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Sichtungen. Archiv - Bibliothek - Literaturwissenschaft ISSN: 1680-8975
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Nicht Organismus und Geist, sondern Organisation und Apparat

Plädoyer für archiv- und bibliothekswissenschaftliche Aufklärung über Gedächtnistechniken

Wolfgang Ernst

Das Archiv edieren
Archivkörper
Nachlass und Sammlung
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Seit langer Zeit gelten Archive und Bibliotheken als wissensarchäologische Rohstofflager, als Fundament für Forschung, die das dort Gespeicherte in eine kulturell höher kodierte Form der literarischen oder wissenschaftlichen Darstellung bringt. Jenseits ihrer Funktion als bloßer Dienstleister für klassische Disziplinen werden die Speicherorte Archiv und Bibliothek im Licht der Informationskultur neu wahrgenommen: nicht als Bewahrungsstätten des Geistes, sondern Datenräume, in denen Operationen, die auf die Unsichtbarkeit von Mikroprozessoren geschrumpft sind - nämlich Datenaufnahme, Speicherung, Weiterverarbeitung und Ausgabe -, transparent werden.

Nicht länger sind Archiv und Bibliothek einer Literatur vorgeschaltet, die aus rohen Daten erst Geschichten figuriert. Archiv und Bibliothek werden als Integrale des Schaltkreises von Wissenszirkulation selbst begriffen, in einer Kultur von Rezipienten, die nicht mehr ausschließlich der Zwischenschaltung von Gelehrten und Spezialisten bedürfen, um die archivische Materie zur Weiterverarbeitung aufzubereiten, sondern selbst in der Lage sind, unmittelbar auf das nicht schon narrativ verstellte gespeicherte Wissensaggregat zuzugreifen. Archivische Daten müssen nicht mehr notwendig in Geschichten gepackt werden, um diskursiv weitertransportiert werden zu können. Der durch Computer und Internet im Direktverkehr mit Information datenästhetisch geschulte Leser ist in der Lage, unmittelbar mit dem Archiv in Kontakt zu treten, es selbst zu durchpflügen. Wo die Einsicht in Datenverarbeitung an die Stelle der wissenschaftlichen ›Großen Erzählungen‹ getreten ist, werden auch von der Philologie nicht mehr End-, sondern Zwischenprodukte verlangt, plausible Arbeitsberichte zur Entzifferung von Buchstabenketten und Ziffernfolgen anstelle der Eindeutigkeit vorspiegelnden letztgültigen Edition. Nicht ein Endergebnis, sondern die Einsicht in den Prozeß der Edition wird erwartet, und die ist untrennbar mit der Einsicht in die Techniken der Datenverarbeitung auf der Speicherebene verbunden. Dem entsprechen auch die Ausstel-Zur vorigen Seite [2/ S. 130:] Zur nächsten Seitelungsästhetik in Museen, die dem Besucher die Depots selbst zugänglich machen, und ein Trend in der industriellen Lagerökonomie, die von End- zu Zwischenlagern übergeht. Vom separaten Gedächtnis wird das Archiv zum Arbeitsspeicher der Gegenwart, vom Lager zum Interface, zur Schnittstelle zwischen Speicher und Öffentlichkeit.

