Wirklichkeit zu tun hat. Die Reflexion der Funktionsweisen von Phantasie, erst später konsequent in »Vorstellungskraft« umbenannt, rückt in den Mittelpunkt sowohl der autobiographischen als auch der essay-Zur vorigen Seite [2/ S. 162:] Zur nächsten Seiteistischen Abschnitte. Ausgehend von der Frage nach der Erinnerung ist der Text »Rekonstruktionen« ein Essay über Phantasie und Assoziation, die beide an autobiographischen Beispielen aus verschiedenen Lebensperioden des Autors erläutert werden.

In der neuen thematischen Ausrichtung auf die Funktionsweise der Phantasie bildet die ursprüngliche autobiographische Fragestellung nach dem Zusammenhang zwischen Leben und Werk nur noch einen sekundären Aspekt in einem umfassenden Sinnkontext einer »Dramaturgie der Vorstellungskraft«. Die Krise des Autorbewußtseins läßt in Dürrenmatt die Erkenntnis reifen, daß die biographischen Elemente nicht die einzigen Quellen literarischen Schaffens sein können.

Die Ausweitung der Fragestellung in der Autobiographie hat Implikationen für die Struktur der »Stoffe« in der weiteren Textentwicklung, wie die laufenden genetischen Untersuchungen zur Entwicklung des Textes in den 80er Jahren zeigen. In den »Rekonstruktionen« kristallisiert sich als eigentliches Movens sowohl der Erinnerung als auch der Phantasie allmählich die Assoziation heraus, die in späteren »Stoffe«-Teilen einerseits zum Textprinzip, aber andererseits auch zum Gegenstand der reflektierenden Abschnitte wird. Es kommen neue biographische Elemente hinzu, die meist nach dem Assoziationsprinzip nebeneinandergestellt werden, was besonders in der »Querfahrt« deutlich zum Ausdruck kommt. Das scheinbar lockere assoziative Erzählen in »Querfahrt« ist aber das Resultat von unzähligen Überarbeitungen des Textes in den 80er Jahren, wie in einer exemplarischen genetischen Analyse und Interpretation im Rahmen des Projekts noch detailliert aufgezeigt werden soll.

Indem Dürrenmatt autobiographische Textsegmente aus anderen Lebensabschnitten in die bestehende, chronologisch stringente Rahmenhandlung einbezieht, wird der Rahmen selbst schwierig zu durchschauen.[9] Im Verlauf der Entstehung der »Stoffe« beginnt sich nicht nur das Erzähler-Ich aufzuteilen, so daß es angebracht scheint, statt vom rückblickenden Erzähler von einer textorganisierenden Erzählfunktion zu sprechen, die sich in den »Stoffen« in verschiedenen Erzählern äußert. Auch das erinnerte Ich splittert sich zunehmend in verschiedene Figuren auf verschiedenen zeitlichen Ebenen auf, ein methodisches Vorgehen, das Dürrenmatt anhand von dreizehn Möglichkeiten der Figur FD im Text »Die Brücke« symbolisiert. Die Identität der vervielfältigten Ichs, sowohl auf der Ebene des Erzählers, wie auch auf derjenigen des (oder der) erinnerten Ichs, wird problematisch. Einfache Zuschreibungen werden der Komplexität moderner Subjektivität nicht gerecht. Eine Analyse der Gesamtstruktur der auto-Zur vorigen Seite [2/ S. 163:] Zur nächsten Seitebiographischen Abschnitte, die auf den bereits vorliegenden Einzeluntersuchungen aufbaut, soll hier Klarheit verschaffen.

Zu diesem Thema ist, aufbauend auf einem wissenschaftlichen Symposion in Bern 1998, der Sammelband »Die Verwandlung der Stoffe als Stoff der Verwandlung« (hg. von Peter Rusterholz und Irmgard Wirtz) im Berliner Schmidt-Verlag in Vorbereitung.

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1] »Textologisch« hier im Sinn Siegfried Scheibes, vgl. dazu die Rezension des Verf. im vorliegenden Band.

2] Vgl. Rudolf Probst: Die Komödie »Der Mitmacher«: Abschied vom Drama? In: Quarto 7 (1996), S. 39-58; Ulrich Weber: »Ob man sich selbst zum Stoff zu werden vermag?« Kierkegaard und die Entwicklung des subjektiven Schreibens im »Mitmacher-Komplex«. In: Quarto 7 (1996), S. 65-79.

3] Im Rahmen eines Nationalfonds-Gemeinschaftsprojekts zwischen Schweizerischem Literarurarchiv und dem Germanistischen Institut der Universität Bern unter der Leitung von Prof. Peter Rusterholz und Dr. Irmgard Wirtz untersucht die Forschungsgruppe Dürrenmatt die Entstehung der »Stoffe«. Am Forschungsprojekt sind Ulrich Weber und der Verf. einerseits als Nachlaßbetreuer und andererseits als Literaturwissenschaftler beteiligt, Philipp Burkard arbeitet als Doktorand mit.

4] Vgl. Rudolf Probst und Ulrich Weber: Prolegomena zur Arbeit mit den Manuskripten Friedrich Dürrenmatts. Bern: Bundesamt für Kultur 1998 (= Arbeitsberichte des Schweizerischen Literaturarchivs. Archivberichte 2).

5] Friedrich Dürrenmatt: Stoffe I-III: Der Winterkrieg in Tibet, Mondfinsternis, Der Rebell. Zürich: Diogenes 1981; Neuaufl.: Labyrinth. Stoffe I-III. Zürich: Diogenes 1990; Bd. 2: Turmbau. Stoffe IV-IX. Begegnungen, Querfahrt, Die Brücke, Das Haus, Vinter, Das Hirn. Aus dem Nachlaß herausgegeben wurde ein Band vor allem mit essayistischen Texten, die zum »Stoffe«-Projekt gehören: Friedrich Dürrenmatt: Gedankenfuge. Zürich: Diogenes 1992.

6] Vgl. Probst (Anm. 2).

7] Vgl. etwa Jan Knopf: Friedrich Dürrenmatt. München: Beck 1988, S. 178: »Dürrenmatts letzte Arbeiten lesen sich wie Satyrspiele zu einer Tragödie, die der Autor mit seinen Komödien längst vorweggenommen hat«; Gerhard P. Knapp: Friedrich Dürrenmatt. Stuttgart: Metzler 1993, S. 142: »Denn all den späten Texten haftet doch der Charakter von Etüden oder Fingerübungen an, der einerseits ihren Reiz ausmacht, sie andererseits gegenüber den Spitzenleistungen Dürrenmatts in den zweiten Rang verweist. Bei aller Fülle von späten Werken verbietet es sich also von selbst, von einem ›Spätwerk‹ zu sprechen, das zugleich Bilanz und Überwindung des früheren Œuvres wäre. Ein solches Werk hat Dürrenmatt nicht geschrieben.«

8] So der Titel eines Essays, der postum aus dem »Stoffe«-Komplex in Dürrenmatt, Gedankenfuge (Anm. 5) publiziert wurde.Zur vorigen Seite [2/ S. 164:]

9] Vgl. etwa Jürgen Daiber: Fiktive Autobiographie und autobiographische Fiktion. Friedrich Dürrenmatts »Stoffe«. In: Wirkendes Wort 47 (1996), S. 446-454. Daiber scheint die den »Stoffen« zugrunde liegende autobiographische Rahmenhandlung von der Kindheit bis zum Entschluß, Schriftsteller zu werden, nicht erkannt zu haben.

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