Entstehungskontext

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Peter Handkes essayistisch geschriebene Geschichte des Dragoljub Milanović entstand 2011. Es ist der bislang letzte veröffentlichte Text des Autors, der sich mit der »Jugoslawien-Thematik« beschäftigt (Stand: Februar 2014). Die Auseinandersetzung mit dem Zerfall des Südslawenstaates begann bereits zwanzig Jahre zuvor mit seinem Abschied des Träumers vom Neunten Land (1991), in dem die Abspaltung Sloweniens behandelt wird.  Zwei Jahre vor der Geschichte des Dragoljub Milanović war Handkes »Nachschrift« zu seinen Reisen in die serbische Enklave Velika Hoča im Kosovo unter dem Titel Die Kuckucke von Velika Hoča (2009) erschienen. Insgesamt besteht dieser Werkkomplex mittlerweile aus neun Texten, die zeitweise zu intensiven medialen Debatten um die Haltung des Autors zu den Ereignissen in (Ex-)Jugoslawien führten.

Eine enge Verbindung zur Geschichte des Dragoljub Milanović zeigt dabei die 2000 veröffentlichte Erzählung Unter Tränen fragend, in der Handke, wie der Untertitel ankündigt, von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im Krieg, März und April 1999 berichtet. Als »vielleicht das Bild dieser Kriegsreise« beschreibt er »in einem einzelnen Baum neben der zertrümmerten TV-Anstalt die von der Bombe ins Freie geschleuderten Film- und Ton-Kassettenbänder, da wie absichtliche Girlanden von den untersten Ästen bis in die grünende Krone verflochten, und so glitzernd, schwingend, silberhell blinkend in dieser Morgensonne des 28. April 1999« (UT 151f.).

Inhalt

Auf diese »spezielle[n] Girlanden« (DGD 23) kommt Handke in der Geschichte des Dragoljub Milanović erneut zurück. Darin erzählt er vom Prozess und der Haft des ehemaligen Direktors von RTS (Radio-Televizija Srbije), der von einem serbischen Gericht für den Tod von 16 Menschen verantwortlich gemacht wurde, die bei dem Bombenanschlag der NATO auf das Fernsehgebäude in Belgrad am 23. April 1999 ums Leben gekommen waren. Milanović wurde, da er das Gebäude nicht rechtzeitig geräumt hatte, 2002 zu zehn Jahren Haft verurteilt und saß die gesamte Strafe ab (Schütz 2011). Handke besuchte den Verurteilten, wie er auch in seinem Text erzählt, zwei Mal im Gefängnis – im März 2009 (DGD 24, Schütz 2011) und im Juni 2010 (DGD 26). Infolge der Besuche setzte er sich im Rahmen einer internationalen Kampagne für die Freilassung von Milanović ein (Schütz 2011) und schrieb Anfang 2011 dessen Geschichte. Da Dragoljub Milanović bereits im April 2012 entlassen wurde, Handke seine Geschichte also erst gegen Ende seiner Haft niederschrieb und veröffentlichte, fragt sich der Autor, ob er nicht schon den »Zeitpunkt verpaßt« (DGD 5) habe, sie zu erzählen.

Textgenese

Handke begann die Niederschrift des 20 Blätter umfassenden Typoskripts der ersten Textfassung von Die Geschichte des Dragoljub Milanović am 10. Januar 2011 und beendete sie am 23. Januar. Am 12. Februar fügte er einen erweiterten Schluss hinzu, den er ebenfalls auf der Schreibmaschine tippte. (Zur selben Zeit korrigierte er auch den ersten Lauf der Druckfahnen seiner im selben Jahr erschienenen Erzählung Der Große Fall.) Das Typoskript der ersten Textfassung schickte Handke in Kopie an Jochen Jung, den Leiter des Jung und Jung Verlags und Lektor des Texts. Die von Jung mit weiteren Anmerkungen versehene Typoskriptkopie diente als Satzvorlage für die Erstellung der Druckfahnen. Im Mai 2011 korrigierte Handke sein Exemplar der Druckfahnen erster Lauf: Er fügte im Zuge dessen umfangreiche Erweiterungen in den Text ein und ergänzte vor allem den Schluss abermals. Vermutlich veränderte er aufgrund dieser starken Eingriffe die Angaben zur Entstehungszeit am Ende des Textes auf »Januar / Mai 2011« (DGD 37) – das ist für Handke ungewöhnlich, denn im Regelfall beziehen sich die Entstehungszeitangaben der veröffentlichten Texte nur auf die Niederschrift der ersten Textfassung, nicht auf spätere Korrekturgänge. Im Juni 2011 erhielt der Autor den zweiten Lauf der Druckfahnen und korrigierte diese wiederum von Hand. Laut seinem Lektor Jochen Jung war die Umsetzung der finalen Korrekturen auch von einigen Telefonaten begleitet.

Veröffentlichung

Am 5. August 2011 wurde Die Geschichte des Dragoljub Milanović unter diesem Titel im Spectrum der österreichischen Tageszeitung Die Presse gedruckt. Der Text entsprach bei dieser Veröffentlichung bereits dem Buchtext, war aber von Karl Woisetschläger, dem Leiter des Spectrums, der von Jochen Jung ein Vorab-Exemplar erhalten hatte, für die Vorabpublikation um etwa ein Drittel gekürzt worden. Das Buch mit dem gesamten Text erschien zwei Wochen später, am 17. August, im Jung und Jung Verlag. Das mediale Echo war im Gegensatz zu Handkes früheren »Jugoslawien-Texten« nicht mehr von Polemiken geprägt, sondern eher zurückhaltend und wohlwollend. (Vanessa Hannesschläger)

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