Damit korrespondiert eine Akzentverschiebung in den Editionswissenschaften; ihnen dient das Literaturarchiv nicht länger als Grundlage zur Vereinheitlichung der Kompliziertheit diverser Textvarianten eines literarischen Produkts, sondern zur Multiplikation dieser Kompliziertheit. Der Leser im Informationszeitalter will keine vorgeschriebenen Wege durch das Labyrinth der Buchstaben, sondern - frei nach Walter Benjamin - in die Lage versetzt werden, sich darin verirren zu lernen. So rückt die Publikation in die Nähe des Archivs selbst, gleicht sich seinen Textkonfigurationen an; deren diskrete Ordnung selbst wird ausgestellt, also die archivische Anordnung statt der wissenschaftlichen Erzählung. Mithin gilt es, fortan ›das Archiv zu schreiben‹, und die medialen Prozesse von Sammeln, Speichern, Berechnung und Übertragung der Daten zusammenzuschalten. Der Archivar wird so zum Gedächtniseditor, und der Leser hat Einsicht in dessen Betriebsgeheimnis. Goethe fühlte sich beim Beschauen einer Bibliothek »in der Gegenwart eines großen Kapitals, das geräuschlos unberechenbare Zinsen spendet« (1801);[1] Aufklärung über Datenbanken (als kulturelles Gedächtniskapital) aber heißt gerade, deren Berechenbarkeit transparent zu machen. Parallel zur wissensarchäologisch diskreten Ästhetik der grafischen Edition unverstellter Textmanuskripte gilt es also, ›das Archiv zu edieren‹, die Textur des Gedächtnisses zur Ausstellung zu bringen. Goethe greift seine Einsicht, im Herzogtum Weimar das, was an realen Büchern in zerstreuten Bibliotheken nicht an einem zentralen Ort zusammenzubringen war, im Medium Gesamtkatalog zu verknüpfen, am 9. Dezember 1797 in einem Brief an Schiller erneut auf: »die hiesige, die Büttnerische und Akademische Bibliothek, ›virtualiter‹, in ›Ein‹ Corpus zu vereinigen.«[2] Der virtuelle Körper einer Metadatenbank wird hier nicht durch metaphysische oder idealistische Metaphern zum lebendigen Organismus verklärt, um diskursstrategisch (zur Finanzierung im Sinn politischer Einigung) anschlußfähig zu sein, sondern meint den symbolischen Apparat; Wissen als Funktion technischer Operationen transparent zu machen und ihre Medien, nicht Geist(er) zu benennen, ist Aufgabe medienwissenschaftlich informierter Bibliothekskunde.

Es wäre fatal, Archive und Bibliotheken als Bastionen des kulturellen Gedächtnisses der kühlen Ästhetik elektronischer Speicher entgegenzustellen. Solche Gedächtnisagenturen sind diskursiv immer schon alsZur vorigen Seite [2/ S. 131:] Zur nächsten Seite (H)Orte der abendländischen Identität kodiert; es kommt darauf an, sie von dieser einseitigen Sicht zu befreien und gerade an ihnen die mediale Verfaßtheit des kulturellen Gedächtnisses aufzuweisen, die Speichertechniken also nicht länger hinter Begriffen wie Geist und Idee zu verbergen, sondern am semantischen Material selbst auszustellen. Im Fall katalogischer Karteikarten heißt das etwa, dem Leser nicht nur die Entzifferung der Autornamen und Buchtitel, sondern auch der Komposition von Individualsignaturen als Verklammerung von Verzeichnisebene und Standort im Magazin zu lehren, die das Buch erst findbar machen. Nicht nur das Schreibwerkzeug arbeitet an unseren Gedanken mit, wie Friedrich Nietzsche erkannte, sondern auch die Regelungstechnik der Speicherung, Ordnung und Wiederauffindung von Wissenseinheiten. Nicht Geist ist hier am Werk, sondern ein Speichermedium. Die Dekonstruktion des hermeneutischen Mythos, die Begriffe wie Hermeneutik durch Retrieval ersetzt, ist eine Aufgabe von Archiv- und Bibliothekswissenschaft jenseits des Humanismus.

Die Rede von der Bibliothek als kultureller Institution dissimuliert ihre mediale Eigenschaft als technisches System, als Funktion von Speicher- und Übertragungsoperationen. Eine wissensideologiekritische Archiv- und Bibliotheks-(also Dokumentations-)Wissenschaft überführt die an holistische Metaphern gekoppelte Bibliothekskultur in das Wissen um ihre Medialität. Der Diskurs redet ›Organismus‹ und praktiziert Kybernetik. Im wirtschaftlichen und staatlichen Leben hat die Kompliziertheit der Kommunikation dazu geführt, daß nicht länger von einzelnen Gliedern eines Organismus geredet wird, die den Verkehr untereinander vermitteln, sondern von Netzen (also die nunmehr elektronischen Nervenbahnen), welche die Regelung und Pflege dieser Beziehungen zu anderen Kreisen übernehmen. Das deutsche Bibliothekswesen hat im späten 19. Jahrhundert in Form von Bibliothekszentralen darauf reagiert, deren Aufgabe nicht in der Speicherung von Büchern, sondern der Regelung des Verkehrs zwischen den einzelnen Bibliotheken liegt. Wo Bibliothekslogistik ihr Vorbild nicht mehr in organizistischen Metaphern oder der Mnemonik hat, sondern in Handel und Technik, tritt an die Stelle des kulturellen Speichers das Primat der Übertragung von Information, und die Verwaltung von Literatur wird auf ihre kleinsten diskreten Elemente, die Buchstaben, reduziert, die zugleich auch die Wegweiser zu ihrer Findbarkeit sind. Mit der Schaffung eines bibliographischen Schlagwortkatalogs in der Ordnung des Alphabets stehen auch Namen von Individuen nicht mehr (alteuropäisch) für Bedeutung, sondern asignifikat als Adressen. Damit korrespondiert um 1900 die Modularisierung des BuchformatsZur vorigen Seite [2/ S. 132:] Zur nächsten Seite zu Titelnachweisen auf Zetteln, die alphabetisch nach Schlagworten geordnet werden.

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Wolfgang Ernst
Kunsthochschule für Medien Köln
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Letzte Adressaktualisierung: 1999
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Sobald der Staatsapparat nicht mehr - wie zu Zeiten von Thomas Hobbes’ »Leviathan«[3] - als Maschine, sondern nationalstaatlich im Historismus und in der Romantik als Organismus gedacht, also idealisiert wurde (in rhetorischer Verkennung von Kybernetik und Leben), war auch sein archivisches Gedächtnis von dieser Metaphorik affiziert, die »für die richtige Unterscheidung dessen, was todt ist und keine Wahrheit hat, und dessen was noch lebendig ist«, eine »lebendige Beziehung gegen das Ganze« den »ein Ganzes organisirenden Gesetzen« zur Seite stellt.[4] Werden Archive in einem bestimmten Verhältnis zum Staat gedacht, so nehmen sie - und hier prallt die Politik der Maschine mit der Organismus-Metaphorik zusammen - in diesem künstlichen gegliederten Ganzen eine Stelle ein, die erst in geschichtsphilosophischer Verblendung aus einem Organismus selbst hervorzugehen scheint, als »Spiegel des Staates in allen seinen Beziehungen und Lebens-Äußerungen«.[5] Weil sie »dem Leben so verwandt« seien, zieht auch der Bibliothekstheoretiker Friedrich Albert Ebert 1820 historisch gewachsene Bücherordnungen den apriorischen Systemen der Aufklärungsphilosophie vor;[6] der deutsch-idealistische Begriff der »Bildung« leistet dieser Modellierung Vorschub.[7] Tatsächlich aber liegen die kleinsten Einheiten von Archiv und Bibliothek als diskrete Einheiten vor, die sprunghaft, nicht kontinuierlich verknüpft (und damit berechenbar) sind. Von Medem leitet daraus die »organische Verbindung« von Archiv und Staatsverwaltung ab; tatsächlich liegen kybernetische Prozesse vor, wie sie die Systemtheorie sekundär formuliert.[8]

In der Archivdiskussion des 19. Jahrhunderts ist von Organismen und ›Archivkörpern‹ die Rede, die qua Provenienzprinzip die äußere Repräsentation von inneren Strukturen des Staates übernehmen. Das Regulativ für die preußischen Staatsarchive von 1881 hat diese Relation festgeschrieben, doch erst in der Kopplung dieser Vorschrift an epistemische Geltung und Autorität, den Diskurs der Geschichte, vermag als Organismus zu verbrämen, was tatsächlich schlicht ein System ist. Im Streit zwischen Provenienz- und Pertinenzprinzip, zwischen scheinbar organisch gewachsener und künstlich geformter Archivordnung manifestiert sich der Widerstreit von diskursiv verbrämter und wissensarchäologisch unverstellter Einsicht. Nicht Ort der Erinnerung, sondern der Speicherung, empfängt das Archiv sein Schriftgut von Behörden und ist damit nur metaphorisch an die ›zwei Körper des Staates‹Zur vorigen Seite [2/ S. 133:] Zur nächsten Seite gekoppelt. Ein Archiv ist kein organisches Ganzes,[9] sondern eine Organisation, und bildet daher keine eigene Persönlichkeit, sondern das Gedächtnis eines buchstäblich vor-historischen Zeitraums.

Die Energetik weiß um das physikalische Gesetz der Nichtumkehrbarkeit von Zeit; im Bereich der Ordnungswissenschaften aber spielt die Zeit keine wesentliche Rolle,[10] unterliegt also nicht dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Gedächtnis, als Arbeit des Speichers begriffen, besteht aus radikal synchronen Operationen und steht auf der Seite der Maschine und des Apparats.[11] Vergangenheit definiert sich als abgeschlossene Datenmenge im Unterschied zur kontingenten Gegenwart. Im Unterschied zu einem lebenden Organismus bedeutet die Klassifikation für eine abgestorbene Materie, die keinen Zuwachs mehr erhält, Berechenbarkeit.[12] Niklas Luhmann hat den organizistischen Begriff konsequent durch den des Systems ersetzt.[13] Aktuelle Verwaltung definiert sich durch kontinuierliche Veränderung, während es sich im Archiv um grundsätzlich abgeschlossene, klassifizierte und damit diskrete Elemente handelt. Der archivische Begriff des ›Schriftgutkörpers‹ scheitert an Kompositionen, die einen ›Parallelismus membrorum‹ aufweisen; ihnen ermangelt der vorgeblich organische Zusammenhang, sie sind »zumeist nur als einfache Addition anzusprechen«[14] - das Reich des Maschinischen.

Gedächtnisarbeit ist keine Chirurgie an organischen Körpern, sondern eine Funktion von Organisation. Die Organismus-Metaphorik aber macht gerade ihre Bedingtheit in Techniken ihrer Gleichschaltung vergessen. Kaum ist das Wesen, besser: die Infrastruktur des archivischen Gedächtnisses als mechanischer Apparat eines Schriftregimes von Inventaren und Signaturen erkannt, wird es auch schon semantisch durch organologische Begriffe diskursiv verblendet. Das Leben habe die Registraturen geschaffen, meint die niederländische Archivlehre um 1900; tatsächlich aber heißt dieses Leben Registratur. Weder der biologische und philosophische Begriff des Organismus noch der geisteswissenschaftliche Begriff historischer Entwicklung vermag Speicheroperationen zu fassen. Kultur erzeugt Gedächtnisstrukturen zum Zweck ihrer eigenen Selbstvergewisserung und schafft dadurch um den Menschen herum eine Speichersphäre, die, ähnlich der Biosphäre, Erinnerung möglich macht: aber nicht organische, sondern technisch gesellschaftliche.[15]

Ist es Aufgabe der Archive, ›Archivkörper‹ zu bilden?[16] Charakteristisch für die preußische Archivästhetik (wenn nicht -praxis) war die Semantisierung einer institutionellen Organisation durch die Hermeneutik des Organismus, mithin also die Anthropomorphisierung eines Appa-Zur vorigen Seite [2/ S. 134:] Zur nächsten Seiterats durch Geisteswissenschaft im Sinn Wilhelm Diltheys. Doch man sollte nicht mit biologischen Begriffen mediale Gegebenheiten bezeichnen. Die Gefahr, daß bei der Verwendung von Bildern wie »organisch gewachsen« mehr als ein Vergleich, ein Bild gesehen wird, sondern sich daran diskursiv anschließbare Ideologien des gesunden Körpers knüpfen, ist nach den Erfahrungen des nationalsozialistischen Deutschlands, in dem Archive zum Medium einer Ausgrenzungs-, gar Vernichtungspolitik wurden, zu groß.[17] In der Hypostasierung von Archivmechanik zu organischen Geschichtskörpern - ob nun Makrogeschichten (die ›Großen Erzählungen‹ der Nation) oder Mikrogeschichten (Nachlässe, Personen) - manifestiert sich eine ideologische Energie. Nach dem Ersten Weltkrieg schaut Ernst Troeltsch zurück und macht das politische Wesen der Deutschen in den Ideen der romantischen Gegenrevolution aus, die dem »kahlen Rationalismus und egalitären Atomismus« der französischen Romania das organische Ideal des »Gemeingeistes« entgegensetzt. Der deutsche Historismus im Archiv sagt dementsprechend: »Die Herkunft muß der Sache übergeordnet sein«;[18] Resultat ist die Verbrämung von Gedächtnissteuerung durch prosopopoetische Metaphern.

Die innere Ordnung der einzelnen archivischen Fonds heißt Struktur, ihre Zusammenfügung Tektonik; in diesem Sinn ist auch im Reich des Digitalen die Rede von Computerarchitektur. Jedes Ordnungssystem ist trotz aller Metaphorisierung der Fonds kein historisches und organisches, sondern ein mechanisches. Nicht die Geschichte eines Volkes spricht zu uns aus der erblaßten Schrift alter Pergamente;[19] physische Speicher werden bestenfalls an einen kybernetischen Mechanismus der Signalübertragung angeschlossen. Verwechseln wir je einen Computer mit einem Organismus? Nach einer historistischen Epoche, die das Maschinische organisch metaphorisiert hat, kehrt im 20. Jahrhundert die Mechanisierung des Organischen mit Macht zurück. Die kybernetische Kategorie der Rückkopplung als fortlaufende Korrektur eines vorausberechneten Handlungsablaufs während des Ablaufs derselben verdankt sich der Berechnung von Flugabwehr im Zweiten Weltkrieg und wird seitdem aus der Welt der Maschinen auf lebende Organismen rückübertragen[20] - auf der Ebene der Interfaces für Benutzer, jener ikonisierten Oberflächen, die ein Gespräch mit der Maschine dort vorgaukeln, wo es sich bestenfalls um erweiterte Versionen von »Kommunikation mit Zettelkästen« handelt.[21] Archive und Bibliotheken als Orte der Aufklärung im Sinn von Jean-François Lyotard (»Das postmoderne Wissen«) geben nicht mehr nur die vermeintlichen Inhalte der Speichers, sondern ihre Logistik zu lesen: die Zuordnung von Buchstaben und Ziffern.Zur vorigen Seite [2/ S. 135:] Zur nächsten Seite

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Nachlass und Sammlung Zum vorigen Abschnitt Zum nächsten Abschnitt

Im archivischen Hybrid des »Nachlasses« kommt die Organismus-Metaphorik scheinbar zu sich; nirgendwo sonst wird Person und Papierkorpus so häufig verwechselt. Namen fungieren hier als Adresse von Gedächtnis, doch wie im Internet verbirgt sich dahinter die diskrete und anonyme Alphanumerik von Aktensignaturen und Folio-Blattzahlen. Hier ist es notwendig, den Mythos des ›Werks‹ (mitsamt seiner Rechtskomponenten Autor und Urheberschaft) zu dekonstruieren und der Körper-Metaphorik Einhalt zu gebieten. Im Zeitalter der Nationsbildung galt es, dem Staat einen bibliothekarischen Zweitkörper, das Aufschreibesystem seiner realen Bibliothekskörper zu bilden; Bibliothekstechniken und die »banale Physis der Texte«[22] wurden zugunsten einer Verkörperung des Geistes diskursiv ausgeblendet oder abgewertet. »Körper und Stimme leiht die Schrift dem stummen Gedanken«, ziert ein Spruch Schillers die Front der Deutschen Bücherei in Leipzig seit 1916.[23] Substanzlose Ideen erhalten durch die Medien ihrer Aufzeichnung erst einen Körper, werden (hier) zum Textkorpus der Nation. Aufklärungsarbeit von Bibliotheken soll demgegenüber darin liegen, ihre gedächtniskybernetischen Operationen ebenso zur Schau zu stellen wie ihre architektonische und ornamentale Fassung: Information über die technische Verfaßtheit von kulturellem Gedächtnis, mit wissensarchäologischer Distanz und als Nachweis von Diskontinuitäten und Brüchen.

Denn mit den Toten kann man nicht sprechen. Der französische Historiker Jules Michelet vernahm im Pariser Nationalarchiv halluzinatorisch das Murmeln der Toten und beschrieb die Einbildungskraft als Droge des historischen Diskurses; in dem Augenblick, in dem der Historiker ein Dokument der Vergangenheit vor sich liegen hat und liest, nehmen für ihn die alphabetischen Konfigurationen des Dokuments menschliche Gestalt an. Johann Gustav Droysen differenzierte Mitte des 19. Jahrhunderts in seinen Berliner Vorlesungen zur »Historik« zwischen bloßer Faktenkollektion in Texten (aus Objekten oder Sätzen) und der »begriffenen Geschichte« als sprachlicher »Übersetzung in Gedanken«; in dieser »Übertragung der Dinge« bleiben dieselben nicht, wie sie äußerlich und zerstreut sind, sondern werden in Zusammenhänge, Kausalverbindungen, in Systeme eingereiht, die nicht an ihnen selbst sind, sondern nur in unserer Auffassung von ihnen.[24] Lesen wir einen Nachlaß anthropomorphisierend als den eines Individuums, so setzen wir anstelle der infrastrukturierenden, non-diskursiven Administration des Textspeichers (Gedächtnis) eine dialogische Situation - den »Wunsch, mit den Toten zu sprechen«.[25] Das SchweigenZur vorigen Seite [2/ S. 136:] Zur nächsten Seite des Archivs aber ist ein wissensarchäologisches Schweigen, das der Historiker nicht leicht in Rede zurückverwandeln kann; für immer kann man mit einem Abwesenden nicht sprechen. Was von einem Autor bleibt, ist sein ›Archivkörper‹: Kartons mit Papieren, die als Sammlung firmieren, englisch ›collection‹ (der deutsche Begriff »Nachlaß« hat kein Äquivalent in anderen Archivsprachen). Die metaphorische Rhetorik des Diskurses verführt zwar leicht zur Vorstellung eines Umschlags von angesammelter Kultur ins Naturhaft-Organische, doch ist eine Ontologisierung der Sammlung irreführend: Historisch scheinbar gewachsene Bibliotheksbestände sind zumeist Zufallsprodukte der Speicherung. Das in den Magazinräumen lagernde, also latente Gedächtnis eines Autornamens muß alphanumerisch adressiert werden, andernfalls existiert es nicht. Bestellzettel entscheiden über seine Lesbarkeit. Das Dispositiv der Geschichte als Archiv gestattet diverse Konfigurationen, nicht aber die Verwechslung von rhetorischer ›figura‹ und ›persona‹ als ›Maske‹. In diesem Fall sind die Masken Texte; ein transzendenter Referent (der Name) ist immer nur als Adresse einer Absenz, nicht anders denn in textkörperlicher Anwesenheit faßbar, als Speicher ohne Inhalt. Die rhetorische Figur der Prosopopöie ist die Fiktion der Apostrophierung einer abwesenden, verstorbenen oder stimmlosen Entität, wodurch die Möglichkeit einer Antwort gesetzt wird, eine Stimme, die sich in der Etymologie des Namens der Trope manifestiert: ›prosopon poien‹, eine Maske oder ein Gesicht (›prosopon‹) geben.[26]

Wie aber läßt sich der Versuchung widerstehen, dort Prosopopöie zu treiben, d. h. Leben zu halluzinieren und ›bios‹ zu schreiben (›graphein‹), wo Totes ist, nicht einmal mehr eine Leiche (›corpse‹), keine Knochen, sondern Asche und Druckerschwärze eines organlosen Korpus (also Apparat), der auf diverse Orte und Institutionen des Gedächtnisses verteilt ist?[27] Registrieren wir Autornamen im Literaturarchiv also als das, was sie aktuell sind: Adressen in Katalog und Findbuch. In welchem Maß können vergangene Körper aus einem Lese-Korpus rekonstruiert werden? Willy Flach, in den 50er Jahren Leiter des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar, übertrug die Ordnungsprinzipien politisch-historischer Archive auch auf Literaturarchive.[28] An die Stelle der juristischen Person und der Zusammenfassung aller ihre Tätigkeit dokumentierenden Schriftstücke in der ›Registratur‹ treten die Einzelpersönlichkeiten und ihr ›handschriftlicher Nachlaß‹ nach dem ›Provenienzprinzip‹, d. h. die Handschriften werden in dem Zusammenhang belassen, in dem sie historisch entstanden sind, so daß sie scheinbar einen geschichtlichen Vorgang in seinem Verlauf durch die Reihenfolge der schriftlichen Dokumentationen wiedergeben. SoZur vorigen Seite [2/ S. 137:] Zur nächsten Seite dissimuliert eine Ordnung ihre technische Konfiguration im Namen von Geschichte. Die Aufstellung eines Nachlasses nach seiner Provenienz aber ›generiert‹, begründet geradezu erst den organizistischen oder prosopopoetischen Effekt einer dahinterstehenden Person.

Erst wenn die archivischen und bibliothekarischen Speicher wieder ebenso kybernetisch gedacht werden, wie sie vorliegen, ist ihr Anschluß an die Epoche der EDV auch kognitiv gewährleistet. Aufgabe von Archiv- und Bibliothekswissenschaften ist es daher, die organizistischen Masken ihrer Gedächtnisagenturen fortzureißen und dem Benutzer nicht nur die Inhalte des Gespeicherten, sondern das nackte Skelett der diese Inhalte organisierende Apparate dahinter aufzuweisen.

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1] Johann Wolfgang von Goethe: Tag- und Jahreshefte 1801. In: ders.: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Hg. von Ernst Beutler. Bd. 11: Die italienische Reise. Die Annalen. Zürich, Stuttgart: Artemis 1950, S. 682.

2] Zit. nach Eugen Paunel: Goethe als Bibliothekar. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 63 (1949), S. 235-269, hier S. 259ff.

3] Vgl. Horst Bredekamp: Politische Zeit. Die zwei Körper von Thomas Hobbes’ Leviathan. In: Geschichtskörper. Zur Aktualität von Ernst H. Kantorowicz. Hg. von Wolfgang Ernst und Cornelia Vismann. München: Fink 1998, S. 105-118.

4] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ueber die wissenschaftliche Behandlung des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie, und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften. [1802] In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 4: Jenaer kritische Schriften. Hg. v. Hartmut Buchner und Otto Pöggeler. Hamburg: Meiner 1968, S. 482f.

5] Friedrich Ludwig von Medem: Über den organischen Zusammenhang der Archive mit den Verwaltungsbehörden. In: Zeitschrift für Archivkunde, Diplomatik und Geschichte 2 (1935), S. 1-28, hier S. 6.

6] Friedrich Adolf Ebert: Die Bildung des Bibliothekars. 2., umgearb. Ausg. Leipzig: Steinacker und Wagner 1820, S. 25ff.; auch Ebert scheint allerdings »Leben« nicht organizistisch, sondern vielmehr mnemotechnisch und energetisch zu verstehen. Vgl. dazu Uwe Jochum: Die Bibliothek als locus communis. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 72 (1998), S. 15-30, hier S. 21f. 1908 läßt Generaldirektor Adolf Harnack seinen Mitarbeiter Adalbert Hortzschansky unter dem Titel »Die Königliche Bibliothek zu Berlin, ihre Geschichte und ihre Organisation. Vier Vorträge« eine Geschichte derselben vortragen und publizieren, da nur noch über den organizistischen Effekt der historischen Narration den Mitarbeitern des Hauses ein »gewisser Überblick über das Ganze« des Apparats zu vermitteln war (Berlin: Königliche Bibliothek 1908, Vorwort).

7] Georg Leyh: Die Bildung des Bibliothekars. 2., überpr. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1968 (= Library research monographs 3; zugl.Zur vorigen Seite [2/ S. 138:] Zur nächsten Seite Nachdr. von Kopenhagen: Munksgaard 1952), S. 24ff. Das von Georg Leyh in der 2., verm. und verb. Aufl. herausgegebene »Handbuch der Bibliothekswissenschaft« (Wiesbaden: Harrassowitz 1961) nennt in Bd. 2 (»Bibliotheksverwaltung«) die Unterstellung eines »gegliederten Ganzen« und eines von »einer zentralen Idee her organisierten Komplex[es]« als Philosophie des Bestandsaufbaus (S. 117); dementsprechend soll auch die Bibliotheksarchitektur als Dispositiv dafür einen »leichtspielenden und kraftvoll wirkenden Organismus« bilden (S. 941).

8] Vgl. Angelika Menne-Haritz: Schriftgut oder Dokumente - Was sind die Spuren automatisierter Verwaltungsarbeit? In: Archivalische Zeitschrift 79 (1996), S. 1-36.

9] Vgl. J. A. Feith, R. Fruin und S. Muller: Anleitung zum Ordnen und Beschreiben von Archiven, für deutsche Archivare. Bearb. von Hans Kaiser. Leipzig: Harrassowitz; Groningen: van der Kamp 1905.

10] Vgl. Wilhelm Ostwald: Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte. In: Archiv für Geschichte der Mathematik, der Naturwissenschaften und der Technik 10, N. F. 1 (1927/28), S. 1-11.

11] Vgl. Niklas Luhmann: Gleichzeitigkeit und Synchronisation. In: ders.: Soziologische Aufklärung. Bd. 5: Konstruktivistische Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag 1990, S. 95-130.

12] Vgl. Johannes Papritz: Archivwissenschaft. Bd. 3, Tl. 3/1: Archivische Ordnungslehre. Tl. 1. 2., durchges. Aufl. Marburg: Archivschule Marburg 1983, S. 189.

13] Vgl. Niklas Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation. [1964] 3. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot 1976 (= Schriftenreihe der Hochschule Speyer 20).

14] Johannes Papritz: Archivwissenschaft. Bd. 2, Tl. 2/2: Organisationsformen des Schriftgutes in Kanzlei und Registratur. Tl. 2. 2., durchges. Aufl. Marburg: Archivschule Marburg 1983, S. 450.

15] Vgl. Jurij M. Lotman und B. A. Uspenskij: Zum semiotischen Mechanismus der Kultur. [1971] In: Semiotica Sovietica. Sowjetische Arbeiten der Moskauer und Tartuer Schule zu sekundären modellbildenden Zeichensystemen (1962-73). Hg. von Karl Eimermacher. Bd. 2. Aachen: Rader 1986 (= Aachener Studien zur Semiotik und Kommunikationsforschung), S. 853-880.

16] Vgl. Adolf Brenneke: Archivkunde. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte des europäischen Archivwesens. Bearb. nach Vorlesungsnachschriften und Nachlaßpapieren und erg. von Wolfgang Leesch. Leipzig: Koehler & Amelang 1953, S. 86f.

17] Vgl. Gerhart Enders: Probleme des Provenienzprinzips. In: Archivar und Historiker. Studien zur Archiv- und Geschichtswissenschaft. Zum 65. Geburtstag von Heinrich Otto Meisner. Berlin: Rütten & Loening 1956, S. 27-44, hier S. 41.

18] Brenneke (Anm. 16), S. 92.

19] Vgl. von Medem (Anm. 5).

20] Dirk Vaihinger: Das Gedächtnis als Speicher und die Endlosschleife in der Kybernetik zweiter Ordnung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwis-Zur vorigen Seite [2/ S. 139:] senschaft und Geistesgeschichte 72 (Sonderh.) 1998, S. 297-312, hier S. 299, 305, mit Bezug auf Norbert Wiener: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine. [1948] München: Rowohlt 1968 (= Rowohlts deutsche Enzyklopädie 294/295: Sachgebiet Naturwissenschaften).

21] Niklas Luhmann: Kommunikation mit Zettelkästen: Ein Erfahrungsbericht. In: ders.: Universität als Milieu. Kleine Schriften. Hg. von André Kieserling. Bielefeld: Haux 1992, S. 53-61.

22] Uwe Jochum: Die Idole der Bibliothekare. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 82.

23] Friedrich Schiller: Der Spaziergang (zuerst 1795 unter dem Titel »Elegie« in den »Horen« erschienen).

24] Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Hg. von Rudolf Hübner. München, Berlin: Oldenbourg 1937, S. 62.

25] Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. Berlin: Wagenbach 1990.

26] Vgl. Paul de Man: Autobiographie als Maskenspiel. In: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Hg. von Christoph Menke. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1993 (= Edition Suhrkamp 1682 = N. F. 682: Aesthetica), S. 131-146.

27] Leonardo da Vinci nennt die Bücher »Körper ohne Seele«: Profezie / Prophezeiungen. Wissach im Tal 1988; siehe Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1990, S. 13ff.

28] Vgl. Willy Flach: Literaturarchive. In: Archivmitteilungen 5 (1955), H. 4., S. 4-10.

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